März 2013

Nieselregen

von Melanie Bösiger
Jahresthema: Wörter
Monatsthema: Flinkheit, Währungseinheit, gesund, Pfeiler einer Brücke, FH

Erstaunlich, wie in der Dunkelheit alles still wird. Die gesunde Ruhe, die sie ausstrahlt. Der Tag strahlt Sonne, die Nacht strahlt Ruhe. Kaum ein Mensch auf der Strasse, und wenn, dann allein, geräuschlos. Als hätten sie alle Angst vor der Dunkelheit. Noch nicht einmal sieben Uhr, Abendverkauf, die Geschäfte hell erleuchtet, still. Die wenigen Menschen bewegen sich geräuschlos zwischen Kleiderständern, halb leeren Brotregalen und Kühltruhen. Sie tauschen, Geld gegen Kleider, Währungseinheit gegen Gemüseeinheit, sie bilden eine stille Einheit da drinnen. Ich sehe sie durch die Schaufenster, höre sie nicht, auch durch offene Türen nicht. Sie sind weg, all die Stimmen, die doch nichts sagen. Selbst die Autos scheinen leiser zu sein, sie spritzen Wolken auf das Trottoir. Es nieselt nur, keine Regentropfen, die auf dem Asphalt aufschlagen. Nur ein feiner Hauch im Gesicht, Frühlingsanfang, es ist fast angenehm warm. Die Menschen haben sich noch nicht daran gewöhnt, die Erinnerung an winterliche Kaltdunkelheit treibt sie in ihre Wohnungen, wo bestimmt noch die Heizungen laufen. Ich gehe weiter durch das künstliche Licht, eine Mischung aus Strassenlaternen, Schaufenstern, Verkehrsampeln und Autolichtern. Über einen Fussgängerstreifen und weiter, zum Bahnhof. Eine Menschenansammlung, alle mit sich selber beschäftigt, still. Keiner am Handy, keine laute Musik aus Kopfhörern, kein Kind schreit. Keine Grussworte, keine Abschiede, nichts. Die Menschen sehen aus wie hinter schalldichtem Plexiglas, ich schaue ihnen zu. Minutenlang. Dann durchbreche ich die Wand, gehe durch sie hindurch und weiter. Richtung Unterstadt, durch die ausgestorbene Fussgängerzone. Laufende Fernseher ohne Ton, nur Bild, vor den Cafés gestapelte und zusammengekettete Stühle. Je weiter ich mich vom Bahnhof entferne, desto mehr Geschäfte sind geschlossen. Ich frage mich, ob ich so langsam unterwegs bin. Das Licht wird gelb, keine Autos, keine Velos, nichts. Nur die Strassenlaternen. Ich laufe über die Pflastersteine, stolpere. Über meine eigenen Füsse und über meine Gedanken. Die überschlagen sich in meinem Kopf, den die Ruhe ausfüllt wie Zuckerwatte. Alles erscheint mir durch einen weissen Nebel, kein Bisschen Rosa. Klar denken unmöglich. Hundert wirre Anfänge, keiner mit einem Ende. Es fühlt sich an wie nachts, wenn der Schlaf meinen Körper einnehmen will und mein Kopf ihn nicht lässt. Hin- und Herwinden in den Decken, Sätze, Wörter und Bilder. Schleichen, kriechen, rasen, halten mich wach. Nacht für Nacht. Bis ich sie nicht mehr vom Tag unterscheiden kann. Grauer Nebel, am Himmel, im Kopf. Müdigkeit, abgedriftet. Ich wünsche mir, mit diesem Nebel zu verschmelzen, mich in tausend Tröpfchen aufzulösen. Jedes einzelne zu klein, auch nur einen Bruchteil eines Gedankens zu fassen. Die Gedanken verstreut, eine grosse Wolke und doch nicht mehr vorhanden. Und ich dann ruhig, gelassen, von einem Auto auf’s Trottoir gespritzt und weg.

Am Bahnhof steigst du aus dem Zug, und bleibst verloren stehen. Als ob dich jemand abholen sollte, der nicht da ist. Auch nicht da sein kann, denn dich holt niemand ab. Du sollst nach Hause, und weisst nicht, wo das ist. Weisst nicht, wo das sein soll. Daheim ist ein warmer Ort, oder kühl, vielleicht still, vielleicht laut. Vielleicht leer, vielleicht mit einem Menschen, der dich liebt. Oder vielen Menschen. Oder Tieren. Die dich lieben oder auch nicht, aber die dazugehören. Zu einem Daheim, zu dem Daheim, das du nicht hast. Du stehst eine Weile auf dem Perron, bis alle andern verschwunden sind. In der Unterführung, in Bussen, einer vielleicht auf dem Gleis, es interessiert dich nicht. Du weisst, du kannst nicht ewig da stehen, und gehst los. Automatisch. In die Unterführung hinunter und dann links aus dem Bahnhof hinaus. Ich sehe dich durch meine Glaswand. Aber das wissen wir beide nicht. Du gehst nach links, wie du es immer tust. Dabei wolltest du den Weg nicht mehr gehen. Zu viele kurlige Gestalten auf dem Weg, zu laute Musik, zu viel Geschrei. Deine Beine tragen dich ein Stück, du merkst, dass du falsch bist. Dass du rechts gehen wolltest. Bleibst wieder stehen, wie einer, dessen Rendez-vous – Rends-toi nicht erscheint. Du überlegst, ob du zurückgehen sollst, die Treppe rechts vom Bahnhof nehmen. Ob sich das lohnt. Du windest die Gedanken, versuchst abzuwägen. Was schwierig ist, denn es hat sowieso alles keinen Sinn. Ob du an den schummrigen Gestalten vorbei gehst, die dich nicht beachten. Oder ob du umkehrst, fünf Minuten länger unterwegs bist, oder jetzt schon mehr, weil du schon zu lange überlegst. Zu Hause wartet keiner, kein Mann, keine Frau, keine Kinder, keine Haustiere, nicht einmal ein Teddybär. Du weisst auch nicht, ob du das möchtest. Dass jemand oder etwas wartet. Auf dich. Ob du nach Hause willst. Oder einfach hier bleiben. Mitten in den Menschen, die durch die noch erleuchteten Geschäfte wuseln. Sie ekeln dich, und doch bist du froh, sind sie da. Ich kreuze dich noch einmal, diesmal nicht nur mit dem Blick. Du bist einer der Stillen, ich auch, sie alle, die andern. Wir bemerken einander nicht. Und doch reagierst du auf mich, entscheidest dich, mir zu folgen. Du weisst nicht, warum. Aber irgendetwas treibt dich die leere Fussgängerzone hinunter. Du gehst langsamer, noch langsamer als ich. Hast mich längst aus den Augen verloren, in denen du mich nie hattest. Wunderst dich über die geschlossenen Geschäfte und über die verketteten Stühle vor den Cafés. Da möchtest du sitzen, stundenlang, ins Leere starren, in den Nieselregen. Bis du dich in ihm auflöst, nicht mehr da bist, keiner dich vermisst, weil die Sonne scheint. Für dich scheinen nur die Strassenlaternen. Gelbliches Licht, in dem du dich verlierst auf dem Weg weg von zu Hause. Wohin, weisst du nicht. Du gehst weiter, folgst einem unbestimmten, verschwommenen Gedanken in deinem Kopf. Denkst sonst gar nichts. Gehst ferngesteuert und merkst nicht, wie quietschende Bremsen die Stille schneiden. Du siehst nicht, wie ein Kopf wenige Meter vor dir auf dem Asphalt aufschlägt. Es bewegt sich nichts. Nichts mehr. Da, wo ich vorher ging, bleibt nur Stille. Noch stillere, als vorher.

Du biegst in eine Seitengasse, mit einer Entschlossenheit, die deinem schlendernden Gang nicht entsprechen will. Als ahntest du, welch unschönes Bild dich am Ende der Fussgängerzone erwartet. Du erschrickst ob deiner Flinkheit, als das Wort deine Gedanken streift. Es will nicht passen, du suchst eine Alternative, findest keine. Gehst weiter, dein Kopf leerer als vorher. FH, eine Abkürzung für die Flinkheit, klingt mehr nach langsam und schwerfällig, danach, wie du dich fühlst. Feige und hilflos. Es sind deine beiden Buchstaben. Immer weiter tragen dich deine Beine, du auf der Felswand, unter dir der Fluss. Bis dahin, wo die Pfeiler einer Brücke senkrecht ins Nichts ragen. Wo die grosse Brücke entstehen soll. Sie führt ins Leere, Anfang und Ende sind nicht verbunden. Die Absperrung nimmst du kaum wahr, kletterst leichtfüssig darüber, als sei sie ein Randstein. Du gehst weiter, auf dem Betongerüst, Richtung Mitte. Keine Geländer links und rechts. Du gehst geradeaus, bis zum Abgrund und einen Schritt drüber hinaus. Du wärst mehr als einen Schritt gegangen, hättest du gekonnt. Der Abgrund lässt dich nicht. Auf der Brücke bleiben deine Gedanken, nichts. Was unten bleibt, wird man finden, bevor dich jemand vermisst.

Und ich? Du und ich, wir? Vielleicht begegnen wir uns an einem andern Ort. Irgendwo, wo es laut ist. Wo wir einander bemerken. Wo wir gemeinsam gehen, beide langsam, gleich langsam. In unser Zuhause, das wir haben. Dort, an einem andern Ort. Wo keiner auf uns wartet, weil wir beide weg sind. Beide gemeinsam zurückkommen. Uns beide freuen, dass nichts uns erwartet. Kein Nebel, keine Watte, kein Licht, keine Gedanken. Nur Wärme.