September 2008

Gegenlicht

von Nadja Schiller
Jahresthema: Tagebuch
Monatsthema: ---

An den Türrahmen gelehnt beobachte ich sie im Gegenlicht der Schreibtischlampe. Ihre Figur gleicht einem Schattenriss. Ich habe ihr zum Geburtstag ein Tagebuch geschenkt, seither sitzt sie Abend für Abend in ihrem Zimmer und schreibt. Ich bewundere die gerade Haltung ihres Rückens, wie sie den Kopf nur ganz leicht vornüber neigt; erahne die Härchen, die sich in feinen Wirbeln an ihren Nacken schmiegen. Was ich mir bei diesem Geschenk gedacht habe? Schön sollte es sein und persönlich. Nie hat sie vorher davon gesprochen, dass sie gerne Tagebuch führen würde und nun ist es ihr zu einer lieben Gewohnheit geworden, vor dem Schlafengehen noch ein paar Notizen zu machen. Lange dauert es nie, höchstens dreissig Minuten, dann steigt sie zu mir ins Bett.

Mit offenen Augen liege ich in der Dunkelheit. Ich horche, wie ihr Stift in regelmässigen Zügen über das Papier kratzt. Von Zeit zu Zeit blättert sie eine Seite um. Der wattierte Umschlag gibt dem Druck der Finger leise nach. In das blaue Leder habe ich mit Silberbuchstaben ihren Namen prägen lassen. Billig war das nicht. Und ein seidenes Lesebändchen gibt den letzten Eintrag an. Ich stelle mir vor, wie sie es sorgsam hervorzieht, fast zärtlich zwischen die aufgeklappten Seiten gleiten lässt, das Buch dann schliesst und ihre Hand darauf legt.

Manchmal bin ich eifersüchtig. Ich wünschte mir, sie käme zu mir ans Bett und erzählte, was sie dem Buch anvertraut. Immer öfter bin ich schon eingeschlafen, wenn sie sich zu mir legt. Egal wie müde sie ist, geschrieben wird jeden Abend. Über den Inhalt sprechen wir nie. Man schenkt nicht ein Tagebuch und ist nachher neugierig. Sie blättert jeweils mindestens dreimal, was bedeutet, dass sie etwa sechs Seiten voll schreibt. Sechs Seiten, jeden Abend. Soll das ein Roman werden? Ich habe versucht, sie neckisch davon abzubringen, hab sie auch mal aufs Bett gezogen, was sie ärgerte. Zuerst kommt das Buch. An ihrem Schreibtisch befindet sie sich in einer anderen Welt, in der es mich nicht gibt. Wahrscheinlich schreibt sie über Gefühle oder blickt auf ihren Tag zurück. Beklagen kann sie sich nicht. Ich biete ihr ein gutes Leben.

Mit welchem Ernst sie schreibt. Ich bemerke Veränderungen an ihr. Sie wirkt lebendiger, beinahe aufgekratzt, aber auch launenhaft, zu Widerspruch gereizt. Sie hat die Haare abgeschnitten. Früher hätte sie mich vorher gefragt. Jetzt sieht sie wieder aus wie damals, als ich mich in sie verliebte, sie aber nichts von mir wissen wollte: unerschrocken, jedoch verletzlich zugleich.

Heute wollte ich einen Blick auf ihre Zeilen erhaschen, doch sie legte schnell ihre Hände darüber. Ist es geheim? Habe ich gefragt und dabei meine Stimme so heiter wie möglich klingen lassen. Darum geht es nicht, hat sie geantwortet und mich abgeschüttelt. Dann eben nicht. Ich gehe ins Bett und zähle die Minuten, fünfzig diesmal, sie verbringt immer mehr Zeit mit diesem – Buch. Sie ist süchtig. Kaum sind wir mit dem Abendessen fertig, verschwindet sie in ihr Zimmer. Später schlüpft sie schnell unter ihre Decke und dreht sich mit einem flüchtigen Kuss von mir weg. Ich höre ihr Herz schlagen, spüre, wie sie in Gedanken weiterschreibt, noch viel zu wach um einzuschlafen. Ob sie auch von mir schreibt?

*

 

Liebes Tagebuch

Hält er mich für bescheuert? Wozu brauche ich ein Tagebuch? Ich habe keine geheimen Wünsche und Gedanken, die ich in Schönschrift einem Buch-Du gestehen müsste. Ich hatte schon als Kind nur Verachtung übrig für die Tagebuch-Mädchen, die ein Schlüsselchen um den Hals trugen und sehr geheimnisvoll taten. Es ist ein weiterer Versuch, mich dem Bild, das er sich von mir macht, anzupassen. So wie der englische Sekretär und der dazu passende Stuhl, der mir diese stocksteife Haltung aufzwingt. Er sieht mich als ein fille du dix-huitième siècle, das am Abend gern zur Feder greift, um noch ein wenig davon zu berichten, wie ich heute beim Ausreiten von einem leichten Schauer überrascht wurde und dass das Gebäck zum Fünf-Uhr-Tee eine Spur zu trocken war. Kokolores! Ich halte das Tagebuch-Schreiben für ein verlogenes Geschäft. Kein Mensch schreibt nur für sich. Nun sollst Du sehen, was Du davon hast.

 

Liebes Tagebuch

Ich bin noch nicht fertig mit Dir. Schau Dich doch an! Du mit Deinem feisten Lederwanst. Auch noch mein Name musste darauf – ach Gott, was sind wir fein! Und warum blau und nicht schwarz? Schwarz hätte mir besser gefallen, black is the colour of my thoughts. Ich weiss schon, blau ist weiblicher. Ihm zuliebe tue ich als ob. Und wie er sich an meinem Anblick weidet, ich spüre, wie sich sein Blick in meinen Nacken bohrt. Früher fühlte ich mich davon geschmeichelt. Nachdem er gepinkelt und die Zähne geputzt hat, schlurft er im Pyjama durch den Flur und bleibt in meiner Tür hängen. Das würde Dir so passen, das brave Frauchen, dem man grosszügig ein halbes blaues Stündchen gewährt. Was für ein gönnerhafter Einfall! Vielleicht versuchst du es mal mit Schreiben, das tut dir gut, bringt dich auf andere Gedanken. Ist es das? Eine kleine Träumerei sei mir erlaubt, aus der ich dann dankbar in die starken Arme des treusorgenden Gatten sinken soll. Mann, bin ich sauer.

 

Liebes Tagebuch

Langsam komme ich auf den Geschmack. Wo war ich? Bei seinen Armen, genau, diese behaarten Affenarme, deren schwabbeliges Fleisch bei jeder Bewegung ins Schwingen gerät und den fauligen Pfefferminzatem darf ich nicht vergessen und die Schweissperlen auf der Oberlippe. Was noch? Seine Angewohnheit mit geschlossenen Lippen Luft durch den leicht geöffneten linken Mundwinkel einzusaugen. Überhaupt alle Geräusche, die sein Körper macht. Ich ertappe mich dabei, wie ich abwarte, bis er schläft, bevor ich ins Bett gehe. Das Schreiben verführt zu Gemeinheiten. Woher diese Wut, diese Unzufriedenheit? Die leeren Seiten locken Gedanken hervor, von denen ich erst, da ich sie lese, weiss, dass ich sie habe. Unheimlich. Boshaftigkeit sprachlich aufpoliert – wie mich das anwidert. Du zwingst mich zu schriftlichen Aussagen. Gefühle und Stimmungen werden in Sprache gemünzt zu einer harten Währung. Wozu soll das gut sein?

 

Tag, liebes Buch

«Das Buch – Dein Freund» ich erinnere mich an das Leseförderungsplakat aus meiner Kindheit. Im Schulzimmer hing eines und in der Bibliothek. Heute wie damals irritieren mich diese Worte, ich mag sie nicht. Ein Buch ist kein Mensch. Ich kann mich nicht mit Dir anfreunden, ich trau› Dir nicht. Diese Übungen machen mich eitel und überheblich, ich nehme mich zu ernst. Auf diese «Schreibförderung» kann ich verzichten. Du drängst mir eine Haltung auf: Verteidigung oder Anklage. Oder die des Richters, was noch schlimmer ist. Tatsächlich habe ich damit angefangen, meinen Alltag zu analysieren, was taugt für eine Erwähnung im Buch, was nicht. Alles verlangt plötzlich nach einem Kommentar. Ich schaue meinen Mann an und denke: Hä? Von einer Sekunde auf die andere bin ich am Heulen, einfach so. Beunruhigend, nicht? Als ob dieses Buch einen Keil getrieben hätte, zwischen mich und mich. Ich schreibe mit der Stimme einer französischen Filmdiva: Je ne me connais plus.

 

Tagebuch, Tagebuch

Du machst mir Angst. Kann sein, dass ich da durch müsste, dass es nachher besser wird. Wenn man sich erst mal alles von der Seele geschrieben hat – und wie die Sprüche alle lauten. Das Risiko, dabei den Verstand und noch viel mehr zu verlieren, ist mir allerdings zu gross. Wovon man nicht schreiben kann, darüber muss man sprechen. Ich gebe Dich zurück. Ich werde Dich nicht wegschliessen. Du bleibst einfach auf diesem Tisch liegen, als hätte ich Dich vergessen.