April 2005

F.

von Thomas Zaugg
Jahresthema: Brief
Monatsthema:

Hohes Gericht

Vorweg, F. ist nun tot. Weder endlich noch unglücklicherweise. Gleichermassen verhält es sich mit ihrem Leben, von dem ich nicht weiss, wofür ich es halten soll: für wertfrei, wert- sowie sinnlos oder nichts dergleichen. Nachfolgend entspreche ich Ihrem Ersuchen nach einer persönlichen Einschätzung der ehemals Angeklagten F.

Selbige wuchs in gutbürgerlichem Hause auf, genoss eine – meiner Einschätzung nach – erfüllte und durchaus unbeschwerte Jugendzeit. Bei F. zeigte sich aber schon früh ein Hang zu Unselbständigkeit und Wankelmut. Diesen Eindruck bekam man vor allem als naher Bekannter oder Freund, als solchen ich mich bezeichnen möchte. F. nämlich wurde mit zunehmendem Alter immer vielseitiger, dadurch kurioser; mal trug sie dies, mal trug sie jenes, bald sprach sie von der Lebensphilosophie des Konfuzius, bald predigte sie Marx vom Himmel herab. Anfangs störte dies wenig. Alle Menschen – ich zähle mich selbstredend dazu – sind auf der Suche nach Identität, Hohes Gericht, die Jugendzeit bietet hierzu freilich auch den geeigneten Grad an Freiheit und Unbekümmertheit. Aber irgendwann muss damit natürlich Schluss sein. Irgendwann mussten Sie sich für das Ihrige, ich mich für das Meinige entscheiden. F. hingegen entschied sich nie, sie war uneins mit sich selbst, den Menschen, der Welt. Mir schien, als hätte immer jemand anderes an ihrer Statt ihr Leben, sie selbst geführt. Als hätte F. geglaubt, zu leben heisse, den Weg anderer zu gehen, es diesem und jenem recht zu machen. Doch ich greife vor.

Auch als alle aus ihrem Freundeskreis Anstellung, Sinn und Lebensinhalt gefunden hatten, dümpelte F. weiter vor sich hin. Man war besorgt, F. fragte jeden, ein jeder war bemüht, riet ihr etwas anderes. Das jeweils Zugeratene war für kurze Dauer ein und alles. F. war dann jeweils, wie man ihr geraten hatte; hier naiv, dort interessiert, da herrisch und überheblich. Immer wieder aber beschlichen F. Zweifel, und sie begann von neuem zu suchen. Auch ich gehörte zum endlosen Reigen ihrer Ratgeber. Auf mein Zuraten hin entschied sie sich einst für eine Lehre als Zimmererin, schmiss diese nach nur zwei Wochen und liess lange nichts mehr von sich hören. Als ich F. irgendwann zufällig wieder sah, war sie Künstlerin und rauchte Zigarette um Zigarette zum Takte meines Minutenzeigers. Ich meinte schliesslich, wir sollten uns zum Kaffee treffen, und eine Woche später, im Café, war F. Studentin der Theologie. Sie hatte sich eine weisse Paste ins Gesicht geschmiert, und als ich sie küsste, roch sie nach nichts. Sie bestellte Tee und rauchte nicht mehr. Sie war wieder wer anders geworden.

Kurzum, mein Eindruck ist unstet. Hohes Gericht, ich möchte sogar behaupten, er ist so dunkel, wie F.’s Leben stets nur hinter Fassaden spielte. Ich weiss beileibe nicht, was F. alles sonst noch in ihrem Leben getan und gelassen hat, wer sie alles sonst noch war, wozu ihr einige geraten und wovon ihr andere abgeraten haben. Ich glaube jedenfalls, dass F. niemals auch nur etwas aus eigenem Antrieb unternommen hat. Sie tat, was auch immer wir ihr rieten. Sie war das Sammelsurium unserer Ratschläge.

Deshalb, Hohes Gericht, glaube ich auch nicht, dass F. den Mord begangen haben kann, dessentwegen sie unter Anklage gestanden hat. So muss ich den Staat der Falschanklage bezichtigen. Gut, es kann sein, dass sich F. zum Mord veranlasst sah, weil ihr dazu geraten wurde. Das ist aber sehr unwahrscheinlich. Viel wahrscheinlicher ist, dass F. während der Befragungen des Herrn Staatsanwaltes zur Mörderin wurde. – Man muss ihr geraten haben, die Mörderin zu sein – von irgendwoher. Geraten haben, es endlich zuzugeben, sich schuldig zu bekennen, da es das Beste für sie sei. Aber F. war und ist unschuldig. Ich sage dies für sie, weil sie es wohl für sich behielt: unschuldig. Wenn nicht nach dem Gesetze, dann im Sinne der Moral. Wir anderen, wir sind die einzigen Schuldigen. Wir, Hohes Gericht, das Hohe Gericht selbst, F.’s Freunde und ich, die wir F. zu dem modelliert haben, was sie heute ist: eine tote Mörderin.

Zum Ende möchte ich noch ein Weiteres anfügen, das anmassend, in der Konsequenz der vorhergegangenen Ausführungen aber plausibel klingt. Es ist anzunehmen, dass jeder ausser F. selbst den Ausschlag für ihren Selbstmord gegeben hat. Es trifft natürlich niemanden eine direkte Schuld. Niemand konnte schliesslich wissen, dass F. jedes Wort, jeden Rat auf die goldene Waage legte. Selbst einen beiläufig so geäusserten Rat, F. könne sich ja gleich an ihren langen Haaren aufhängen, ihre Lage sei so aussichtslos.

Mit freundlichen Grüssen
Einer der Mörder von F.