Neubaugebiet
Er rollt die Auffahrt hinauf, stellt den Motor aus, Neuwagengeruch, Neubaugebiet. Tief einatmen, über die Armaturen streichen. Knüppel auf P, Licht dimmt hinab, Vollkommenheit der Technik. Er sieht zum dunklen Haus, die Hausaugen sehen zu ihm. Einsamkeit und Stille. Im Autoradio das Wetter.
Eine Falte im Anzug, ein Krümel im Mund. Die Verkäuferin schenkte ihm ein zweites Croissant, so kurz vor Feierabend lande es doch sonst im Müll. Also ass er es, obwohl es trocken war. Die Tüte lässt er in die leere Tonne neben dem Haus fallen. Einen Moment verfolgt er ihr leichtes Segeln, bevor sie im Nichts verschwindet. Er denkt nicht weiter darüber nach, er denkt ohnehin so wenig wie möglich, wenn er denkt, denkt er ja doch nur an Nora.
Die Kinder jaulen, krächzen, weinen noch in den Gärten. Wenn er nicht aufpasst auch auf seinem akkuraten, nicht erlaubten Grund. Er braucht ein elektrisches Tor, kann nicht sein, dass hier alles offen steht. Ein nasser Fleck an der Hauswand, ein runder Beweis aus Dreck, dass sie hier waren. Er sieht sich um, ob der Fussball noch auf dem Rasen liegt. Produktion aus Kinderhänden für Kinderfüsse. Er mag keine Kinder, nicht seit Nora weg ist.
Die Sonne versinkt hinter den blauen Dächern, es ist später als er gedacht hat. Wieder einmal zu spät, um noch etwas zu tun. Hatte er denn etwas vorgehabt? Eher nicht. Er wird sich ausruhen. Noch etwas essen.
Nebenan verliert sich die Baustelle in der fehlenden Finanzierung. Ein Zaun grenzt sie von seinem Grundstück ab. Er berührt den Draht, Kälte und auch Rost an seinen Fingern, die er im Sand verreibt. Wind röchelt durch die engen Maschen, letztes Licht bricht in den Streben. Nichts geht voran. Er lehnt die Stirn gegen das Metall, spürt wie das Geflecht nachgibt unter seinem Druck. Die rechteckige Baugrube versinkt im Grundwasser, ein Vogel scheisst hinein. Stacheldraht wäre sinnvoll, denkt er und lacht ganz leise nur für sich. Oben auf dem Zaun, ja genau, dann wäre es ihm egal, was dahinter wäre, dann hätte er damit wirklich nichts zu tun. Dann könnte das Gefieder der Vögel daran zerreissen und die Kadaver würden seine Beete düngen. Besser noch eine Verlattung, Sichtschutz, und er müsste das alles nicht länger mitansehen. Ist nicht sein Problem, das alles. Er spuckt durch den Zaun.
Im Haus rutscht er über das Laminat, sobald er auf Strümpfen steht. Er sagt nichts. Er kennt das Haus, er braucht kein Licht, die Tür fällt zu. In der Küche steht Essen, steht Bier. Er zieht seine Kleider aus und wäscht den Tag heiss aus seinen Gliedern. Im Fernsehen wandernde Menschen. Seine Haut ist wohlig rot, sein Blick geht über seine Beine zum Hocker. Er mochte Noras Füsse. Manchmal stand sie auf eigenen. Das war ihm zu viel.
Als er im Sessel erwacht, hält die Flasche sich noch in seiner Hand. Die Lider sind schwer, er rafft die Decke um die Schultern, löscht die Lampe, will nach oben. Auf der Treppe hält er inne. Was erwartet ihn morgen? Hat er Freude daran? Will er weitermachen? Natürlich will er das. Natürlich will er das. Er greift nach dem Geländer. Es wackelt.
Auf der nächsten Stufe, er hat sie gerade genommen, verharrt er. Still bleibt er stehen. Er hält den Atem an, lauscht. Draussen. Da treibt sich doch wer rum. Die Nachbarskinder aber sind im Bett. Die Geister auch. Gesindel. Hier? Er spürt Kälte entlang der Wirbelsäule, fast wie treppensteigender Frost, Wirbel für Wirbel hinauf. Er wühlt das T-Shirt in die Schlafanzughose, dreht sich auf den Hacken um. Da ist es wieder. Ein metallisches Zittern. Es rüttelt jemand am Zaun. Nebenan. Ein im Gitter verfangener Hund? Er könnte ihm mit dem Steakmesser die Pfoten abschneiden. Er geht in die Küche, wühlt in der Schublade, tritt ans Fenster, nimmt den Vorhang beiseite. Der Rahmen ist feucht von seinem Atem und der Nacht. Nur das Messer spiegelt seine Narbe in seiner Klinge. Der Zaun. Keine dreissig Meter von ihm. Wie eine Welle wogt er im Wind. Fehlt nur die Gischt, denkt er. Wann war er zuletzt am Meer, hatte die Knöchel im Wasser, die Zehen im Sand? Er hasst es, hinterher die Socken über die aufgeriebene Haut zu ziehen. Und Quallen, zu nichts nutze, die hasst er auch. Er pult mit der Messerspitze im Fensterrahmen. Draussen ist etwas Braunes zu sehen. Unten am Zaun. Also wirklich. Ein Hund, möglicherweise eine Katze, der Kater, der in seine Rosen pisst, er wird ihn kastrieren, wenn die anderen es nicht tun, er kann es.
Sein Blick ist trüb, seine Gedanken müde, die Nacht schiebt sich hinter seinen Augapfel. Er wollte ins Bett und nun steht er draussen, in seinem Mantel und in den Hausschuhen, die Nora zurückgelassen hat. Manchmal ist er lächerlich. Der Mond im Lack seines Wagens. Das gibt ihm Kraft. Er geht einige Schritte, hebt das bessere Ohr, erreicht die Grundstücksgrenze.
Auf der Strasse ist nichts. Er braucht wirklich ein Tor. Wie einladend alles scheint. Er kann von Glück reden, wenn niemand auf seiner Seite ist, sondern in der Baugrube. Immerhin dafür ist die Schande gut. Langsam schleicht er an den Zaun heran. Wo bist du, Katze? Ich greife nach deinem Schwanz, denkt er, dein Scheissschwanz ist ab.
Kein Tier, nicht mal Wind macht das Geräusch. Zwei Köpfe, Lumpen, die Füsse im Wasser der Grube, die Leiber zum Zaun gestreckt. Sie sind es. Sie deuten mit gebrochenen Fingernägeln nach oben, betasten das Gitter, rütteln am Geflecht. Sie ächzen und sie schmerzen wie nach einem langen Weg. Sie sind feucht und voll Sand. Ihre Gesichter sind zu ihm gerichtet, ihre Augen glimmen noch. In der Erde um die Grube herum sieht er Spuren wie von Schlangen, wer weiss, von woher sie sich angeschlichen haben. Sonst sieht er nichts, sie scheinen nichts dabei zu haben, auch nichts, in dem sie ihr Diebesgut verstauen könnten.
Seine Zunge ist ganz kalt in seinem Mund. Er weiss ohnehin nicht, was er sagen soll. Ein Tee wäre jetzt fein, gleich geht er wieder rein. Jetzt aber steht er noch da. Er blickt hinab auf sie. Was? Was soll er tun?
Sie sprechen. Herrgott, sie sprechen. Aber er versteht ihre Sprache nicht. Glotzt mich nicht so an, denkt er und sagt es dann auch. Sie wirken so einsam. Er spürt ihre Angst. Und seine. Was, wenn sie rüberkommen, ihn wegscheuchen, sein Grundstück und sein Haus übernehmen und er gar nichts mehr hätte, ausser den Gedanken an Nora? Er tritt gegen ihre Finger, die schon in sein Grundstück ragen. Er fuchtelt mit dem Messer. Sein Mantel geht auf und die Kälte packt nach seinem Leib. Hektisch sucht er den Gürtel, zerrt alles wieder fest um seinen Bauch. Der Trenchcoat passte schon mal besser. Als er bedeckt ist, sind sie aufgestanden, jetzt direkt am Zaun. Er könnte das Messer ganz leicht durch eine Masche stossen und es in ihre Leiber versenken. Wie sie stinken. Wie sie zittern.
Es sind ein Mann und eine Frau. Sie hält sich fest an seiner Hand. Seine Zähne sind schlecht. Ihre Haare waren wohl einst golden. Er sieht an ihren vertrockneten Lippen, wie durstig sie sind. Er sieht am Gürtel des Mannes die zusätzlichen Löcher im abgewetzten Leder. Der Mann hofft jetzt. Ungefähr sein Alter. Geduscht und in einem Anzug, könnte er ihn morgen früh mitnehmen, ihn auf den Beifahrersitz setzen, ihm einen Laptop geben, eine Aufgabe.
Er zieht die Nase hoch, presst mit dem Zeigefinger ein Nasenloch zu und schleudert den Rotz vor ihre Füsse. Noch einmal hebt er das Messer. Sie weichen zurück. Jetzt geht, hier ist nichts, nichts zu holen. Nicht einmal die Grube gehört euch doch. Das Wasser ist zu kalt, um darin zu schwimmen, die Erde zu trocken, um etwas anzubauen. Also verschwindet. Ausrauben könnt ihr mich nicht. Seht euch doch mal an. So dumm. Wie wollt ihr über den Zaun kommen? Morgen werde ich Stacheldraht im Baumarkt besorgen. Dann war wirklich alles umsonst, wärt ihr doch gar nicht erst aufgebrochen, dieser Weg, er war sinnlos. Weg! Weg mit euch! Geht zurück, sagt er. Na los. Er stichelt mit der Klinge durchs Dunkel. Ab mit euch, glaubt nicht, ich rufe die Polizei, ich erledige das selbst. Er tritt mit den Hausschuhen gegen die Maschen, Metall zittert durch das Viertel. Irgendwo geht ein Licht an, er hört ein Fenster quietschen. Also ist er zurück im Haus, lehnt an der Haustür, haucht kalten Atem, reibt sich die Augen. Das kann doch nicht sein. Unglaublich. Es muss doch jemanden geben, der etwas gegen diese Leute tut. Und der Mantel ist auch dreckig.
Im Bett wirft er sich herum. Was, wenn sie nicht gehen, wenn sie sich unter dem Zaun durchwühlen und seine Tür einschlagen, seine Wände einreissen, ihn auffressen, nachdem sie ihn in einem Topf weich gekocht haben. Er lacht in sein warmes Zimmer hinein. Das hat doch schon Nora versucht und nicht geschafft. Er lässt eine Hand auf ihre Seite des Bettes fallen. Die Matratze ist mit einem Laken bespannt, die Decke mit der Rosenwäsche, die sie mag, bezogen. Sie könnte wiederkommen. Ja, sie könnte kommen, er würde ihr das Bett zugestehen. Er könnte über alles hinwegsehen, er würde Grösse zeigen. Ja, er wartet geradezu auf sie. Wartet jeden Tag. Wenn er morgens das Haus verlässt, dann schaut er in die Küche, ob sie nicht dort sitzt und Kaffee trinkt, die Lesebrille und die Zeitung. Wenn er mittags sein Brötchen isst, schaut er in den kleinen Park in der Innenstadt, den sie manchmal besucht. Die Bäume blühen dort noch immer. Und abends lässt er das Licht im Bad die Nacht über brennen, damit sie ihren Weg findet. Er würde seine Arme um sie schliessen, wenn sie käme. Er gibt es nur nicht zu, niemals, wer wäre er denn dann. Ob das Licht die Gestalten angelockt hat?
Er steht noch einmal auf, sieht durch das Fenster. Er kann nicht erkennen, ob die beiden noch da sind. In der Grube treibt ein T-Shirt. Oder irgendetwas anderes.
Am Morgen ist er spät dran. Wie kann er auch aufstehen, wenn er die Nacht im Dreck verbringt. Er startet den Wagen, die Aussenspiegel drehen sich still in ihre Position. Er setzt zurück, schaut zur Seite. Die beiden sind weg. In der Grube noch das Shirt. Es treibt mit dem Gesicht nach unten im Baustellenwasser, es hat zwei kleine Arme und zwei kleine Beine, einen schief und kurz geschorenen Kopf. Im Radio die Morgenshow. Er rollt die Auffahrt hinab. Das Wetter bleibt konstant.