So stand sie da, stand einfach nur da. Die Füsse im
knöchelhohen Schnee ruhend.
Schnee, der sich während des ganzen Tages in
unregelmässigen Abständen mit Regen vermengt
hatte. Jener Schnee also, der immer schwerer und
schwerer wird, bis er irgendwann alles unter sich
erdrückt. Sie blickte hoch zum Himmel: dasselbe
Weissgrau wie der Schnee unter ihr.
Da war kein Unterschied mehr zwischen unten
und oben zu erkennen: Alles schien zu einem
einzigen grossen Klumpen verschmolzen zu sein.
Irgendwo in der Ferne mussten Krähen sein. Ein
sanfter Wind kühlte ihre erhitzten Wangen. Sie
wollte ausharren, der Kälte unter ihren Füssen
entgegentreten, standhalten. Jede Sekunde mehr
kam ihr vor wie ein riesengrosser Akt an
Durchhaltewillen. Doch das Frösteln – es wurde
immer stärker. Bezwang sie, so dass sie ihren
Willen brechen musste. Schon wieder den eigenen
Ansprüchen nicht gerecht werden; schon wieder
scheitern.
Drinnen legte sie sich auf den Rücken. Die Füsse
in die Luft streckend schloss sie die Augen und
starrte doch vor sich hin. Plötzlich war sie auf
einem Kahn. Erst waren die Wellen ganz sanft.
Wogen sie nur leicht hin und her. Doch mit jedem
Atemzug wurden die Wellen stärker, kräftiger –
unerbittlich. Warfen sie von einer zur anderen
Seite. So fühlt es sich also an, in Ohnmacht zu
fallen. Wellen brachen tosend über ihr. Die Gicht
schäumte. Kleine Luftbläschen wirbelten ihr um
die aufeinander gepressten Lippen. Liessen keinen
Raum – nicht einmal für einen Atemzug.
Würde dieses ganze Wasser doch nur endlich aus
ihrem Kopf herauskommen. Könnte sie doch nur
endlich weinen. Würde sich da im Augenwinkel
doch nur eine Träne lösen können.
Wie sehr sehnte sie sich nach diesen Tränen, die
einem unbehelligt über die Wangen gleiten.
Doch da waren keine Tränen mehr. Da war nur
diese schwarze Masse an Wasser in ihrem Kopf.
Und plötzlich ganz unverhofft, entspannten sich
ihre Augenlieder. Der Kahn, er lag jetzt still. Hielt
inne; sie erstarrte. Es war ihr, als würden sich da
nun doch kleine Tränen aus dem Winkel ihres
Auges lösen wollen. Wie Sperma vielleicht, dachte
sie: So sehr herbeigesehnt, kondensiert der Genuss
in einem Tropfen und ist sofort unwiderruflich
Vergangenheit.
Ihre Aufmerksamkeit schien den Prozess zu
unterbrechen. Bang, blieb sie sich ausgesetzt.
Mittags
Gestern, 18:48
Nein, nein die Insel wurde an einem Sonntag
entdeckt, das sei unwiderruflich sicher dargelegt,
sagt er. Kurz darauf fügte er gönnerhaft hinzu: Die
Moderne löse soziale Kontrolle nicht auf, sie
verändere lediglich ihr Gesicht. Nicht die stabile
Lebenslage, sondern ein regelhafter, absehbarer
Lebenslauf liesse uns unsere Pflicht, uns selbst
erfüllen.
Mittags hat das Licht die meiste Kraft. Dann kennt das Licht kein Pardon: Jeder Winkel wird bis ins Kleinste definiert. Alles ist jetzt klar umrissen; bekommt seinen harten Schatten zugeworfen.
Ich denke, es wäre besser, sie zu verschlafen, die Mittagszeit.
Was fehlt, ist die Kontinuität. Einig ist man sich, ein Mangelwesen. Auch ihre Stimme, sie ist brüchig: Abbruch, Umbruch, Ausbruch – das alles kennt, wer sie kennt.
Und sie? Sie will sich nicht mehr vergleichen, will nicht mehr gewinnen, weder ihre Lorbeeren, noch seine Blicke. Im Widerstand gegen Kategorien hat sie sich die Pflicht abgesprochen, gefallen zu wollen. Damit sie wegbleiben, diese Blicke, die sie eng umschlingen. Sie in rigide Strukturen einordnen. Sie benennen, sie bewerten, sie besitzen wollen. Lieber die eigene Biografie auflösen, statt dem Korsett des Gefallens zu verfallen. Besser sie zerreissen, diese fremden Bilder, die ihre Imagination, ihr Intuition kläglich verenden lassen. Die ihr ein Leben vorformen. Ein Leben, das sie erwarten und doch nur scheitern lässt. Nie wieder will sie sich bemitleiden. An keinen roten Faden wird sie sich mehr halten. Ein Leben voller Fragmente erzählen. Für immer sollen sie verwirrt sein, ihre Blicke. Besser immer wieder suchend; immer wieder anders; immer wieder sie. Die Sonne, die Sonne! Sie scheint für alle.
Es sind die Sorgenkinder, deren Herzen – schwer wie schwarzes Öl – tief aus dem Innern an die Oberfläche der Leichtigkeit gedrängt werden. Wo sie sich ausbreiten, bis ihre ölige Dunkelheit alles verschluckt hat.
Es sind diese Herzen, von denen man sich gerne abwenden würde.
Abwenden, weil sie die Kraft innehaben, die eigene Sonne zu verdunkeln;
die eigene Integrität zu bedrohen.
Wenn man also an sie denkt, an ihre Geschichte, muss man selbst schauen, dass man nicht vor die Hunde geht, traurig wird. Es bleibt wichtig, sich in dieser Geschichte seiner Haut bewusst zu sein. Man muss schauen, dass man weiss, dass man sie hat: Diese schützende Haut, die sich wie eine Mauer zwischen die eigene Innerlichkeit und jene der anderen stellt.
Trotzdem: Man darf sich nicht nur auf die Düsterheit in ihren Worten beschränken. Man muss sich die Mühe machen, die Schönheit erkennen zu wollen. Man kann nicht einfach sagen, oh wie ist das anstrengend, so wie L. es tut. Weil, wenn man das tut, wird man ihnen und ihren Geschichten nicht gerecht. Dann verkennt man die Schönheit der Kraft, mit denen sich ihre Gedanken zu formen vermögen. Verkennt, dass es die Unterdrückten, die Verkehrten, die Entrückten sind, welche die alte Welt zum Tanzen bringen.
Denn es sind ihre Tränen… ihre Tränen kennen kein Pardon; rütteln und schütteln an der Ordnung. Weinen, bis alle Struktur zerflossen ist. Ihre Emotionalität, sie verfolgt die Repräsentablen bis in ihre dunklen Paläste. Durchzieht all die Träume, die diese sich nicht zu träumen wagen. Bis nichts mehr sein wird, wie es war. Gerüttelt und geschüttelt. Lauthals werden sie lachen, hysterisch sich im Kreise drehend den eigenen und fremden Zwängen entkommen sein. Und dann? Dann werden sie sich liebevoll um die anderen kümmern und die anderen werden die Welt nicht mehr verstehen.
Man kann sich also entziehen und keiner Seele ausser sich selbst was Gutes tun,
oder man geht raus und teilt. Teilt all die Rosen, die man hat, statt sie nachts einsam und versteckt zu giessen. Denn man muss sie küssen, muss sie drücken, die eingesperrten Herzen mit den blauen Flecken. Man muss schreien, immerzu weiter schreien: Geht hinaus, hinaus mit Euch! Fasst Mut, nur Mut! Lasst Sie Euch ertragen, lasst Sie Euch geniessen. Tut man das alles nicht, dann bleibt man, dann bleibt man ein Idiot, dann bleibt man so wie L.
Abends
Abends entschwinden die Farben, ehe sich eine neue Welt finden kann.
Gestern, 18:55
Da ist kein Druck, geliebt zu werden, und darum
liebe ich dich. Flüchtig geküsst, kein Blick zurück.
C’est ça! Vom Rest unbemerkt, denn glücklicherweise sind sie alle beschäftig. Schaut da!
Schönwetter am Ende des Tunnels! Wir fahren
gen’ Süden! Fahren jetzt! |
Eine von Milliarden; kein Gramm mehr Wert wiegt ihre Lebenszeit. Zum Glück!
Träum goldig, Freundin.
Küss dich später,
ATJ |
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