April 2014

In Gesellschaft

von Aurel Sieber
Jahresthema: Wörter
Monatsthema: Gewerbliche Räume - Amnion - Ergänzung - sich (verbreiten) - beflecken.

Nach der Ansprache stellte sich ein ältlicher Herr mit moussierendem Kelch in zittriger Hand neben mich und fragte beiläufig, am Bücherregal zu unserer Rechten vorbei, ob ich es nicht auch urwitzig gefunden habe. Ich blinzelte, tat, als ob ich nicht recht verstanden hätte, und murmelte dann etwas halbherzig Bejahendes in meinen Bart – halb hoffend, dass es sich dort gleich wieder verfangen möge. Hat je etwas besser den Muff aus diesem Spannteppich getreten als meine Absätze? Leider ist es mir nicht gelungen, meinen ganzen Gram darin zu vergraben. Es blieben einige Fäserchen grün und giftig an meinem  Bein hängen, die sich beim Anblick des vorbeischleichenden Redners so über alle Masse aufbauschten, dass es mir peinlich wurde. Zu allem Überfluss schienen die dick aufgeschwollenen Gramfasern einen leicht fauligen Geruch zu verbreiten. Ich entschied mich kurzerhand, meinen Humor an den grünen Fasern nagen zu lassen. Doch dieser war schon längst bei den Damen. Seinen fuchsig roten Schwanz legte er eben um den Hals einer auffallenden Schönheit, die in schallendem Gelächter den Atem zu verlieren drohte. Fürchterliche, krampfartige Schmerzen zuckten inzwischen durch meinen Unterleib, und Eiter befleckte den niedergetrampelten Teppich. Vom Humor war nichts mehr zu sehen. Er war wohl bereits in die hinteren Zimmer verschwunden. Ein Weg, der mir leider versperrt bleiben würde, zu schwer war mir das Bein geworden. Ich blieb also an meinem Platz vor dem Bücherregal stehen und trank. Der ältere Herr hatte sich, nicht ohne einen flüchtigen Blick auf mein Bein zu werfen, wieder empfohlen. Um meine Einsamkeit etwas zu überspielen, griff ich wahllos ins Regal. Das Lehrbuch der Hebammenkunst in meinen Händen wollte mir sogleich etwas über ein Amnion erzählen, aber ich las nicht recht hin. Ich dachte mir noch, dass auch Sokrates eine Hebamme war, da fiel mir plötzlich auf, dass ich gar nichts mehr roch; vielleicht hatte ich mir das vorher in einem Anflug von Panik auch nur eingebildet. Das Grün an sich konnte ausserdem kaum störend ins Auge fallen; farblich stellte es sogar eine pointierte Ergänzung zu meinem übrigen Äusseren dar – ein Blick in die versammelte Runde bestätigte mir, dass Grün ohnehin en vogue zu sein schien. Ich entspannte mich also leicht und klappte das Hebammenbuch mit einer gewissen Befreiung zu. Dabei musste jedoch ein hauchdünnes Gramfäserchen in meine Nase gewirbelt worden sein, denn urplötzlich begann es ungemein bösartig darin zu reizen. Ich spürte, wie es sich auf meinen Schleimhäuten rasend schnell fortpflanzte, wie sich der Gram in mir ausdehnte und nach kurzer Zeit die Überhand zu ergreifen drohte. Die Fasern an meinem Bein wiesen bereits einen Stich ins Violette auf. Es gab kein Entrinnen mehr. Ich musste mir den Gram aus dem Leibe niesen – und zwar schnell. Leider gab es in diesen biederen Zimmern, denen man ihre Vergangenheit als gewerbliche Räume – vermutlich eines Bestattungsinstituts – noch allzu gut ansah, nur gedämpftes Licht. Ich musste andere Wege finden, meine Schleimhäute zusätzlich zu reizen. In meiner Verzweiflung wandte ich mich wieder zum Regal, griff nach kurzem Blick das verstaubteste aller Bücher heraus und versenkte unumwunden meine Nase darin. Tief inhalierend zog ich mir eine Linie gut abgestandenen Bücherstaubs weit in die abgelegenste meiner Nebenhöhlen hinauf. Für den Bruchteil einer Sekunde, in der sich die Zeit jedoch eigentümlich träge anfühlte, stand ich völlig paralysiert vor einer entgeisterten Zuschauerschaft, bevor ich dieser den angestauten Gramfaserrotz mit Leibeskräften entgegen schleuderte. Auf einmal verstand ich, was mein Vater jeweils meinte, wenn er von dem Reiz sprach, den die verstaubten Klassiker auf ihn ausübten. Es graute mir bereits vor den Folgen meines eigentümlichen Gebarens, als plötzlich Schreie aus den hinteren Zimmern drangen, die mit hoher Wahrscheinlichkeit auf den sich kurz darauf bemerkbar machenden Rauch zurückzuführen waren. Es war mir nun ein Leichtes, mein Bein in den herbeiströmenden Menschenmassen zu verbergen. Ausserdem war man durch den Tumult derart zerstreut worden, dass mein sonderlicher Auftritt bereits wieder vergessen schien. Als ich schliesslich durch das Gewirr verstörter Beine erspähte, wie sich mein Humor eben daran machte, zwei seidenbestrümpfte, ausnehmend grazile Fesseln zu umschwärmen, schien mir der Abend vollends gerettet. Nur das brennende Hinterzimmer drängte sich noch etwas auf.