Mai 2021

Fragmentiertes Portrait einer Suchenden

von Anna-Thea Jaeger
Jahresthema: Die Grossen Zwölf
Monatsthema: Freude

Zusammen vermochten sie alle Sprachen zu sprechen,
am besten jene der Stille.

<3

Eines Sonntags, bevor sie einschlief, musste sie an Fitzgerald denken.
Sie musste daran denken, wie sie sich vor langer Zeit – obwohl sie ihn nicht ausstehen konnte –  einige seiner Zeilen angeeignet hatte.

Someday I’m going to find somebody
and love him
and love him
and never let him go

Morgens

Es ist nicht selbstverständlich, dass man sich morgens – noch vor dem ersten Blinzeln –
ereignislos auf den Tag freut.
Es ist aber auch nicht selbstverständlich, dies nicht zu tun.

So wie damals morgens mit ihm. Dann, wenn sich ein neuer Tag sanft über ihr entfaltete, das taufrische Licht langsam alles zum Erleuchten brachte und die feinen, vom Winter noch geschwächten Sonnenstrahlen die Laken zu liebkosen begannen.

Dann, wenn sie in diesem Raum erwachen durfte. Einem Raum, der erfüllt war von ihrem Duft. Diesem bekannten Duft. Einem Duft, der ihr so vertraut war, der sie so sehr zu beruhigen vermochte. Zu beruhigen vermochte, wie die weisse Masse es tut. Jene weisse Masse, die sich aus den Brüsten dieser Welt entleert.

Du denkst vielleicht, hier geht es um ihn. Doch nur so – so ist es nicht. Denn hier geht es um die Suche. Die Suche nach der eigenen Stimme, die Suche nach der eigenen Ausdrucksform. Es zeugt von der Vorfreude auf ein Selbst, das sich vertrauen, das sich bewusst sein kann… vom Stillhalten und Aushalten können… vom Treubleiben trotz aller Widersprüche… vom Vertrauen in die Richtigkeit der Launen, der Wechselhaftigkeit der Augenblicke. Es ist die Suche nach dem Selbstwert, die Suche nach dem Sie

Gestern, 16:37

Suchend nach Mutters Schoss.

Erinnerst du dich?

Augen geschlossen, den Leib ausgestreckt, die

Welt ausgesperrt. Decke des Vertrauens über den

Kopf gezogen. Alles in Watte gepackt. Ruhend in

Mutters Schoss. Taumelnd zwischen Wirklichkeit

und Traumwelt. Kein Gedanke zu verschwenden;

angekommen im Jetzt. Frieden um sich, Frieden

über sich. Umsorgt und verhüllt –

verantwortungslos in Mutters Schoss.

Da mit ihm im Schneckenhaus, nahm sie also wahr. Nahm war, wie ihr ganzer Körper von diesem merkwürdig warmen Gefühl erfüllt wurde. Einem Gefühl, das eine unerwartete Kraft durch alle Glieder strömen lässt.
Bis irgendwann – der Körper schon zum Bersten voll – die Lieder in freudiger Erwartung zum Erheben gebracht werden.

Wie oft sehnte sie sich nun nach diesem Gefühl; nach diesem Raum.
Einem Raum, der sich richtig anfühlt, der sich nach richtig sein anfühlt.
Einem Raum, in dem die Zeit stehenbleibt.
Man sich – begraben unter schützenden, schweren Decken – restlos erholen kann.
Alles anhalten. Stillstand. Endlich schlafen. Endlich wieder träumen können.

Gestern, 17:54

Zeit liegt still, Zeit ist angehalten. Im Vakuum

zwischen gestern, hier und dann. Nichts Neues zu

erwarten, nur Altes, nur das Jetzt zu lieben.

Plötzlich hält sie inne. Bleibt noch ein wenig.

Keine Zeit für Zukunft. Präsenz, Präsenz jetzt!

Kein rasendes Herz, keine eilenden Gedanken mehr.
Die Rastlosigkeit endlich besiegt. Besiegt für die unendliche Stille der angehaltenen Zeit.
Endlich Ruhe im Kopf.

Gestern, 17:58

Heute hat sie eine Schnecke geküsst. Ihr Schleim

blieb ihr noch Stunden an den Lippen hängen.

Wenn man gut genug schaut – sagt sie – sind sie

überall: die leeren Schneckenhäuser. Dann ist die

Schnecke bereits tot, denn die Schnecke und ihr

Haus, sie sind vereint –  das sieht jede, sagt sie.

Küssend vereint, brauchen sie nur sich selbst …

selbstgenügsam, bis die Endlichkeit der Zeit sie

einholt. Doch selbst dann sind sie küssend vereint

– das weiss jede.

Das Schneckenhaus, sie sucht es; sucht es vielleicht für immer.
Hat es verloren; hat vergessen, wie man seinen Körper bewohnt.
Was bleibt, ist die Erinnerung; diese Sehnsucht, die sie mit pochendem Herzen dem Ende der Zeit entgegentreibt.

Ich stelle fest, dass ich dir nie gesagt habe, warum ich so traurig bin.

Das Problem: Der Kampf gegen die Gesetze der Väter; der Kampf mit sich selbst.

Flucht I

Gestern, 18:28

Einer, ein Alter, hat ihr mal gesagt:

Haben Sie überhaupt jemals nach dem Recht ihres Daseins gefragt?

Tür zu, Kopf ab – so stand sie da. Stand einfach

nur da. Mitten im Raum; enthüllt und zerdrückt

unter der Last ihrer Blicke. Zu entrückt, sich

bewegen zu können. Und hätte all das nicht schon

gereicht, die unterdrückten Tränen innerlich nicht

schon unlängst zum Schmelzen gebracht, fügte er

trocken, aber hartnäckig hinzu:

So suchen Sie sich doch einfach einen anderen

Planeten. Denn hier, hier verstehen wir Sie nun

wirklich nicht.

Flucht II, und plötzlich war es Winter.

Gestern, 18: 35

So stand sie da, stand einfach nur da. Die Füsse im

knöchelhohen Schnee ruhend.

Schnee, der sich während des ganzen Tages in

unregelmässigen Abständen mit Regen vermengt

hatte. Jener Schnee also, der immer schwerer und

schwerer wird, bis er irgendwann alles unter sich

erdrückt. Sie blickte hoch zum Himmel: dasselbe

Weissgrau wie der Schnee unter ihr.

Da war kein Unterschied mehr zwischen unten

und oben zu erkennen: Alles schien zu einem

einzigen grossen Klumpen verschmolzen zu sein.

Irgendwo in der Ferne mussten Krähen sein. Ein

sanfter Wind kühlte ihre erhitzten Wangen. Sie

wollte ausharren, der Kälte unter ihren Füssen

entgegentreten, standhalten. Jede Sekunde mehr

kam ihr vor wie ein riesengrosser Akt an

Durchhaltewillen. Doch das Frösteln – es wurde

immer stärker. Bezwang sie, so dass sie ihren

Willen brechen musste. Schon wieder den eigenen

Ansprüchen nicht gerecht werden; schon wieder

scheitern.

Drinnen legte sie sich auf den Rücken. Die Füsse

in die Luft streckend schloss sie die Augen und

starrte doch vor sich hin. Plötzlich war sie auf

einem Kahn. Erst waren die Wellen ganz sanft.

Wogen sie nur leicht hin und her. Doch mit jedem

Atemzug wurden die Wellen stärker, kräftiger –

unerbittlich. Warfen sie von einer zur anderen

Seite. So fühlt es sich also an, in Ohnmacht zu

fallen. Wellen brachen tosend über ihr. Die Gicht

schäumte. Kleine Luftbläschen wirbelten ihr um

die aufeinander gepressten Lippen. Liessen keinen

Raum – nicht einmal für einen Atemzug.

Würde dieses ganze Wasser doch nur endlich aus

ihrem Kopf herauskommen. Könnte sie doch nur

endlich weinen. Würde sich da im Augenwinkel

doch nur eine Träne lösen können.

Wie sehr sehnte sie sich nach diesen Tränen, die

einem unbehelligt über die Wangen gleiten.

Doch da waren keine Tränen mehr. Da war nur

diese schwarze Masse an Wasser in ihrem Kopf.

Und plötzlich ganz unverhofft, entspannten sich

ihre Augenlieder. Der Kahn, er lag jetzt still. Hielt

inne; sie erstarrte. Es war ihr, als würden sich da

nun doch kleine Tränen aus dem Winkel ihres

Auges lösen wollen. Wie Sperma vielleicht, dachte

sie: So sehr herbeigesehnt, kondensiert der Genuss

in einem Tropfen und ist sofort unwiderruflich

Vergangenheit.

Ihre Aufmerksamkeit schien den Prozess zu

unterbrechen. Bang, blieb sie sich ausgesetzt.

Mittags

Gestern, 18:48

Nein, nein die Insel wurde an einem Sonntag

entdeckt, das sei unwiderruflich sicher dargelegt,

sagt er. Kurz darauf fügte er gönnerhaft hinzu: Die

Moderne löse soziale Kontrolle nicht auf, sie

verändere lediglich ihr Gesicht. Nicht die stabile

Lebenslage, sondern ein regelhafter, absehbarer

Lebenslauf liesse uns unsere Pflicht, uns selbst

erfüllen.

Mittags hat das Licht die meiste Kraft. Dann kennt das Licht kein Pardon: Jeder Winkel wird bis ins Kleinste definiert. Alles ist jetzt klar umrissen; bekommt seinen harten Schatten zugeworfen.

Ich denke, es wäre besser, sie zu verschlafen, die Mittagszeit.

Was fehlt, ist die Kontinuität. Einig ist man sich, ein Mangelwesen. Auch ihre Stimme, sie ist brüchig: Abbruch, Umbruch, Ausbruch – das alles kennt, wer sie kennt.

Und sie? Sie will sich nicht mehr vergleichen, will nicht mehr gewinnen, weder ihre Lorbeeren, noch seine Blicke. Im Widerstand gegen Kategorien hat sie sich die Pflicht abgesprochen, gefallen zu wollen. Damit sie wegbleiben, diese Blicke, die sie eng umschlingen. Sie in rigide Strukturen einordnen. Sie benennen, sie bewerten, sie besitzen wollen. Lieber die eigene Biografie auflösen, statt dem Korsett des Gefallens zu verfallen. Besser sie zerreissen, diese fremden Bilder, die ihre Imagination, ihr Intuition kläglich verenden lassen. Die ihr ein Leben vorformen. Ein Leben, das sie erwarten und doch nur scheitern lässt. Nie wieder will sie sich bemitleiden. An keinen roten Faden wird sie sich mehr halten. Ein Leben voller Fragmente erzählen. Für immer sollen sie verwirrt sein, ihre Blicke. Besser immer wieder suchend; immer wieder anders; immer wieder sie. Die Sonne, die Sonne! Sie scheint für alle.

Es sind die Sorgenkinder, deren Herzen – schwer wie schwarzes Öl – tief aus dem Innern an die Oberfläche der Leichtigkeit gedrängt werden. Wo sie sich ausbreiten, bis ihre ölige Dunkelheit alles verschluckt hat.
Es sind diese Herzen, von denen man sich gerne abwenden würde.
Abwenden, weil sie die Kraft innehaben, die eigene Sonne zu verdunkeln;
die eigene Integrität zu bedrohen.
Wenn man also an sie denkt, an ihre Geschichte, muss man selbst schauen, dass man nicht vor die Hunde geht, traurig wird. Es bleibt wichtig, sich in dieser Geschichte seiner Haut bewusst zu sein. Man muss schauen, dass man weiss, dass man sie hat: Diese schützende Haut, die sich wie eine Mauer zwischen die eigene Innerlichkeit und jene der anderen stellt.

Trotzdem: Man darf sich nicht nur auf die Düsterheit in ihren Worten beschränken. Man muss sich die Mühe machen, die Schönheit erkennen zu wollen. Man kann nicht einfach sagen, oh wie ist das anstrengend, so wie L. es tut. Weil, wenn man das tut, wird man ihnen und ihren Geschichten nicht gerecht. Dann verkennt man die Schönheit der Kraft, mit denen sich ihre Gedanken zu formen vermögen. Verkennt, dass es die Unterdrückten, die Verkehrten, die Entrückten sind, welche die alte Welt zum Tanzen bringen.
Denn es sind ihre Tränen…  ihre Tränen kennen kein Pardon; rütteln und schütteln an der Ordnung. Weinen, bis alle Struktur zerflossen ist. Ihre Emotionalität, sie verfolgt die Repräsentablen bis in ihre dunklen Paläste. Durchzieht all die Träume, die diese sich nicht zu träumen wagen. Bis nichts mehr sein wird, wie es war. Gerüttelt und geschüttelt. Lauthals werden sie lachen, hysterisch sich im Kreise drehend den eigenen und fremden Zwängen entkommen sein. Und dann? Dann werden sie sich liebevoll um die anderen kümmern und die anderen werden die Welt nicht mehr verstehen.

Man kann sich also entziehen und keiner Seele ausser sich selbst was Gutes tun,
oder man geht raus und teilt. Teilt all die Rosen, die man hat, statt sie nachts einsam und versteckt zu giessen. Denn man muss sie küssen, muss sie drücken, die eingesperrten Herzen mit den blauen Flecken. Man muss schreien, immerzu weiter schreien: Geht hinaus, hinaus mit Euch! Fasst Mut, nur Mut! Lasst Sie Euch ertragen, lasst Sie Euch geniessen. Tut man das alles nicht, dann bleibt man, dann bleibt man ein Idiot, dann bleibt man so wie L.

Abends

Abends entschwinden die Farben, ehe sich eine neue Welt finden kann.

Gestern, 18:55

Da ist kein Druck, geliebt zu werden, und darum

liebe ich dich. Flüchtig geküsst, kein Blick zurück.

C’est ça! Vom Rest unbemerkt, denn glücklicherweise sind sie alle beschäftig. Schaut da!

Schönwetter am Ende des Tunnels! Wir fahren

gen’ Süden! Fahren jetzt!

Eine von Milliarden; kein Gramm mehr Wert wiegt ihre Lebenszeit. Zum Glück!

Träum goldig, Freundin.

Küss dich später,

ATJ