Matcha für Lili
Freitagabend. Und erst noch Freitag der Dreizehnte.
Sternlein, sagte Lili, die nicht gerne fluchte, auch dann, wenn sie niemand hörte, obwohl ihr an diesem Abend nach einem leidenschaftlichen «Scheisse» zumute gewesen wäre, sagte sie Sternlein, Sternlein Lili, komm, jetzt gönnst du dir was, jetzt machst du was aus diesem Abend, aus dem Tag, aus deinem Leben. Sternlein, sagte sie nun nochmal etwas energischer, der Gedanke an ihr Leben machte sie nervös. Auf Socken, blau-gelb-kariert die linke, Kuhgesicht die rechte, schlurfte sie in die Küche, die korrekterweise gar nicht als Küche bezeichnet werden konnte, bestand ja lediglich aus zwei Herdplatten und einem Kühlschrank und war genauso Bestandteil ihres bescheidenen Zimmers wie Bett, Tisch und Kleiderschrank, da kam schon mal die Frage auf, ob sie denn nun in der Küche schlief, im Schlafzimmer kochte oder im Wohnzimmer, das war ja irgendwie alles eins, alles eins, das war die Frage. Jedenfalls riss sie jetzt die Schränke auf und wusste nicht, wonach sie suchte, sie wusste nie wonach sie suchte und das erinnerte Lili, der plötzlich einfiel, dass sie schon seit zwei Jahren nicht mehr zum Friseur gegangen war, geschweige denn zum Zahnarzt, erinnerte sie an ihr Leben, was sie dazu anspornte, noch mehr zu suchen. Nicht mal Wein hatte sie da. Dafür zwei angefangene Packungen Zimt- und Heidelbeer-Reiswaffeln für Kleinkinder ab acht Monaten, tja die Familie wurde immer grösser und vom Nachwuchs dominiert. Staubiges Sternlein, sagte Lili, die sich in ihr Elend reinsteigerte, um noch einen draufzusetzen und sich stattdessen jedoch stellte, und zwar auf ihren einzigen Stuhl, Stefan hiess der, um auch an die oberen Regale zu gelangen. Matcha, las sie plötzlich, da war ja noch Matcha, die edle Japanerin, das hatte sie völlig vergessen, hatte ihr Shane damals von seiner Reise mitgebracht und gesagt, der Tee sei was Besonderes. Shane sei was Besonderes, hatte Lili damals gedacht und den Tee im obersten Regal verstaut als sie begriff, dass es doch nicht so war, wie sie dachte und jetzt war der Moment gekommen, dachte sie, ich bin drüber weg, ich werde mich jetzt einfach hinsetzen und entspannen. Dass der Tee nicht so war, wie sie sich Tee vorstellte, als sie die Packung öffnete, überraschte sie nicht, erst recht nicht am Freitagabend, Freitag dem Dreizehnten. Sie suchte auf ihrem Smartphone, das sie erst seit einer Woche besass und das in ihrer zierlichen Hand viel zu plump wirkte, nach einer Anleitung, Zubereitung Matcha, das zumindest sollte ja wohl möglich sein, dieses Pulver artgerecht zu verarbeiten, Sternlein.
Es klopfte an der Tür und wer da stand war mehr als eine Überraschung, ein Mönch war es, den hatte Lili schon mal gesehen, damals in Rapperswil, doch nun stand er hier ohne Kutte, als hätte er es sich anders überlegt, mit einem kleinen Rosenstock von der Migros, der Preis stand noch drauf, sechsfünfundneunzig. Komm rein sagte Lili, der Mönch sagte nichts, doch als er seine Schuhe auszog, wurde es plötzlich ganz hell im Raum und warm, und auch er trug zwei verschiedene Socken, eine grün und eine durchsichtig, das war wohl gar keine. Tibetische Gebetsfahnen, murmelte der Mönch und deutete auf Lilis Wandschmuck, ohne eine Wertung in seiner Bemerkung erkennen zu lassen, eigentlich gehörten die sowieso nach draussen, aber bei Lili war auch der Balkon drinnen, da sie keinen hatte, und bei ihr kam das schon mal vor, dass Dinge so waren, verdreht. Als sie auf dem Bett sassen, das nun eindeutig ein Sofa war, kratze sich der Mönch so heftig am Bart, dass dieser zu wachsen begann und gar nicht mehr aufhörte. Darf ich, frage Lili und ging darin spazieren wie in einem Wald. Es war dunkel und sie wünschte, sie hätte ein Streichholz dabei, doch stattdessen leuchteten Heidelbeer-Reiswaffeln für Kleinkinder ab acht Monate auf und leuchteten ihr wie Sterne den Weg, den sie nun ging ohne zu wissen wohin. Sternlein, Sternlein, sang sie vor sich hin und es war ihr, als würden Engel in den Gesang mit einsteigen, oder aber Ameisen, sie war sich nicht sicher. Sicher war sie sich jedoch plötzlich, wohin sie der Weg führte und sie sprang vor Freude, bis sie zum Wasserfall kam. Dort sass ihr Bräutigam am Boden und riss sich alle weissen Haare aus, die nachwuchsen in blau-weiss-rot-grün-gelb, wie die tibetischen Gebetsfahnen. Ich liebe dich, sagte Lili und streichelte sein Ohr. Wer bist du, fragte er und erst jetzt merkte sie, dass sie nicht wusste, wer er war.
Wo sie war.
Wer sie war.
Traurig faltete sie sich zusammen, und noch mal und nochmal, bis sie zu einem Origami-Schwan wurde, der eigentlich ein Kranich war. Dieser befreite sich, ohne zu fluchen, aus dem Bart des Mönchs, der zwei verschiedene Socken anhatte und gar nicht wie ein Mönch aussah, und schwamm davon.
Was war das, fragte sich Lili, die mit klaren Augen das Matcha-Glas vor sich sah und sich fragte, ob es wirklich Matcha war. Überhaupt fragte sie sich viel in dem Moment und fragte sich, warum es im Leben immer so viele Fragen gab.