September 2020

Jesus im Bade

von Colin Müller
Jahresthema: Klima- und andere Katastrophen
Monatsthema: «Es ist unsinkbar!» (Zitat aus Titanic)

Ausnahmsweise hat die Jury zwei Texte prämiert: «Jesus im Bade» von Colin Müller und «Und danke für den Fisch» von Andrin Albrecht. Sie erfüllen beide das vorgegebene Thema auf originelle Weise. Sie zeigen beide auf kurzweilige Art, dass in Geschichten Ernst und Witz, Leichtigkeit und Schwere in verschiedener Gewichtung Platz haben können. Wo der eine Text noch frecher ist, besticht der andere durch eine erfrischend souveräne Sprachgestaltung. Wo der andere ein Grossereignis mit einigen Lichttupfern eindrucksvoll beleuchtet, nimmt sich der eine Text ein einzelnes Ereignis zwischen zwei Figuren vor und konzentriert sich dialogisch darauf, man könnte sagen auf lakonisch provokante Art. Es kommt öfters vor, dass sich die Jury schwer tut, zwischen zwei Finalisten zu entscheiden, es aber regelkonform dennoch tut. Diesmal tat sie sich nicht schwer, die Regelung zu brechen. Gerne stellen wir beide Texte der gesamten Sammlung von Gewinnern dieses Jahres zur Verfügung, zum ermunternden Vergleich.

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Wir schreiben das Jahr 2028. Um zu resümieren, was in den letzten acht Jahren passiert ist, müsste ich mehrere dicke Lexika füllen. Oder eine Viso-Disk, durch die man sich selbst nach einem Jahr ununterbrochenen Konsums noch nicht durchgeblinzelt hätte. Ganz banal ausgedrückt: Es ist sehr, sehr, sehr viel passiert.

Aber ich glaube unter all den verrückten Dingen, die in den wilden Zwanzigern über die Bühne gegangen sind – die Welt als Bühne eines absurden, avantgardistischen Theaters zu beschreiben, ist in diesem Falle viel weniger metaphorisch gemeint, als man meinen könnte – verdient ein Ereignis spezielle Beachtung. Und ich glaube nicht, dass es daran liegt, dass ich selbst Protagonist dieser Geschichte bin, es geht hier nicht im Geringsten um Selbstverherrlichung oder einen Anspruch meinerseits, für die Nachwelt festhaltungswürdiger zu sein als all die anderen; aber ich glaube, wenn Ihnen eines unscheinbaren Tages Jesus fluchend in der Badewanne begegnet wäre, dann würden Sie diese Geschichte auch festhalten. Noch viel mehr, wenn es Ihnen niemand glaubt; und auch damals nicht geglaubt hat. Oder es Ihnen einfach egal war. Ich weiss es nicht. Sie müssen jetzt gar nicht den Kopf schütteln oder die Augen verdrehen. Ich weiss, dass ich ein wenig wahnsinnig bin; aber ein Spinner bin ich nicht. Bleiben Sie also bitte bei mir, hören Sie sich meine Geschichte an und entscheiden Sie dann, ob ich wirklich ein Spinner bin oder nicht. Einverstanden? Wunderbar. Dann können wir ja sofort loslegen.

Es war der 16. September 2028; ein Tag, den ich nie vergessen werde. Ausser, wenn ich sterbe natürlich. Wenn wir niemals sagen, schliessen wir den Tod sowieso immer aus. Wir könnten ihn ja aus Versehen beschwören, wenn wir ihn beim Namen nennen. Dabei kennt eigentlich niemand seinen Namen; Gevatter Tod, du namenloser Schrecken. Ich stelle mir immer vor, dass er Ferdinand oder Jonathan heisst. Fragen Sie mich nicht, wieso. Aber ich schweife ab. An einem Montag ist es passiert. An einem Montag, der wie immer zu dieser Zeit von Todeszahlen, Meldungen von Katastrophen und bald ausbrechenden Kriegen dominiert wurde. Ein normaler Montag also. Ich ging, als braver, rechtschaffener Bürger trotz den Umständen meiner Arbeit nach. Die Arbeit bestand darin, Feuerwehr-Drohnen fernzusteuern und Brände, zu dieser Zeit vor allem ständig ausbrechende, hartnäckige Waldbrände, zu löschen, oder gar im Keim zu ersticken. Der Kollege von nebenan war für die Sensorplatzierung und Datenaufnahme zuständig. Der gute, alte Stefan. Möge er eine bessere Welt gefunden haben; eine, die noch in heilem Zustand ist. Ich war also in meiner Schaltzentrale und habe einen ungewöhnlich ruhigen Morgen verbracht. Schon fast, als wäre die Welt plötzlich wieder in Ordnung. Ehrlich gesagt, hätte ich da schon Verdacht schöpfen sollen, dass mich noch einiges erwarten würde. Ich habe dann also zu Mittag gegessen, bin wieder zur Arbeit zurückgekehrt und habe dann etwas früher als gewohnt Feierabend gemacht; ich hatte nach langer Zeit endlich wieder jemanden kennengelernt. Ich bin also nach Hause gegangen, um mich ein wenig frisch zu machen. Und wo macht man sich frisch? Genau, im Bad. Schon von draussen hörte ich, wie jemand fluchte. In meiner Wohnung. Eine erste Angst machte schnell einer irrationalen Wut Platz. Ich war wütend, weil es tatsächlich jemand gewagt hatte, in mein Haus einzudringen, genau an dem Abend, an dem ich nach monatelanger Trockenheit endlich wieder mal ein Date hatte. Energisch trat ich also an meine Wohnungstür und prallte unsanft dagegen. Sie war verschlossen. Die einzige Tür, die in mein Apartment führte. Mein Apartment im 14. Stock. Die Wut wich einer Irritation. Hatte ich einfach den Realitäts-Generator laufen lassen? Nein, das hätte ich am Morgen gemerkt. Ich schloss also die Tür auf und ging langsam in meine Wohnung hinein, schaute um jede Ecke, wie in den alten Spion-Filmen. Die Geräusche kamen aus dem Bad. Ich griff nach dem metallenen Schuhlöffel und stiess die Tür auf. Ein Mann in weisser Robe, mit sandbrauner Haut und langen, dunklen Haaren, lag in meiner Badewanne. Er lag aber nicht im Wasser. Er lag auf dem Wasser wie auf einer Matratze und fluchte lautstark vor sich hin. Es fiel mir erst im zweiten Moment auf, dann dafür um so stärker; es stank zur Hölle. Oder eher himmlisch. Der Mann in der Badewanne hatte mich noch nicht wahrgenommen.

«Wer sind Sie und was machen Sie hier?», schnauzte ich ihn an. Tief in mir drin wusste ich, wer er war. Was er wollte, war mir nicht klar.

«Ich will bloss ein Bad nehmen», antwortete er.

«Warum hier?», fragte ich zurück.

«Weil du anscheinend genau unter mir wohnst.»

«Hast du keine eigene Badewanne?»

«Nein, die ist kaputt.»

Ein kurzes Schweigen stellte sich ein. Noch immer sass der Fremde und doch so bekannte Mann in meiner Badewanne. Er sass auf dem Wasser. Seine Robe war trocken. Schliesslich hielt ich es nicht mehr aus; ich musste mich vergewissern, weil ich mir sonst mein Leben lang Vorwürfe machen würde, dass ich nicht gefragt hatte.

«Bist du Jesus?», fragte ich.

«Ja», war alles, was er mir als Antwort gab. Aber es reichte mir. Ich akzeptierte es. Im Jahre 2028 stellte man keine weiteren Fragen auf solche Aussagen. Ich setzte mich erschöpft auf den Wäschekorb. Mein Date hatte ich zu diesem Zeitpunkt völlig vergessen. Nicht, dass es ungewöhnlich war, dass ich Dinge vergass, aber in diesem Falle war es doch erstaunlich.

«Du stinkst», sagte ich. Ich hatte einen tiefen Atemzug genommen, in der Hoffnung, dass es mich beruhigen würde. Stattdessen atmete ich den strengen Geruch von altem Schweiss, nassem Hund und billigem Rotwein ein. Ich hielt mir die Nase zu.

«Warum denkst du, will ich ein Bad nehmen?», schnauzte mich Jesus an.

«Dann geh endlich ins Wasser», antwortete ich genervt.

«Ich kann nicht!», schrie Jesus verzweifelt. «Seit ich damals übers Wasser gegangen bin, stösst mich alles Wasser ab.» Er erhob sich und stand auf der Wasseroberfläche, vollständig trocken. «Schau», sagte er und begann auf und ab zu springen. Bei jedem Sprung fürchtete ich, dass er platschend ins Wasser eintauchen, auf dem porzellanenen Badewannenboden ausrutschen und sich am Rand der Wanne das Genick brechen würde. Kurz vor der Wasseroberfläche blieb er jedoch immer stehen, als wäre eine unsichtbare Glasscheibe dazwischen.

«Stell dich nicht so an», sagte ich und griff nach dem Plastikeimer in der Ecke, den ich schon lange in den Keller hatte stellen wollen. Ich tauchte ihn ins Wasser, bis er halb voll war und kippte ihn ohne Vorwarnung über Jesus’ Kopf. Das Wasser perlte von ihm ab, als wäre er von einer unsichtbaren Schutzschicht umgeben.

«Hast du deinen Vater um Hilfe gebeten?», fragte ich.

«Mein Vater ist tot», sagte Jesus.

«Das tut mir leid.»

«Der alte Sadist hat so viele unschuldige Menschen sterben lassen, mich eingeschlossen, also geschieht es ihm recht», meinte Jesus schulterzuckend und stieg aus der Badewanne. «Hilf mir, einen Weg zu finden, wie ich mich waschen kann.»

Ich zögerte. «Ich hab eigentlich schon etwas vor heute Abend.»

«Ich bitte dich!», flehte Jesus. «Ich kann so nicht leben. Überall, wo ich auftauche, denken die Leute, ich sei ein Obdachloser. Bitte, hilf mir.»

«Na gut», gab ich nach.

Ich sagte also mein Date ab. Rückblickend muss ich sagen, dass meine Ausrede vermutlich nicht die beste war und womöglich erklärt, warum sie nicht ein anderes Mal mit mir ausgehen wollte. Ich könne nicht kommen, weil mir Jesus erschienen sei, stellte sich nicht als die beste Wortwahl heraus.

«Was hast du denn bereits alles probiert?», fragte ich Jesus.

«Alles.»

«Hast du schon versucht, dich in einer Tauchkapsel einige Meter unter Wasser bringen zu lassen und dann auszusteigen?»

«Kennst du Moses?»

«Ja.»

«Dann weisst du, was passiert ist.»

«Die unerklärliche Flutwelle an der Küste vor einigen Tagen, das warst du?»

Jesus nickte niedergeschlagen.

«Ich brauche Alkohol, um kreativ denken zu können. Lass uns zum Löwen gehen und ein Glas Wein trinken», sagte ich.

«Wenn du meinst», antwortete Jesus.

Geistesgegenwärtig griff ich nach meinem Parfüm und verpasste Jesus einige Sprühstösse. «Fürs Erste muss das reichen.»

«Danke», sagte Jesus.

Kurz darauf sassen wir also im Löwen. Jesus eingehüllt in seine Robe und eine Wolke aus Parfüm, aus der immer wieder der darunterliegende Gestank hervorbrach.

«Wie wäre es, wenn du dich mit etwas waschen würdest, das nicht Wasser ist?», fragte ich.

«Zum Beispiel?»

«Keine Ahnung», antwortete ich. «Ich denke bloss laut.»

Als der Kellner kam und unsere Bestellung aufnehmen wollte, unterbrach mich Jesus vehement, als ich Wein bestellen wollte und bestellte stattdessen zwei grosse Gläser Wasser.

«Ich brauche Alkohol», sagte ich verwirrt.

«Nur keine Sorge», antwortete Jesus.

Wir schwiegen beide und lauschten der schlechten Musik, die jemand auf der Musikbox an der Wand gewünscht hatte. Es gab so viele Fragen, die ich Jesus hätte fragen können, aber ich war so eingenommen von der Frage, wie es mir gelingen könnte, Jesus zu waschen, dass ich Fragen nach dem göttlichen Ursprung, dem Himmel und der Hölle, der Aufgabe des Menschen und die Meinung Gottes zu den Schandtaten, die die Kirche in seinem Namen über die Jahrhunderte hinweg angestellt hatte, völlig vergass.

«Seifenschaum geht auch nicht», sinnierte ich vor mich hin.

Endlich kamen die Getränke. Zwei enttäuschende Gläser Wasser.

«Wasser trinken kannst du?», fragte ich neugierig.

«Ich weiss es nicht», antwortete Jesus und gab beiden Gläsern einen sanften Stoss mit seinem Zeigefinger. Das Wasser färbte sich rot.

«Bitte sehr. Jahrgang 00, gepresst am Tag meiner Kreuzigung», sagt er beiläufig und hob den halben Liter Wein, der in seinem Wasserglas schwappte.

Ich hob mein Glas ebenfalls, verdutzt, erinnerte mich dann aber daran, dass Jesus solche Wunder bewerkstelligen konnte. Halber Liter Wein traf auf halben Liter Wein. Wir tranken. Das alles mag jetzt irgendwie banal und beinahe lächerlich klingen, dass alles, was mir in den Sinn kam, was ich mit Jesus tun könnte, Alkohol in einer Bar trinken war. Aber eben: Im Jahre 2028 passierte so viel, dass man sich keine kreativen Gedanken mehr machen konnte, oder wollte, was man weiterhin tun konnte. Normalerweise ergab es sich von selbst, indem eine weitere Katastrophe alle Pläne im Keim erstickte.

«Wer herrscht jetzt im Himmel?», fragte ich nach einer Weile.

«Niemand. Die Engel weigern sich, mit mir zu arbeiten.»

«Wegen deinem Geruch?»

Jesus nickte. «Sie sind sehr reinlich, die Engel.»

«Ich verstehe. Deshalb geht momentan alles schief.» Ich schwieg für eine Weile. «Hast du es schon mit Weihwasser versucht?», fragte ich schliesslich.

«Weihwasser?», wiederholte Jesus fragend.

«Heiliges Wasser, geläutertes Wasser», fügte ich hinzu.

«Es ist immer noch Wasser», meinte er schulterzuckend. «Bloss, weil ihr hier unten etwas zeremoniell anfasst, ändert das nichts.»

«Willst du alles wieder geraderücken?», fragte ich.

«Ja. Gut riechen würde ich auch gerne.»

«Du könntest nochmal für unsere Sünden sterben.»

«Um all eure Sünden zu vergelten, müsste ich einmal täglich sterben.»

«Verstehe. Waschen ist also die einzige Möglichkeit.»

«Ja.»

Wir tranken beide. Mir fiel in diesem Moment auf, wie viel ein halber Liter Wein eigentlich war.

«Wir können uns auch einfach betrinken und warten, bis die Welt untergeht», schlug ich vor.

«Ich müsste erst jemandem Bescheid geben, dass er ein grosses Boot oder so baut», meinte Jesus. «Ich will nicht von ganz vorne beginnen.»

«Hm.»

«Hm.»

«Kannst du nicht einfach eine neue Art von Wasser erschaffen, in der du baden kannst?»

«Nein», antwortete Jesus. «Mein Vater hat damals alle Materialien verbraucht.»

«Den Engeln Nasenklammern geben?»

«Mach dich nicht lächerlich.»

«Ich glaube, es gibt keine Möglichkeit, Jesus.»

«Gibst du immer so schnell auf?»

«Erst, seit alles schiefläuft. Seit da trinke ich auch zu viel.»

«Und trotzdem kann man nicht flüchten», sinnierte Jesus. «Man wacht am nächsten Morgen trotzdem auf und alles ist immer noch gleich gottlos wie am Tag zuvor.»

«Auf diese beschissene, gottlose Welt», sagte ich und hob mein Glas.

Wir tranken. Ich weiss, dass wir beide wussten, was wir taten. Trotz unserer Reflektion übers Trinken tranken wir. Wir wussten, dass es eine schwache, enttäuschende Entscheidung war, die uns nur weiter in den Abgrund stürzen würde. Wir bestellten uns bald darauf ein weiteres Glas Wasser. Wie viele über den restlichen Abend verteilt noch dazukamen, weiss ich nicht. Es mag daran liegen, dass ich gar nichts mehr von diesem Abend weiss. Die erste Erinnerung, die mir sehr lebhaft noch vor Augen steht, ist eine vom nächsten Morgen. Schmerzendes Licht, das durchs Badezimmerfenster einfiel. Kopfschmerzen. Schwammige Beine. Völlig aufgelöste Haut. Kopfschmerzen. Ja, zwei Mal Kopfschmerzen; so stark, wie sie waren, verdienen sie eine Doppelnennung. Dies sind eigentlich nur Kleinigkeiten, verglichen mit der Sache, die eigentlich passiert ist. Dass ich nackt und mit dem Hangover meines Lebens in einer kalten, halbvollen Badewanne lag, ist ebenfalls nicht das Erwähnenswerte. Dass ich nackt mit dem Hangover meines Lebens in einer kalten, halbvollen Badewanne lag, und Jesus ebenfalls nackt neben mir lag, ist ebenfalls nicht das Erwähnenswerte. Das Erwähnenswerte ist, dass ich nackt mit dem Hangover meines Lebens in einer kalten, halbvollen Badewanne neben dem nackten Jesus lag, und dieser im und nicht auf dem Wasser lag. Jesus in meinem Bade.

«Jesus, wach auf!», schrie ich und rüttelte ihn wach.

«Nicht so laut, bitte», stöhnte Jesus.

«Jesus, du badest!»

Jesus kam langsam zu Sinnen. Langsam hob er eine tropfende Hand in die Höhe, hypnotisiert von den Wassertropfen, die davon hinunterfielen und sich wieder mit der dreckigen Suppe in der Badewanne vermengten. Er begann mit den Füssen zu strampeln, die Hände ins Wasser zu klatschen, sich Wasser auf den Kopf regnen zu lassen.

«Ich bade! Ich bade! Ich bade!», schrie er immer wieder.

Jesus drehte den Wasserhahn auf. Frisches Wasser sprudelte in die Badewanne. Unfähig, mich zu bewegen, sass ich neben Jesus und starrte ihn an. Ich konnte mich beim besten Willen nicht daran erinnern, wie ich es geschafft hatte, Jesus ins Wasser zu kriegen. Ich weiss nur, dass von diesem Tag an alles besser wurde.