Es wird morgen
Ich sehe ihn vom Fenster aus. Den Penner unten im Hof. Neben den Mülleimern und neben dem Sperrmüll. Man sagt, dass er eine Schaufensterpuppe hat. Man sagt, dass er sie aufstellt, nachts, wenn die Stadt schläft. Dass er sie schminkt, mit Rouge und Lippenstift und dass er sie Elisabeth nennt. Man sagt, sie hat Klappaugen und manchmal klebt er ihr Sterne auf die Wangen. Aus Plastik. Niemand weiss, ob es stimmt.
Man sagt, er sei verrückt.
Manchmal schau ich raus, nachts, ich schau ihn an. Sitze auf dem Fensterbrett und lehne meinen Kopf gegen die kühle Wand. Und mit einer Decke über den Knien trinkt er Wein. Aus einem Drei-Liter-Tetrapack.
Ich stell mir vor, dass es eine Puppe ist. Die da in meinem Bauch sitzt. Die manchmal strampelt, weil sie eine Batterie hat. Eingebaut im Rücken, versteckt unter einer dünnen Plastikklappe. Vielleicht hat sie auch Klappaugen. Vielleicht werden sie ihr auch Sterne auf die Wange kleben.
Irgendwann. Wenn sie gross ist.
Mit zehn hab ich meine Puppen verkauft. Auf dem Flohmarkt. Meine Mutter war nicht zu Hause. Niemand hat bemerkt, dass ich weg war. Ich hab die Puppen auf eine Decke gelegt, alle nebeneinander und eine nach der anderen vertickt. Sogar Anna.
Anna. Sie war die erste.
Zwei sind übrig geblieben, die wollte keiner. Ich hab sie einfach liegen lassen, hab meine Kohle genommen und bin gegangen.
Für die Puppe in meinem Bauch krieg ich mehr Kohle, mehr als ich jemals hatte. Und ich würde es wieder machen, es ist so einfach.
Vor acht Monaten schrieb ich drei Sätze in ein Forum. Wartete zwei Wochen und er meldete sich. Bestellte mich in ein spiessiges Café, sein Händedruck war fest, er war wichtig und vornehm.
Er hiess Daniel und er roch nach Aftershave.
Seine Frau ist unfruchtbar, er sagte, sie wünschen sich eine Familie, unbedingt. Wieviel, fragte ich. Ich blieb hart. Und irgendwann ging er wieder. Zum nächsten Termin. Rannte zum Auto und die Krawatte flog über die Schulter. Er war getrieben, er war wie ein Hamster im Rad. Er wollte es unbedingt. Und der Deal stand, ich sollte eine Puppe ausbrüten.
Für die reichen Spiesser.
Nachts schaue ich aus dem Fenster. Vielleicht bin ich Elisabeth und der Penner klebt mir Sterne auf die Wangen. Wir sind nicht wie die Spiesser da draussen. Hinter dem Jägerzaun. Mit dem Hund im Garten, der die noble Hütte bewacht, aber eigentlich nichts kann. Ausser aufs Gras zu kacken.
Der Penner und ich, vielleicht sind wir verrückt.
Als Anna weg war, gab mir meine Mutter eine Ohrfeige. Weil Anna von ihr war. Eine Woche lang sprach sie nicht mit mir. Und ich nicht mit ihr. Irgendwann fragte sie nur, warum, Bella, warum.
Ich sagte, ich wollte das Geld.
Sie hat mich nicht verstanden.
Vielleicht nennen sie die Puppe Anna. Es ist mir egal.
Ich will frei sein. Das Mädchen, das Anna fort trug, damals auf dem Flohmarkt, ihre Zöpfe waren gelb und dick. Sie hat gesabbert vor Freude. Sie hat Anna genommen und ist gegangen. Einfach so. Sie hat nicht mal danke gesagt.
Ich schlafe ein, auf dem Fensterbrett, wenn es dunkel wird und in meinem Kopf tanzen Bilder.
Der Penner sitzt unten im Hof. Neben Anna und sie liegt auf einer Decke. Sternenwangen. Mit geschlossenen Augen. Eine Batterie, Anna strampelt. Der Penner schläft. Jemand trägt Anna weg. Ein Hund kackt aufs Gras. Die Decke ist leer und eine Krawatte fliegt über die Schulter. Der Penner liegt im Hamsterrad, er weint im Schlaf.
Es wird Morgen.
Ich war acht und ich wollte Bodo unbedingt haben. Bodo mit dem struppigen Fell, Bodo, der Hamster, der nie zur Ruhe kam. Der im quietschenden Hamsterrad lief, die ganze Nacht, obwohl ich es jeden Tag ölte. Dem ich teure Drops kaufte vom Taschengeld. Sie waren weiss und sie rochen gut. Schmeckten süss und lagen mehlig auf meiner Zunge. Ich gab ihm die ganze Packung. Ich wollte sehen, ob Bodo platzt. Aber er platzte nicht, nur die Backen wurden dick. Drei Wochen später fand ich die Drops wieder. Alle auf einem Haufen, vergraben unter dem Streu. Sie waren feucht und schimmlig.
Bodo war raffgierig. Er hat mich wütend gemacht. Bodo mit dem struppigen Fell, ich war acht, als ich ihn erschlug. Mit dem Atlas, nachts. Er hat mich wütend gemacht.
Und Bodo lag im Rad, einfach tot, sagte ich am Morgen zu meiner Mutter. Sie glaubte es. Bodo sah zerquetscht aus. Und ölig.
Vielleicht hat sie ihn auch so gehasst wie ich.
Vier Wochen nach dem Treffen mit Daniel stand ich im Badezimmer. Ein Röhrchen in den Händen, weisse Flüssigkeit, von Daniel, und sie roch widerlich. Ich musste es machen. Um frei zu werden. Ich machte die Augen zu, ich war Elisabeth mit den
Klappaugen. Ich trat aus meinem Körper und schwebte irgendwo drüber. Meine Hände machten den Rest. Machten irgendwas. Machten mir eine Puppe.
Ich sah aus dem Fenster und sah ihn unten im Hof. Unbekannter, Verbündeter, Penner, er sass da unten im Hof und er linderte den Schmerz, das Heimweh, die Einsamkeit. Ich legte den Kopf nach hinten und ich spürte die kühle Wand. Es wurde Nacht, die Stadt schlief und in meinem Kopf die Bilder.
Daniel. Bodo. Totgerannt. Ölig liegen sie im Rad. Dicke Backen, Backen wie Bäuche, vergraben. Der Penner trinkt Wein. Nachts. Wenn die Stadt schläft. Elisabeth mit den Klappaugen, sie quietscht. Liegt auf einer leeren Decke und ihre Zöpfe sind gelb und dick. Und überall weisse Flüssigkeit.
Es wird Morgen.
Ich bin kein schlechter Mensch. Mein Bauch, vielleicht bald aufgeschlitzt und ausgeleiert, wegen Anna, aber es ist okay. Nur frei sein. Von mir aus sollen sie gut dastehen, wenn Anna da ist. Sollen sie behaupten, sie hätten die Puppe selbst gemacht. Sollen sie die rosigen Wangen herzeigen, all ihren Spiesserfreunden. Sollen sie ihr Fake-Leben feiern mit all dem Plastik, auf der Ledercouch mit den weissen Kissen. Vor dem Kaminfeuer, das im Fernseher lodert. Sie haben alles, sie haben Geld. Sie können sich alles kaufen, sogar Anna. Sie sabbern vor Freude und im Garten kackt der Hund aufs Gras.
Ich nehme meinen Atlas aus dem Schrank und ich schlage ihn auf. Ich kann gehen, wohin ich will. Bald. Ich lasse Anna liegen, ich brauch sie nicht mehr. Und ich denke an meine Mutter. Vor zwei Tagen, sie schrie, schrie, von wem, das Kind. Und ich schaute nur, schaute sie an. Ich schwieg. Dann sprach ich, irgendwann.
Sagte, das Kind ist von einem Hamster, das Kind ist von Bodo. Sie wird Anna heissen und sie hat eine Batterie im Rücken. Versteckt unter einer dünnen Klappe aus Plastik. Sie werden sie holen, bald. Sie werden ihr Sterne auf die Wangen kleben, sie wird es gut haben.
Meine Mutter gab mir eine Ohrfeige. Seitdem spreche ich nicht mehr mit ihr. Sie versteht mich nicht, hat es noch nie und würde ich auf einer Decke liegen, die Klappaugen geschlossen, wahrscheinlich würde sie mich dort liegen lassen. Einfach so und sie würde weggehen.
Und ich lehne meinen Kopf zurück, spüre die kühle Wand und in meinem Kopf die Bilder.
Im Fernseher brennt das Kaminfeuer, Heiligabend und meine Mutter stellt ein Teelicht ins Puppenhaus. Es fängt Feuer. Mein Puppenhaus brennt ab. Daniel vögelt seine Frau unter dem Baum, ihr Bauch bleibt leer.
Es wird Morgen.
Die Puppe lässt mich kotzen. Der Penner kotzt auch. Unten im Hof. Daniels Frau. Ich hab sie gestern gesehen, im Park. Sie war schön, viel zu schön. Erwachsen und gross.
Maria.
Ihre Hand war wie kaltes Toastbrot und ihre Absätze bohrten sich in Erde. Ihre Haare waren gelb. Ich schaltete die Batterie an und Anna strampelte. Kaltes Toastbrot auf meinem Bauch, Daniel und Maria küssten sich.
Bald ist alles vorbei. Vielleicht müssen sie mich aufschneiden, wenn die Puppe fertig ist. Aber es ist egal. Sie sollen sie nehmen und mich wieder gehen lassen.
Und ich ziehe die Tür hinter mir zu. Gehe zu den Mülltonnen und setze mich neben ihn. Er zieht die Decke über unsere Knie und er sagt, wir, wir sind frei.
Ich hoffe, dass er Recht hat.
Es wird Morgen.