Dezember 2016

Instrumente

von Merja Silferberg
Jahresthema: Musikstück
Monatsthema: Frédéric Chopin, Nocturne in e-Moll, Op. 9, No. 2.

Die sanften Töne der Nocturne von Frédéric Chopin wurden durch die offene Balkontüre zu mir getragen, und die Moll-Klänge versetzten mich in eine nachdenkliche Stimmung. Ich atmete aus und schaute der Wolke des Zigarettenrauches nach, als diese über das Balkongeländer und hinaus über die Stadt geweht wurde. Die Autos und die Leute sahen winzig aus von hier oben, im einundzwanzigsten Stock dieses Penthouses, und ich beobachtete sie, wie sie geschäftig wie Ameisen ihren Pflichten nachgingen. So weit oben war der Lärm der Stadt nur noch schwach und wurde ganz von deinem Klavierspiel übertönt. Ich habe mich schon oft gefragt, wie du dir dieses Apartment leisten konntest, doch ich fragte nie, denn ich wusste du magst keine Fragen. Ich schnipste die abgebrannte Zigarettenasche in den Aschenbecher neben mir auf dem Geländer und schaute durch die grosse Fensterfront zurück in die Wohnung, wo du am Klavier sassest. Opus 9, Nummer 2 war schon immer dein Lieblingsstück gewesen, oder ich hätte dich nie ein anderes mit dieser Leidenschaft spielen sehen. Auch jetzt, wie du dasassest, die Augen geschlossen, die Stirne in nachdenklichen Falten, so angespannt und ruhig zugleich. Deine Finger bewegten sich über die Tasten, als wären sie nur dafür gemacht worden. Ich nahm einen weiteren Zug von der Zigarette und inhalierte den Rauch tief, genauso wie deine Musik. Ich versuchte vergeblich, nicht an gestern Nacht zu denken, als deine Finger so über meinen Körper glitten, wie sie es jetzt mit den Tasten vor dir taten und ich fragte mich, welche dieser Töne dir wohl lieber waren. Gerade als die Melodie einen Aufschwung nahm, fuhr ein kalter Windstoss durch meine Haare und ich zog meinen Mantel enger um mich. Doch ich wusste, dass die Kälte nicht nur von aussen kam. Jede Nacht wie die letzte hinterliess am nächsten Morgen einen kalten Nachgeschmack. Ich schaute nach oben, zu den Wolken, die grau den Himmel bedeckten und alles in eine trübe Stimmung hüllten. Ich blies den Rauch zu ihnen hoch und schaute zu, wie er sich in ihnen verlor. Manchmal wünschte ich, ich könnte es ihm gleichtun, mich einfach davontragen lassen und vergehen. Mich mit der sanften Melodie vom Wind fortwehen lassen, weg von diesem Balkon, dieser perfekten Wohnung, von dir und deinen kalten rauen Händen. Ich schnippte weitere Asche von der Zigarette, doch dieses Mal nicht in den Becher, sondern über das Geländer hinaus. Ich schaute ihr nach, wie sie nach unten fiel und immer schneller wurde. Ich lehnte mich über das Geländer, um ihr so lange wie möglich nachzusehen und spürte, wie die Schwerkraft an mir zog. Es wäre so einfach, ihr zu folgen. Die Musik stockte leicht, als würden die Töne zögern. Ich kannte diesen Teil des Stücks, er war mir immer schon aufgefallen, denn ich fand, dass er nicht ganz zum Rest passte. Ich verharrte und konzentrierte mich ganz auf das Klavier. Doch schon nahm die Musik ihren vertrauten Rhythmus wieder auf und die Melodie zog sich fort, als wäre dieser Unterbruch nie geschehen. Ich hatte die Asche aus den Augen verloren und richtete mich wieder auf. Meine Augen suchten deine und unsere Blicke trafen sich. Deine Lippen deuteten ein Lächeln an, bevor du dich wieder ganz den Tasten widmetest. Ich wusste nicht, ob du mich beobachtet hast. Ich fragte nicht. Ich drückte die Zigarette im Aschenbecher aus, bis keine Glut mehr übrig war. Die Handlung hatte etwas Endgültiges. Ich trat zurück in die Wohnung und schloss die Türe hinter mir.