November 2006

Hängig

von Barbara Schibli
Jahresthema: Bildbeschreibung
Monatsthema: Zu Gerhard Richter, «Landscapes»

Hängig

Was dokumentieren wir eigentlich?, frage ich meine Schwester. Sie lächelt in den Rauch hinaus. Mein Kopf ist sturm, zu viele Parisiennes. Wir bewegen uns zu schnell, sagt sie, um dokumentiert zu werden. Deshalb sind wir auf dieser Seite. Am runden Tisch wird geschoben, von oben nach unten zählt dreifach. Meine Schwester macht sich derweil breit an der Bar. Sie zählt doppelt. Mutter sagte immer, nimm nie zwei. Wir sind eineiig. Mit dem Zeigefinger fährt Paula über die Klebestelle, die unter sich den Tabak verschliesst. So weich ist meine Schwester selten.
Auf dem Heimweg verliere ich sie. Sie bleibt in einer Tanne hängen. Die Haare hätten sich verfangen. Bei unserer Mutter war es wenigstens noch eine Fledermaus. Diese Geschichte erzählt sie immer wieder. Wie die Magd geschrieen hätte, weil das Viech nicht mehr aus den Haaren rauszukriegen war. Nur dass Mutter mit der Fledermaus überall hätte hingehen können. Mit der Tanne aber kommt meine Schwester nie weg von Bever. Auf immer dieses Bergkaff. Bis dass dann auch ein ovales Schwarzweissfoto in ihren Grabstein aus Schiefergneiss eingelassen wird. Wie bei unserer Grossmutter, der Anna Pitschna. Weiter als in die Garage ist die nicht gekommen. Dort aber gut gehangen. Pitschna heisst bei uns «die Kleine», aber die volle Länge von etwas sieht man erst, wenn es hängt. Anna sieht auf dem Grabsteinfoto aus wie aus einer anderen Zeit. Aber Paula ist Fotografin. Wenn sie sich nicht zu schnell bewegt, wird sie sich schon als ein Kind unserer Zeit hinkriegen.
Der Bescheid für ein Aufenthaltsstipendium in Treviso ist hängig. Wenn Paula anruft, ist Gaetano gerade am Essen, in Paris, in einer Sitzung, nächste Woche wäre gut, ihre Mappe liege zuoberst auf dem Stapel. Geh doch alleine auf den Mont Ventoux, sagt meine Schwester statt verpiss dich. Ich träume von uns immer verschwommen. Paula sagt, dass sei, weil wir uns zu schnell bewegten. Das gäbe Verzögerung. Paula wird es schon wissen. Sie spürt auch den Eisprung. Dann muss sie eine Nummer schieben. Mutter spielt jeden Samstag Lotto. Sie spielt für zwei Franken und hat nicht selten einen Dreier. Früher hatten wir einen Krämerladen. Paula verkaufte mir das Kilo Brot für sechs Franken. In Bever scheint sich nichts zu bewegen. Und so verliebe ich mich auch jedes Mal, wenn ich wieder da bin, in Peider. Er findet, ich werde jedes Mal städtischer. Eine richtige Zürichkatze sei ich schon. Peider sitzt mit am runden Tisch.
Mutter toupiert ihr Haar nach wie vor. Nur nicht mehr zu einem hohen Turm. Jetzt ist sie kürzer als mit zwanzig.
Meine Schwester lächelt nicht mehr, als ich wieder frage, was dokumentieren wir eigentlich? Sie stösst mich zur Seite, verlässt die Beiz. Madlaina hinter der Bar sieht mich vorwurfsvoll an. Sie ist empfindlich, seit sie auf den Bescheid wartet. Weisst du, was das in Treviso ist? Ich lege die acht Franken auf die Theke. Beim Rausgehen nicke ich Peider zu. Er schaut kurz auf, dann ist er wieder versunken in die Karten. Er und sein Jasskumpan haben gerade den Bergpreis erreicht. Als ich die Türklinke in der Hand habe, stösst mir Madlainas grazia fitsch scharf in den Rücken. Es klingt vorwurfsvoll. Draussen hätte ich gerne das Knirschen von Schnee unter den Sohlen.
Beim Frühstück am nächsten Morgen sagt Paula, von solchen Abenden bleibt immer was hängen, immer der Rauch in den Haaren. Ich sage, dass ich Annas Zopf zu einem Kreis gewunden und neben meinem Bett aufgehängt hätte. Worauf Mutter sagt, dass es gar nicht stimme, dass Anna immer in Bever gelebt hätte. Mit neunzehn sei sie ins Unterland zum Grossvater, doch in Zürich konnten sie nicht bleiben, weil das mit dem Konkubinat nicht erlaubt war, da zogen sie nach Spreitenbach. Aber nur für einige Monate, dann seien sie wieder nach Bever gekommen.
An meinem Kühlschrank in Zürich hängen Postkarten von Bever. Paula schickt sie mir regelmässig. Als wäre sie dort in den Ferien. Das letzte Mal, als Mutter in meine Wohnung kam, brachte sie Spachtelmasse mit und besserte damit Dübellöcher aus. Auch wenn du nicht auf immer hier bleibst, wie ein Provisorium muss es ja doch nicht gerade aussehen.
Ihr gefällt das grosse Ölgemälde, das ich letzte Woche im Brockenhaus der Heilsarmee gefunden habe und das nun in meinem Wohnzimmer hängt: eine mächtige Rottanne mit Schnee auf den Ästen.
Am nächsten Dienstag fährt Paula nach Treviso. Sie hat einen Termin mit Gaetano. Paula sagt, mit Treviso wird sich etwas herauskristallisieren. Aber in Bever will der Schnee in diesem Jahr nicht fallen. Das sei wegen der Globalisierung, sagt meine Schwester. Es werde wärmer, weil alles näher zusammenrücke, alles eins werde. Eigentlich seien Bever und Treviso dasselbe. Das Weggehen könne man sich also sparen.
Wir warten und werden weiter dokumentieren.