Dezember 2018

Grantiger Brocken

von Simon Morgenthaler
Jahresthema: Bilder
Monatsthema:

Man liegt im Geröll und starrt auf einen verendenden Gletscher, man liegt starr, ein Brocken – wenn auch kein schwerer, ein paar Pfund vielleicht – und es kann einem egal sein. Egal wie jene Wursthaut, die neulich jemand fallen gelassen hat und die nun unweit irgendwo im Geröll liegt, zwischen den Genossen, eine Wursthaut, deren Zotten in der Sonne vertrocknen, von niemandem beachtet, zotig ragt eines ihrer Enden in die Bergluft: Es ist mir Wurst, hörte man vor nicht allzu langer Zeit einen dieser wandernden Darmträger sagen, und hier hört man nicht viel, hier oben in der Ödnis, wenig Mensch hier und wenn, dann treten sie einen höchstens mit ihren schweren Schuhen oder bewerfen einen – wie auch die Genossen murren – mit den Überresten ihrer Wegzehrung.

Es kann einem egal sein, auch jene sechs Stück Mensch, die sich dem Abbruch des Gletschers nähern, um sich zu nähren am Anblick der bläulichen Wunde, zu erschaudern. Sie erschaudern und schwitzen womöglich zugleich, porige Häute! Das Erhabene ist zwar nicht mehr en vogue, nicht wie damals, als man noch weiter oben stak und nicht unten in der Ebene, im weiten Feld der Genossen lag wie heute, nicht wie damals, als man zum ersten Mal einen benagelten Schuh auf sich kratzen spürte. Die Bekleideten klammern sich aber an ihrer eisigen Besorgnis fest, angesichts dieser kümmerlichen, glazialen Reste scheint es denen wieder hochzukommen, das mit ihrer begrenzten Freiheit, das mit der Unendlichkeit, die in ihren Köpfen doch eigentlich nur da ist, damit sie das lächerliche bisschen Lebenszeit in ihrer existenziellen Kopfzirkusvorstellung etwas verlängern können. Ein Affront, unvorstellbar: Wollen Teil des Infiniten werden und können diese paar Jahrzehnte nicht einmal liegen bleiben, nicht einmal stillhalten können sie, nicht eine Minute, nicht einmal, wenn sie tatsächlich liegen und schlafen. Wenn man sie nicht wecken kann, meinen sie, sie würden wie ein Stein schlafen, dabei wälzen sie sich in ihren Träumen, unstet und verzweifelt scharrend. Als Brocken ist man wenigstens halbwegs immobil, liegt man verkeilt oder lastend auf anderen Genossen. Und die eigene Sicht ist begrenzt, alles eine Frage der Perspektive, in der man vorläufig zum Stillstand gekommen ist.

Wenigstens ein grauer Tag, fast grau, gräulich auf jeden Fall, die Wolken verdecken die eingeweissten Felsen, das in Eis verborgene Gestein der hochaufragenden Gipfel im Hintergrund. Der Horizont ist eingewolkt, zur eigenen Freude. Wie die firnbedeckten Flanken an anderen Tagen glänzen, ein Hohn. Aber auch das wird einmal schmelzen, schmelzen in leckender Sonne, übersommerlich dahingehen, wegtropfen und abfliessen. Und wir Brocken, wir sollen trotzdem nicht dazu gehören, zum Leben? Tote Materie? Kein Brocken braucht diese begriffliche, menschelnde Verheerung! Sollen die sich nur lieben, die mit ihren sich scheinerhärtenden Weichteilen, die keine Ahnung von einer anständigen Versteinerung haben, sollen sich nur lieben, die dort vorne, die sich verdächtig gepaart der Wunde nähern, lieben und hitzig zu Tode reiben, sollen sie sich.

Grau und fahl immerhin, der Teint der Landschaft, moribund. Rechts zieht sich ein Rücken hinab ins Gesichtsfeld, der – steil, ziemlich steil – in gründurchsetzte, schlecht gestufte Schrofen abfällt. Ein dunkles Band, ein nasser Felsabsturz schliesst die Schrofen gegen unten ab, noch dunkler, als würgte das Verborgene mit letzter Kraft seine Düsternis hinauf, eine Randlinie, die den Beginn des Gletschers markiert, zugleich Kontur, an der die Trogwand unsichtbar wird. Kein Bergschrund, überhaupt kein rechter Berg, Randkluft höchstens. Der Gletscher drückt sich von rechts in den Blick, so scheint’s, könnte aber auch direkt auf einen zu kommen, oder zeitgemässer sich vor einem zurückziehen. Von einem Brocken sollte man keine Weitsicht erwarten! Man hat nach den vielen Stürzen sowieso den Überblick verloren, hat sich zahllose Male überworfen, auf- und abgespalten: Der eigene Brocken ist über die Zeit zerbröckelt in wundersam egalitäre Teilhaftigkeiten.

Ihren Lebensspannungsbogen wollen sie spannen – diese Weichwesen –, indem sie hier in die Höhe kraxeln und sich abmühen, nur um in diesen Eisresten daran erinnert zu werden, wie schön und weiss es einst war, und um ein wenig zu erschrecken. Eigentlich aber um sich daran zu ergötzen, dass sie doch eine Bedeutung haben – diese prallgefüllten, teilbehaarten Menschenbalge, von deren Innerlichkeit am Ende nur noch ein bisschen Wasser und Ammoniak übrigbleibt –, sei’s auch nur angesichts der Zerstörung, die sie anrichten können, und der moralischen Kapriolen, mittels derer sie dann mit Blick auf diese Zerstörung ihr sackhaftes Selbst in ewiges Schein-Heil verklären können. Bigotterie! Auch menschliche Wärme hat gravierende Konsequenzen! Wurst können sie einem sein, diese selbstentsorgten und ausgefressenen Darmhäute, Durchgangsorgane ihrer eigenen metaphysischen Ausscheidungen, die sie immer wieder von Neuem in sich hineinschlingen, ohne zu begreifen, dass diese falschgüldenen Klumpen unverdaulich sind. Jeder Kiesel hat mehr Ewigkeit!

Links der andere Abschluss des Troges, weniger steil, Geröll und Geschiebe, Genossen aller Art und Grösse, ein felsiger Riegel geradeaus, von dem man nicht weiss, ob er nicht doch aus Eis besteht, untergründig. Übergänge in Grautönen, das Eis, der Schnee fast in Gänze bedeckt von Schotter und Zerfallenem, Zermahlenem: Toteis. Lediglich rechts eines kleinen Höckers ein schneeartiger Wulst, der eher unbeholfen als majestätisch auf dem Geschiebe liegt. Neben der bläulichen Wunde ungefähr in der Mitte ist es der Abbruch rechtereck, in dem sich der Gletscher als Gletscher zu erkennen gibt: Der geröllbedeckte Abhang bricht in einer Eiswand ab, schmutzig, gleichwohl deutlich heller, in der Vertikalen schichtartig strukturiert durch feine, etwas dunklere Ziselierungen: Risse, Spalten, mögliche Bruchstellen. Oder ist die Wand Teil eines Gletschertors, möglicherweise jenes Gletschers, von dem man einst getragen worden ist, den man längst aus dem Sinn und der Sicht verloren hat? Eines jener tropfenden Tore zu eisiger Höhle und Hölle, zu den Eingeweiden der gefrorenen Masse, die doch ab und zu auch das eine oder andere Stück Mensch verschlingt und wieder von sich gibt? Man sieht es nicht – nein, wir Brocken können und wollen uns nicht wenden und drehen, nicht aus eigenem Antrieb.

Man weiss nicht mehr genau, wie lange man hier schon liegt. Nicht lange, bedenkt man die ganze Länge. Man erinnert sich vage an die Zeit der gletscherlichen Überrumpelung, als diese weissen Ungetüme noch wuchsen, imperial und gewalttätig ihre lüsternen Zungenspitzen bis in die Täler streckten und ganzen Scharen von meinen Genossen die Ecken und Kanten raubten. Die Zeit der Gletscherhegemonien, die Zeit ihrer drückenden und lastenden Herrschaft, ihres landschaftsformenden Terrors. Eine glaziale Serie: Euphemismus! Aus lauter Henkershügeln, Richtmoränen und Jammertälern eiszeitlicher Gewalttätigkeit besteht heute die Welt! Und dann steigen sie hinauf in die Berge, diese angefleischten Bein-Gerüste, sind zwar – im Tritt – froh um uns Brocken und Felsen, richten aber ihre ganze Empathie auf einstige Grosszerbrecher, beklagen weinerlich das Verschwinden weissgigantischer Walzströme! Geschichtsklitterung! Kompensieren damit besterdings in pervertierter Weise die Belanglosigkeit ihres eigenen Histörchens. Und wir Brocken, wir harren selbst die Anekdote der Menschheit aus, ohne auch nur zu zucken.

Die bläuliche Wunde am Rand des Gletschers, nur ein minimer Ausbruch im geröllbedeckten Toteis, ein kleiner Einblick ins Innere, ins Eis, bläulich schimmernd, klar und kalt sicherlich. Und die aufgestellten Stangengehirne denken, es ist bläuliche Schönheit und nicht Erfrieren und Erstarren, denken: Unser Wasser, unser Speicher, die Schönheit schmilzt dahin, denken nicht an ihre eigene langsam (schnell!) blau anlaufende Vergänglichkeit. In Zukunft nur noch Stein, Geröll, denken sie, Steinschlag und Schutt, nur Ödnis noch, karge Kessel, instabil, nur Mühsal noch, Gefahr beim Gipfeldrang, Meister der Verklärung! Es ist bekannt: Mängelwesen sind die Menschen wegen ihres Gehirns.

Eigentlich können einem die Gletscher egal sein. Gut, es gab etwas mehr Bewegung früher, beim Wachsen, dann beim Schmelzen – rasante Reise schier! –, bis man hier zu liegen kam, wo man jetzt schon seit einer Weile für kurze Zeit liegt. Und es hatte weniger Stück Mensch hier oben, lange Zeit gar keinen, keinen einzigen dieser zappelnden Muskelgeister, die trotz Denkzwang nicht kapieren, dass die Evolution nur eine launische Flatulenz einer grösser angelegten, beständigen Weltverdauung ist, dieser wandelnde Gehirnbrei in einer dünnen Schale, der sich etwas auf seine Entwicklung, seinen Fortschritt einbildet, zum Lachen, zum Schreien! Wir Brocken, wir erodieren wenigstens auf ehrliche Art und Weise. Und die Schwerkraft, kommt’s hart auf hart, ist auf unserer Seite.

Orografisch rechts des eigenen Falls (keine Geworfenheit, bewahre!) fliesst das mürbe und trübe Wasser des Gletschers vorbei, das unterirdisch abgeleitete Schmelzen der Oberfläche bricht zögerlich hervor, nicht tosend, wie’s zuweilen vorkommt. Vielleicht hat es hinter dem einen Moränenwall gar einen halbleeren See, eine Pfütze, es ist nicht ersichtlich. Ein Netz kleinerer Abflüsse, die von links und rechts durch Schotter und Geröll mäandern und schliesslich in einem breiteren Bett zusammenrinnen. Einzelne grössere Blöcke, die sich der Fliessrichtung – so die Täuschung – entgegenstellen, unmerklich zernagt und bewegt zugleich; vom Bach zu besseren Zeiten selbst aufgeschobenes Geröll, das schüttere Inseln bildet. Gletschermilch fliesse, sagen die Ess- und Trinkmaschinen schamlos, überhaupt diese ganze anthropomorphe Vereinnahmung, die Milchgesichter zapfen also ihre Milch der Mutter Natur ab, sagen sie, dabei saufen sie den Abrieb meiner Genossen mit, saugen den Weltwasserspeicher an, als wären Gletscher Brüste – flachhängende Säugbrüste! –, als wäre die Natur eine dahingelegte Mutter, als könnte und würde sie sich nicht wehren!

Gut, auch unsere Erosion braucht Wasser, man gibt das Ressentiment zu, gegenüber den faserbehängten Wirbelsäulen, auch gegenüber den Gletschern, selbst mit Blick auf ihre Überbleibsel, selbst jetzt, wenn deren Ende absehbar ist. Oder gerade deshalb? Die weisse Pracht! Eifersucht? Auf die Endlichkeit dieser ewigen Wülste?

Eigentlich sollte man sich mit den Gletschern verbünden, ist im Grunde schon grundlegend mit ihnen verbündet, gegen die Körpermenschen, unendlich siegesgewiss eigentlich. Mitleid nagt, Mitleid mit einem selbst, wird man weich, wir Brocken plötzlich erweicht?! Vielleicht ist man insgeheim doch primär auf die Menschen mit ihrem breiig-kurzen Leben eifersüchtig, eifersüchtig auf deren Verdaulichkeit, den Darm. Wurst? Würde man gerne einmal in sich hineinschlingen, ein Würstchen, und die Wursthaut nonchalant ins Geröll werfen, uns Brocken vor die Nase, die wir nicht haben? Ein flapsig dahingeworfenes memento mori mit zwei Zipfeln und Enden, vertrocknet in der Sonne. Fehlt uns schliesslich doch das Obszöne, uns geschlechtslosen Brocken, die Zipfel, die Zoten? Nein. Ende, enden! Stein des Anstosses ist der Mensch und nicht der Stein.

Es bleibt uns Brocken nichts anderes übrig, als hadernd auf die Gletscher zu schauen, die verschwinden, grantig auf die Menschen zu blicken, die gehen und kommen. Ein Ende kann man sich höchstens imaginieren und auch dann nur für kurze Zeit. Man hat einige Geschichten gehört, von Sand zu Brocken, von Geröll zu Findling weitergegeben: Von zugehauenen Brocken, die zu Tischen werden, zu allerweltlichen Bausteinen, von Grossbrocken in dörflicher Einsamkeit, deren Herkunft in zynischer Weise auf Tafeln bezeichnet wird, die dann mit langen Schrauben und bösem Geräusch an ihr Inneres gebohrt werden. Einige der Verfliessenden sollen sich gar anmassen, mit Meissel und Hammer aus uns Brocken ihr Ebenbild zu hauen, formen jenseits aller natürlichen Brechung und Spaltung ihre Fratzen, ihre lächerlichen Gliedmassen in Stein, damit dieser zum ewigen Denkmal ihres zerfallenden Körpers wird – Idioten! Man hat von ganzen Feldern verschiedenartig verstümmelter Genossen gehört, in die sie mit Werkzeugen ihre Namen einkratzen und darunter ihre Überreste verscharren.

Wir Brocken, wir kennen die Endlichkeit nur vom Hörensagen, vom knirschenden Gemauschel der Genossen, unendlich viele Geschichten über die Endlichkeit. Aber was bringt dieses schwerkräftige Palaver? Es ist nur ein Steinschlag auf den erwärmenden Menschen. Und obwohl steter Steinschlag den Menschen manscht, bringt’s die Menschheit wohl nicht ins Rollen, wenn sie einem Stein vom Herzen fällt.