Rotkohlkochen ist auch Kultur
Ilse. Du hast
das kleine graue
Buch
bei mir vergessen
Auf dem Tisch
Ich las es
beim Essen
die Geschichte ist grau und rau
wie der Einband
ich schämte mich oder hätte es sollen
als ich fingerdick den Emmentaler schnitt
als mir saure Gurken, Radieschen
Graubrot mit Teewurst
Gelee
am Gaumen doll wie Naschereien rollen
fettige Finger
dunkel vorm Fenster
der Junge auf Papier
ist ein Gefangener, ein Russe oder Ungar, ich weiss es nicht
du kennst ihn ja
er sammelt Krumen unterm Kopfkissen
formt in den brotkargen Nächten
eine klebrige Kugel
gelbgraue Nägel
das Brotbällchen tauscht er gegen Brotball
wenngleich die Grösse nur täuscht
an Salz und Zucker mangelt es
hinter Gittern, hinter Mauern, hinter Land
ich mag meine Tomaten gut gesalzen
den Senf süss auf der Wurst
auf dem Tellerrand
mit jeder Buchseite, jedem Schlucken
wächst meine Schaulust oder sollte nicht
der Junge in Grau, oder ist es ein Mann, ich weiss es nicht
du kennst ihn ja
ist nah dran sich vorm Tode zu ducken
um den trockenen Gaumen zu ölen, leckt er an Türklinken
klopft an Türen, saugt an Baumblättern
ab und zu wiegt er die schiefe Hüfte der Erna über den Hof
bei Gewitter
der Saum ihrer Schürze schleift übers Pflaster
hart wie Eierkarton
grau wie der Einband dieser Geschichte
er, der Russenungar, sieht nicht, wie ihre Mundwinkel zucken
sie singt ein Lied
das er nicht hören kann
Strophen von winkenden Seemännern, von der Ernte der Birnbäume
von dort wo sie herkommt, die Erna
wo sie nie wieder hingeht, die Erna
wohin er sie nie begleitet
die Zeit bis zum nächsten Brotkrumen
ist eine Festung
die stille Gier im Tanze füllen
die Lust am Geniessen ist längst gegangen
keinem Warten gewichen
einer Hülle
einem Ausharren
einem Sein ohne Sinn
er denkt an Kartoffelknödel
wenn er die Erna von rechts nach links wiegt
hinterm Ohr riecht sie nach Bratensosse
so herzhaft, nach Lorbeer
zusammen, gleichsam einsam
singen und riechen sie
nach der Seeluft, nach geschmorten Birnen
lösen sich auf
im Tanz
ganz
Ilse. du hast das kleine graue Buch vergessen
auf diesem Tisch
ohne dich ist es wortlos
die Zeilen zittern, die Seiten schaudern
dieses Buch ist so grau
wie mein Herz, wie mein Gefühl
für den Jungen
wann kommst du wieder
Ich sitze verschämt
gleichsam schamlos
nach diesen Seiten
im grauen Band
wann drehst du dich
in meiner Küche
wann ziehst du aus
um zum Markt zu gehen
hol sie ab
diese Brotkugel-Geschichte
füll uns den Gaumen
mit Schmalzbroten
deinem samtigen Rotkohl
in mir ein unerträgliches Fluchen
ich sollte dich suchen
doch ich kann nicht
fühle mich gefangen
wie der Russe oder Ungar
sag mir, kennst du ihn
ich sehne mich
nach deinen Haaren, die am Rand des Kochtopfs kleben
nach Kartoffelknödeln im Saft
nach deinen stillen Liedern
nach deinen Fingern
die meine Hose am Bund nach oben ziehen
eine Festung
wieso hast du den grauen Jungen gelassen
wo er ist
den Russen oder den Ungar
wieso hast du mich sitzenlassen
der Emmentaler schmeckt sauer
die Gurken sind spröde geworden
die Radieschen noch schärfer
die Leberwurst bröckelt
mir fehlt Salz und Zucker
wann holst du uns ab
wann färbst du grau
zu hellblau
oder fliederfarben
betrügst du uns etwa
mit andrem Fleisch
weil ich dir nicht reich
Frau
ich habe Hunger
nach dir
du hast
das kleine graue
Buch
vergessen. Ilse.