In Lissabon
Lissabon kostet ein ganzes Leben.
Ich habe meine Sonnenbrille auf und nehm sie nie wieder ab. Ich habe die Schnürsenkel offen und geh hier niemals wieder weg. Ich habe einen Sonnenbrand und werfe meinen Schatten zu Boden. Ich habe ihn besiegt und schenke ihm das Leben. Geh, du bist frei, flüstere ich und grinse einer alten Dame ins Gesicht, die aufgrund dieser unerwarteten Zuwendung so sehr erschrickt, dass sie auf ihren Hund tritt (und ihn platt macht. Sie verschenkt ihn an der nächsten Straßenecke als Poster an einen kleinen Jungen, der an einer Katzenallergie leidet).
Der Anfang dieser Geschichte: Ich liebe diese Stadt, sage ich zu Bettina. Ich fahre fort: Ich mag diese Stadt, ich kann diese Stadt leiden, ich kann sie ertragen, ich dulde sie, ich find› sie absolut okay. Dann kehre ich zurück: Weißt du, ich glaube, ich liebe diese Stadt einfach. Oder mehrfach, lacht Bettina. Die Sonne lacht auch. Die Stadt kann sich keine Witze merken und lächelt nur freundlich.
Wir sind auf der Suche nach einer Bleibe. Deshalb klappern wir die Hotels ab, die durch ein ungünstiges äußeres Erscheinungsbild die Hoffnung auf umso günstigere Zimmerpreise nähren. Für solche Absteigen muss man meistens bis in den vierten Stock hinaufsteigen, denn dort oder noch höher haben sie sich in den alten renovierungsbedürftigen Häuser eingenistet. Ich überlasse es Bettina, via Gegensprechanlage mit den Portiers zu verhandeln. Wir sprechen beide kein Portugiesisch und ich zudem nicht gerne Englisch in front of someone, of whom i know, that he can do this better as I. Während sie das also besser kann als ich, stehe ich inmitten einer Postkarte, die man sowohl Eltern, als auch Freunden schicken kann. Auf der gegenüberliegenden Straßenseite singt eine Regenschirmverkäuferin vom Regen, während auf meiner Seite ein kleines Mädchen einen Dalmatiner spazieren führt, dem die Zunge aus dem Maul hängt, weil es so heiß und trocken ist.
Lissabon knüpft Knoten, verbindet das Klopfen, durch das Pflastersteine verlegt werden mit den Schritten der Passanten, bündelt die vier Himmelsrichtungen zu einer Einbahnstraße und macht den Verlauf des Tages zum Sinn des Lebens.
Wir gehen weiter. Manchmal fahren wir in einem engen Aufzug nach oben und nehmen eines der Zimmer in Augenschein. Obwohl wir es dann ganz und gar nicht schön finden, ist es immer noch zu teuer. Wir fahren wieder hinunter und gehen weiter. Das Gepäck wird immer schwerer. Die Menschen sind bunt und gleichzeitig elegant. Lissabon ist eine ehrwürdige Stadt, sage ich, weil ich so etwas noch nie gesagt habe.
An einer Straßenecke steht ein Automat, aus dem man sich Pommes frites herauslassen kann. Ich würde das gerne ausprobieren, habe aber keinen Hunger. Bettina auch nicht. Ich frage mich, wessen Rucksack schwerer ist. Meiner ist schwer wie ein Sarg. Meiner auch, sagt sie.
In meinem liegt schon jemand drin, behaupte ich. Als sie sagt, dass in ihrem ein kapitaler Schwerverbrecher liege, lasse ich es dabei bewenden, immerhin ist sie eine Frau und eine Frau, die schwer tragen muss, trägt einfach schwerer als ein Mann. Ich mache einen Witz über Kakerlaken im Zimmer, das wir noch gar nicht haben. Und habe Durst.
Ob es wohl schwer ist, hier an Drogen zu kommen, fragt Bettina. Ich weiß es nicht. Ich formuliere Endorphinsätze in meinem Kopf, um mich von den Schmerzen in meinem Rücken abzulenken. Vier Wochen Gepäck auf den Schultern und ich kann es nicht mal einen halben Tag lang tragen. Da vorne fragen wir jetzt noch, sagt Bettina. Wenn das dann wieder nichts ist, gehen wir zurück zu der Frau mit der Hakennase, dann ist es mir scheißegal, dann zahlen wir eben fünfundvierzig Euro für die Nacht. Und morgen suchen wir uns dann was anderes.
Genau, sage ich.
Ja, sie hätten noch ein Doppelzimmer frei und es koste achtundzwanzig pro Nacht. Ich muss lächeln. Natürlich nehmen wir das Zimmer, das uns sogar gefällt, obwohl es klein ist und etwas schäbig wirkt; aber es ist sauber, von ein paar verstaubten Spinnweben an der Decke mal abgesehen. Blümchentapeten. Kleine gerahmte Bilder mit Schiffen. Geruch nach alten Röntgenbildern.
Das Vorgeplänkel ist vorbei. Ich bin in der Stadt, die ich mir einbilde. Und ich bin wirklich müde. Wie spät ist es eigentlich? Auch Bettina ist erschöpft und kann den Arm nicht heben. Ich gehe auf den winzigen Balkon, auf den kein Stuhl passen würde und gucke hinunter auf die Straße. Drunten, vier Stockwerke tiefer, gehen Menschen kreuz und quer, fast alle Männer tragen Hüte. Ich mache einen Schritt zurück und stehe wieder in unserem Zimmer.
Da ist es 14 Uhr 23.
Ich nehme das linke Bett, Bettina das andere. Ich muss mich ausruhen, unbedingt ausruhen, sage ich. Ich trinke aus dem Wasserhahn, ziehe die Schuhe aus und lege mich auf ihr Bett. Sie legt sich auf meines. Ich schraube meinen Kopf ganz fest ins Kissen. Dieses Zimmer ist jetzt das Zentrum der Welt, sage ich. Wenn es dunkel ist, rauchen wir Zigaretten und lassen die Spitzen glühen wie Augen. Wir schauen uns an. Bettina sagt: Lass uns sehen, wer länger die Augen schließen kann, ohne einzuschlafen. Okay, denke ich.
Ich höre die Autos auf der Straße. Ich liege in einer Tüte Salbeibonbons. Ich möchte wetten, das Zimmer ist ganz grün, wenn ich die Augen öffne. Aber ich halte sie geschlossen, lausche dem gleichmäßigen Atmen, das vom anderen Bett herüberkommt. Ein großer roter Fisch schwimmt vorbei und wirft einen Blick in meine Achselhöhle. Ich wickle mich fester in die Decke, höre meine Mutter nach der Rechnung schreien.
Ich rede viel, rede so viel, dass ich sogar davon rede, dass ich zuviel rede. Ich steh jetzt still, ich kann nämlich auch ruhig sein, sage ich und renne einer Straßenbahn hinterher. Halleluja, schreien die Kapitäne der Gorch Fock.
Ich war weg und bin zurück, dechiffriere Buchstabenreihen und frage mich, was wohl zuerst da gewesen ist: der Regen in Brailleschrift auf der Haut, auf der Netzhaut, dem Trommelfell, um den Rufen der Schirmverkäufer einen Sinn zu geben? Oder eben diese Rufe selbst, Neuübersetzung des Regens in Erinnerungsstücke, kleine Scheine, nicht nummeriert?
Als liefe Bettina immer noch das Wasser in dünnen Rinnsälen aus den Mundwinkeln. Als seien wir gerade noch eben so dem Tod durch Ertrinken entronnen. Als hätte nicht viel gefehlt, nur ein paar Fische mehr vielleicht, um mit ihren Leibern die Masse des Wassers zu verdrängen, sodass der Pegel nur ein kleines Stückchen höher gewesen wäre, höher vielleicht, als wir hätten schwimmen können.
Es regnet, denke ich. Und dann weiß ich, es ist das Meer. Das Meer, das von oben auf die Stadt herab fällt. Das Meer verfolgt uns, es kommt mit uns, ist hinter uns her, seit wir heute morgen von der Küste her angereist sind. Nun hat es uns eingeholt und fällt herunter, in die Ritzen der Gehwege, auf die vollgetankten Autos und in die Münder der Zahnlosen. Das Meer verfolgt uns, denke ich, fällt auf uns hernieder. Und der Gedanke gefällt mir. Ich schlafe links und rechts an ihm vorbei in die blaue Landschaft aus Postkartenständern. Als mir Flossen wachsen, verschluckt der Wal sich mit einem Mal am falschen Ende. In einer Prozession aus der anderen Richtung der Geschichte kommt mir das Meer als Blaskapelle entgegen und biegt genau in unsere Straße ein. Ein Klagelied wird zum Hit des Sommers. Majestätisch kommt das Meer heran, proletarisch ist es dann da.
Ich gehe auf den Balkon und liebe diese Stadt, liebe diese Stadt, liebe. Und am Himmel fliegt ein Dalmatiner, an einer Leine ins Nichts gezogen, dem Regen entgegen. Als Luftballon bleibt ein kleines Mädchen weinend zurück. Das Meer ist ein Urlaubsprospekt aus einem Wort wie Lücke. Es regnet in das Licht des Nachmittags hinein und nur die vorletzte Zeile einer bereits vergessenen Geschichte bleibt staubtrocken.
Bettina steht hinter mir und sagt: Mir fehlt die Spannung. Ich habe das Gefühl, dass du überhaupt nicht daran denkst, dich in mich zu verlieben.
Wellen der Ernüchterung. Das vierte Stockwerk ist jetzt das dritte. Unten wartet das Meer auf den Aufzug.