Mai 2005

Für Christiane

von Myriam Keil
Jahresthema: Brief
Monatsthema:

Ich schreibe Dir diesen Brief, um abzuschliessen. Genau genommen habe ich das bereits vor einem Jahr getan. Aber ich möchte sicher gehen. Das Abschliessen mit Dir muss ewig vorhalten.

«… endlich angekommen», hörte ich das Ausklingen Deiner ersten Worte an mich, vor zwei Jahren, drei Monaten und acht Tagen. Der Gedanke an Umkehr war präsent, latent vorhanden in den Obertönen Deiner Stimme. Du hast Häuser gebaut mit Deinen Worten, Gebäude mit ihnen errichtet. Glaubst Du, ich hätte das nicht bemerkt? Ich bat Dich fortzufahren in Deiner Erzählung, doch Du hast mich nur angesehen und die Gebäude wieder einstürzen lassen. Ich habe es gehasst, wenn Du das tatest. Habe es gehasst, an diesem ersten Tag ebenso wie an allen folgenden.

In den Nächten liege ich wach und denke an die Zeit vor dem Heute. «Früher» nennen die meisten diese Zeit; ich kann es nicht. Früher ist zu weit weg. In der Zeit vor dem Heute hast Du meinen Träumen Nahrung gegeben, Du wusstest um die Kleinigkeiten, die einen Vogelfreien von einem Gefangenen unterscheiden. Meine Kopflandschaften hast Du gezählt, Entscheidungen schoben wir umher auf Schachbrettfeldern, und obgleich alles Spiel war, wusste ich, dass es das nicht bleiben würde. Als wir damit begannen, den Himmel in Quadrate aufzuteilen, erkannte ich, dass die Zeit vor dem Heute zu Ende ging.

Eines Tages hast Du im Café Deine Tasche auf den Tisch gelegt, die Hand darauf, die linke war es, wie jedes Mal. «Ich habe alle Briefe verschickt», hast Du gesagt und Haare aus Deiner Stirn gestrichen, wo keine waren. Obwohl Dein Gesicht keine Tränen zeigte, bin ich mir immer sicher gewesen, dass Du in diesem Moment geweint haben musst.

Du hast damals Dein Adressbuch auf dem Tisch liegen lassen, es vergessen, vielleicht auch weggeworfen. Wegwerfen durch Zurücklassen. Ich habe die Seiten umgeblättert, eine nach der anderen. Sie waren leer, allesamt, und ich fragte mich, wem Du die Briefe geschickt haben könntest, wenn Du doch keine Adressen hattest. Ich erinnere mich daran, Dir Fragen gestellt zu haben. Nach den Farbtönen in Deinen Ohrmuscheln und dem Geschmack unter Deinen Fingerkuppen. Alles wollte ich über Dich erfahren, doch stets erzähltest Du nur von ihm. Ich kenne ihn nicht, habe ihn niemals getroffen. Du pflegtest von ihm in der Vergangenheit zu sprechen. Ich habe nicht gefragt, was geschehen ist. Auf welche Weise Du ihn verloren hast.

Ich habe damals oft versucht, Dich anzurufen, wusstest Du das? Deine Nummer kenne ich noch immer auswendig, wenngleich ich sie seit langem nicht mehr gewählt habe. Ich habe keine Ahnung, ob Du alleine wohnst, noch bei Deinen Eltern oder in einer Wohngemeinschaft. Wer auch immer am anderen Ende der Leitung die Stunden zählte, er hob niemals ab. Ich habe keine Möglichkeit, Dich zu kontaktieren. Deine Telefonnummer läuft ins Leere, heute ebenso wie gestern oder übermorgen. Immer bist Du diejenige gewesen, die sich bei mir gemeldet hat. Hinter den Wänden meines Wohnzimmers spüre ich Deine Anwesenheit, greifbar nah und dennoch unerreichbar, so lange Du es so willst. Ich denke an das Verhallen Deiner Stimme, an die Architektur Deiner Wortkonstrukte. Einem Labyrinth gleich erscheinen sie mir nun, in dem ich mich verrannt habe und angstvoll in einer Ecke kauere, hinter stummen Mauern, inmitten von Dunkelheit. Die Luft fühlt sich dünn an und schmeckt nach Aufgeben. Jeder Atemzug brennt in meiner Lunge.

Ein letztes Mal, habe ich mir gesagt, als ich Dich vor einem Jahr traf, an dem Ort, den wieder einmal Du bestimmt hattest. Du standest mir gegenüber, ich hatte Angst zu schlucken. «Ich möchte es dir sagen», begannen Deine Worte und endeten im selben Augenblick. Du bist tiefer in Deinen Mantel hineingefallen und hast die Erinnerung aus den Furchen meiner Gedanken gekratzt. Ein halbes Lächeln habe ich auf den Boden zu Deinen Füssen gelegt – und dann entschieden, dass es Zeit war für die Zeit vor dem Morgen.

Zu Hause sah ich meinen Briefkasten überquellen. Die Briefe waren von Dir, ich wusste es bereits, ehe ich nachgesehen hatte. Ich nahm sie aus ihrem Gefängnis heraus, riss einen nach dem anderen auf, und wie ich vermutet hatte, war ihr Inhalt immer derselbe, dieser eine Satz, der das Ende bereits am ersten Tag unserer Begegnung eingeleitet hatte. «Ich glaube, ich bin endlich angekommen», hast Du geschrieben, auf jedem einzelnen Blatt in jedem einzelnen Umschlag, hast die Gebäude neu errichtet. Noch heute wandere ich in ihnen umher, geistere als Gespenst durch die Zimmerfluchten, rufe wieder und wieder Deinen Namen. Mir ist bewusst, dass ich mich geirrt habe. Es stimmt nicht, dass ich Dich nicht kenne. Es gibt sogar niemanden, den ich so genau kenne wie Dich. Ein beruhigendes Gefühl, irgendwie, und doch macht mir Angst, dass ich etwas ganz Entscheidendes nicht einfangen kann, dass etwas Wesentliches fehlt, wenn ich an Dich denke und mein Gedächtnis durchforste auf der Suche nach einer Antwort, die ich niemals finden werde: An die Farbe Deiner Augen erinnere ich mich nicht.

Bis zum Ende des Vergessens,
M.

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