In den Schuhen der Mutter
Ich lasse Mutter nicht gehen, sie muss dableiben; ich bin ein Teil von ihr. Wenn sie nicht da ist, bin ich auch nicht da – bin ich nicht.
Ich banne Mutter in ihre Hausschuhe, und stelle sie abends vor mein Bett, damit sie meinen Schlaf bewacht, wie sie es immer getan hat, als ich ein Kind war.
In der Nacht trage ich Mutters Nachthemd, das weisse mit der Spitzenbordüre, damit ich ihr im Traum begegne.
Ich bin unterwegs, um Leute zu besuchen. Ich friere, denn ich trage gefrorene Kleider und ein Eispflaster am Rücken. Beim Betreten des Hauses sehe ich, dass sie alle gestorben sind, auch der junge Mann aus dem Engadin lebt nicht mehr. Er liegt aufgebahrt in seiner Wohnung. Ich bleibe lange neben dem toten Körper stehen. Eiseskälte ist um ihn, ich halte diese Kälte beinahe nicht mehr aus, ich weiss, ich sollte den Raum verlassen, hinausgehen, die Kleider wechseln und endlich das Eispflaster entfernen, aber ich habe keine anderen Kleider bei mir, ich habe überhaupt keine anderen Kleider.
Mit einem Mal steht meine Mutter da. Ich bitte sie, mir von ihren Kleidern zu geben, damit ich in meinen nicht erfriere. Sie reicht mir eine dünne Hose und einen Pullover, ich ziehe sie an und mir wird wärmer. Endlich kann ich das Eispflaster von meinem Rücken entfernen.
Am nächsten Morgen setze ich mich auf die Bettkante, lasse die Beine baumeln, strecke die Füsse aus und schiebe sie zu Mutter in ihre Hausschuhe hinein. Sie sind aus beigem Velours, den die Zeit bereits etwas flachgetreten hat, aber das macht mir nichts aus.
Ich ziehe Mutters Nachthemd aus und ihr weisses Taghemd an. Darin bin ich ihr sehr nah, es ist, als schlüpfte ich in ihre Haut. Dann rede ich Muttersprache, und alle romanischen Wörter und Sätze, die ich vergessen hatte, fallen mir wieder ein: Girumbella vaiv ün giat! Die Magd hat eine Katze, oder Segner güdam! Herr hilf! Ein wenig macht es mir Angst.
An Mutters Taghemd klebt hinten eine weisse Etikette, sie ist im Altersheim aufgebügelt worden, die Ecken der Etikette stehen auf und scheuern wie Krallen meinen Rücken wund. Mutter verbietet mir zu kratzen: Ma glivra da gratter! Hör auf zu kratzen, damit das Taghemd nicht blutig wird. Auf der Etikette steht Mutters Name.
Ich erhebe mich, ohne den Boden mit den Füssen zu berühren, und schlüpfe zu Mutter in ihre Hausschuhe. Sie lächelt: Eau se, ich weiss, schon als Kind hast du dich geweigert, den Boden zu berühren, du bist stets auf den Zehenspitzen herum getrippelt!
Mutters Hausschuhe sind mir eine Nummer zu gross, mit dem Vorderfuss rutsche ich über das Fussbett hinaus, und meine Zehen ragen ins Leere. Ich muss meine Zehen zu Krallen anwinkeln, damit ich sie unter dem Ristband verkeilen kann. Es kostet mich grosse Anstrengung, aber ich will in Mutters Hausschuhen gehen können, weil in Mutters Hausschuhen Mutter mitgeht.
Zusammen treten wir auf den Flur hinaus. Ich höre das unregelmässige Klick, Klack, Klick, Klack ihrer Schritte und ihres Stocks. Hin und wieder wird es von ihrer dunklen Stimme unterbrochen, um den Arthroseschmerz mit einem Fluch zu bannen: Schmaladida merda!
Ich zünde im Flur das Licht an, drehe den Schlüssel des Einbauschrankes, öffne die Doppeltür. Tuch an Tuch hängen darin Mutters und meine Kleider, schmiegen sich aneinander, und die Gerüche von Mutters Blusen und Röcken und meinen Jeans verweben sich, als wären sie ein Geruch und ein Atem.
Unsere Kleider haben kaum Platz im Schrank, aber ich kann meine Kleider nicht entsorgen, ich brauche sie, ich kann aber auch Mutters Kleider nicht entsorgen, es wäre, als würde ich Mutter selbst entsorgen, ich will aber, dass sie bei mir bleibt. Im taubenblauen Sommerkleid mit dem schillernden Glanz, in der rosa Bluse mit der gedeckten Knopfleiste und dem langen Schalkragen. Ich sehe, wie ihre flinken Hände ihn zu einer Schlaufe binden. Oder im wollenen Deuxpièces mit den kleinen Karos, in weinrot, flaschengrün und cognacfarben. Gross ist sie darin, mit breiten Schultern, eine schöne, aufrechte Frau. Mein ganzer Kleiderschrank ist voll Mutter.
Ich steige zu ihr hinein und kuschle mich in die Falten ihrer Stoffe, damit sie mir von ihrer Zeit erzählt. Ich lausche ihrer vertrauten Stimme, und während sie erzählt, entströmen ihren Kleidern in den Gerüchen Erinnerungen, die vor meine Zeit zurückreichen. Ich rieche das Heu an der steilen Wiese, über die sie im Morgengrauen, noch vor Schulbeginn schritt, wäge die grosse Heugabel in der Hand und helfe ihr das Heu wenden. Ich rieche die samtrot reifen Himbeeren im Kessel, den sie aus dem Bevertal nach Hause trug. Ich rieche den Holzstaub in der Werkstatt ihres Vaters, wenn sie Holzspäne zum Anfeuern holen ging, ich werfe die Zipplas in den Ofen, das Feuer lodert auf, und das Knistern verbreitet Geborgenheit. Und immer rieche ich den Schnee, sehe das weisse Wirbeln in jener Nacht, als sie mich das erste Mal in die Wiege legte. Ich rieche Mutters weiten braunen Fellmantel, den Bärenmantel, mit dem sie mich zudeckte, wenn ich krank war, und kuschle mich in die grosse weiche Mutterhülle, kraule mit den Fingern den Pelz meiner Bärenmutter.
Danach ziehe ich Mutters Hausschuhe aus und steige in ihre weich gefütterten Stiefel aus beigem Leder. Sie sind mir zu gross und ich muss mir ein zweites Paar Socken anziehen. Mutter steht schon drin. Ich bücke mich, um den Reissverschluss zu schliessen. Sie bückt sich nicht mehr, sie steht aufrecht und wartet, bis ich den Reissverschluss hochgezogen habe, er klemmt manchmal.
Miteinander verlassen wir das Haus und gehen spazieren. Die frische Luft tut uns gut, der Himmel ist blau, in der Nacht hat es geschneit.
Ich setze Mutters Sonnenbrille auf und sehe die Strassen des Dorfes mit Mutters Augen. Die Leute drehen sich nach uns um, als würden sie Mutter erkennen, und ich lächle. Mutter führt mich in ein tief verschneites Tal, im Engadin gibt es viele tief verschneite Täler im Winter. Die Sonne zaubert glitzernde Diamanten auf die Schneedecke. Es ist gut, mit Mutter zusammen in ihren warmen Stiefeln durch den Schnee zu stapfen. Wenn ich hinter mich blicke, sehe ich Mutters Fussspuren und ich weiss, sie ist da, und ich mit ihr, wir sind zusammen unterwegs.
Ich weiss nicht, wohin Mutter mich führt. Das Tal steigt in vielen Kehren an. Nach einer engen Haarnadelkurve taucht ein kleines Dorf auf oder nur eine Häuseransammlung. Wie wir näher kommen, sehe ich, es sind gar keine Häuser, sondern Erdsäulen, deren Schichtungen sich deutlich abzeichnen: Erde, Steine, Gras und zuoberst Schnee. Auf jeder Säule sitzt ein Mensch im Schnee. Ich bin seltsam berührt, die Leute sind guter Dinge, sie haben ihren Platz gefunden. Auch der junge Mann aus dem Engadin auf der kleinen Säule am Rand.
Mutter führt mich an ihnen vorbei zur nächsten Kurve, die nach rechts in ein enges Seitental hineinführt. Da ist tiefer Winter, es liegt eine Unmenge Schnee, und weit und breit ist kein Haus mehr zu sehen, bloss diese Schneemassen und in der Ferne die weisse Bergflanke, die das Tal verriegelt. Es ist eiskalt, und es beginnt zu dämmern.
Ich habe Angst, Mutter!
Da bleibt Mutter stehen: Alura lascham ir! Dann lass mich gehen.
Ich kann nicht, Mutter, ich gehe in deinen Schuhen.