September 2017

In Ordnung

von Marisa Liehner
Jahresthema: Erste Sätze
Monatsthema: «Am Anfang stellt man vielleicht eine Faustregel auf.» (Jens Nielsen, Flusspferd im Frauenbad, Der gesunde Menschenversand)

Am Anfang stellt man vielleicht eine Faustregel auf.

Und die Faustregel ist unzureichend und unpräzise, und das Chaos nimmt überhand.

So beschliesst man: Es werde Ordnung. Und es wird Ordnung.

Man sieht, dass die Ordnung gut ist. So trennt man Ordnung und Unordnung, zwei Kategorien, die nun alles auf der Welt aufteilen.

Daliah hält unverrückbar an diesem Weltbild fest. Sie sitzt in der Schule (ganz hinten, von wo aus sie alles im Blick behalten kann) und sortiert im Geiste ihre Mitmenschen.

Tim? Ordnung.

Sarah? Unordnung.

Jule? Unordnung.

Der Lehrer? Ebenfalls Unordnung. Seine Ordner und Hefte liegen wild verteilt vorne auf dem Tisch. Irgendwo dazwischen hat sich wohl ein Kreidestück verirrt, denn sie sieht die pulverigen Spuren, die das Blau hinterlassen hat.

Daliah senkt die Augen auf ihr eigenes Pult. Genau drei Stifte sind akkurat am oberen Rand aufgereiht. Darunter liegt ihr Heft, aufgeschlagen und glattgestrichen.

Es klingelt zur Pause. Während alle aufgeregt aufspringen, um draussen unter kitzelnden Sonnenstrahlen zu spielen, steht Daliah langsam und gesittet auf. Sie will die Ordnung nicht zerstören. Und sie will auch nicht in die Unordnung der Anderen geraten.

Draussen steht sie alleine da; ihre Hände umklammern fest ihre Vesperdose, in der ein spärlich belegtes Sandwich liegt. Es ist diagonal zerschnitten.

Plötzlich kommt vom Pausenhof ein Fussball angeschossen. Daliah schreit kurz auf. Dose und Sandwich landen auf dem Boden. Brot und Belag haben sich aus ihrer geordneten Form befreit.

„Sorry, Daliah.“ Ein Junge mit zerzausten Haaren ist herangetreten und blickt auf die Sauerei zu ihren Füssen. „Wenn du willst, kannst du mein Pausenbrot haben. Ich habe keinen Hunger.“ Er deutet unbestimmt hinter seinen Rücken.

Daliah atmet tief ein und geht einen Schritt zurück. Dann sagt sie: „Nein danke.“

Es klingelt zum Unterricht. Erleichtert tritt Daliah den Rückzug in ihre Klasse an.

Sie kennt den Jungen mit den zerzausten Haaren. Jonas heisst er, und er ist in ihrer Parallelklasse. Auch er ist Teil der Unordnung, ein besonders grosser Teil dazu. Manchmal vergisst er sogar seine gesamte Schultasche. Daliah kann darüber nur den Kopf schütteln. Sie hofft, mit ihm nicht wieder in Kontakt treten zu müssen. Die Verunstaltung ihres Pausenbrots ist schlimm genug gewesen.

Am nächsten Tag, in der nächsten Pause, ist er auf einmal wieder da. Jonas steht vor Daliah und streckt ihr eine Tüte Gummibärchen hin. „Als Wiedergutmachung.“

Sie schüttelt den Kopf. „Behalte deine Unordnung für dich.“ Die bunten, durcheinandergewürfelten Farben der Gummibärchen tanzen vor ihren Augen.

„Ach, komm. Die sind nicht giftig. Ich habe sie ja noch nicht einmal angefasst!“

In der zweiten Pause ist er wieder da. Dieses Mal ohne Süssigkeiten. Er lehnt sich einfach neben Daliah an eine Säule und beginnt zu reden.

„Findest du es eigentlich nicht langweilig, immer nur hier zu stehen in den Pausen? So ganz alleine? Ich glaube, ich habe dich noch nie mit jemandem reden sehen…Obwohl, einmal kurz mit Tim. Aber das ist auch schon wieder eine Weile her. Weisst du, ich könnte das ja nicht. Meine Mama sagt immer, es wäre ein Wunder, wenn ich mal ruhig bin.“

Die Minuten vergehen quälend langsam, während Jonas seine Lebensgeschichte darbringt. Daliah steht stumm und starr daneben. Fast frenetisch spaltet sie alles, was sie sehen kann, in Ordnung und Unordnung auf. Sie kann sich gegen den Wortschwall ihres Mitschülers jedoch nicht wehren. Immer wieder schnappt sie Dinge auf, die ihr erklären, was in seinem Kopf vorgeht.

Auf dem Weg in die Schule fragt sich Daliah, ob Jonas ihr heute wieder Gesellschaft leisten wird. Es ist gar nicht so schlimm, wie sie anfangs gedacht hat. Solange er immer einen Sicherheitsabstand währt, ist ihre Ordnung nicht gefährdet. Sein Geplapper hält zudem das Geschrei vom Pausenhof von ihr fern.

Doch als sie an der gewohnten Stelle steht, bleibt sie allein. Sie klammert sich an ihr Pausenbrot. Die Hälfte der Pause ist vorbei, als Jonas schliesslich auftaucht. Missbilligend nimmt Daliah von dieser schlechten Organisation Notiz. Da streckt er ihr wieder seinen Arm entgegen, auf der Handfläche eine Tüte mit Gummibärchen. Erst will Daliah wieder zurückweichen, aber sie erkennt eine Abweichung der Norm. Die Gummibärchen in der Tüte sind nicht wie sonst bunt durcheinandergewürfelt. Sie sind farblich geordnet.

Erst Grün, dann Weiss, dann Gelb, dann Orange, dann Rot.

„Ich dachte, so gefallen sie dir vielleicht besser.“

Daliah lächelt Jonas zum ersten Mal an, als sie die Süssigkeiten entgegennimmt.