Schimmlers Teilung
«Den Schimmler hat´s zersägt!», wurde gerufen, und tatsächlich, bei den Kreissägen lag der Schimmler, in der Hälfte durchgesägt, am Boden. Säuberlich oberhalb des Gürtels war er durchgeschnitten, die noch weichen Holzspäne saugten sein Blut auf. Die Arbeiter des Sägewerkes kamen gelaufen, manche nahmen die Mützen ab, einige schüttelten den Kopf.
«Der arme Schimmler.»
«Runterg´fallen issa.»
«So besoffen wie der war, kein Wunder.»
«Der war ja immer besoffen, und nie ist was passiert.»
«Den hab ich immer gemocht, den Schimmler…»
«Aber Kinder hat der eh keine g´habt.»
«Na, trotzdem ist´s schad um… He da! Die Beine!»
Schimmlers Unterleib hatte versucht, sich davonzuschleichen, bemerkte aber nun, dass man auf ihn aufmerksam geworden war und preschte wie ein Windhund aus dem Sägewerk, nicht ohne den ein oder anderen Arbeiter dabei umzustossen und mit Blut zu bespritzen. Die Wunde war ja noch ganz frisch und tropfte arg. Es wurde laut geflucht und die Verfolgung aufgenommen.
«Lasst sie nicht entkommen!»
Fast alle rannten den Beinen nach, nur zwei schon sehr alte Arbeiter blieben bei Schimmlers Rest. Sie schlossen seine Augen, falteten seine Hände und wollten ihn davontragen, da Schimmler aber von sehr stämmiger Natur war, konnten sie ihn nicht so recht…
Da sprangen die Beine einfach so, mir nichts dir nichts, auf das Holzdach des Sägewerks.
«Habt ihr das gesehen!? Aus dem Stand!»
«Holt eine Leiter!»
Die Beine rannten über das Dach auf die andere Seite, dort standen aber schon Arbeiter bereit, um sie aufzufangen.
«Die Leiter, rasch!»
Zwei starke Holzfäller krachten die Leiter gegen die Wand und ein kleiner, sehniger Bursche mit Kochschürze, dem man offenbar das Einfangen der flinken Beine zutraute, sauste die Leiter hinauf. Einige Sekunden vergingen.
«Und, hast du sie?», wurde von unten schliesslich gerufen.
«Reing´legt habt´s ihr mich, sehr lustig. Da komm ich extra aus der Küche wegen so einem…»
«Die Küche!»
Die Beine waren seitlich vom Sägewerk unbemerkt abgesprungen und sprinteten nun auf die Küche zu.
Man muss sich den Schreck vorstellen, den die Köchin erfuhr, als die Türe aufgerissen wurde und anstatt ihrem Gehilfen nun Schimmlers Unterleib vor ihr stand. Zu bewundern ist darum umso mehr, dass sie mit der linken Hand die köchelnde Kartoffelsuppe zudeckte und mit der rechten einen Besen griff.
«Kusch! Kusch!»
Sie war es gewohnt, dass sich manchmal Hunde in ihre Küche schlichen.
«Kusch! Kusch! Raus mit dir!»
Die Beine zielten auf die rechte Flanke der Köchin, wo sie wohl eine Möglichkeit witterten, an ihr vorbei und in die Vorratskammer zu gelangen. Sie stiessen sich ab, auf den glatten Fliesen griff ein Fuss jedoch nicht so ganz und sie taumelten, krachten gegen einen Schrank, die Köchin erwischte den linken Oberschenkel mit einem wuchtigen Besenschlag und trat mit ihren schwarzen Stiefeln gegen ein Schienbein von Schimmler nach.
«Kusch! Kusch! Genug!»
Da wurde die Türe erneut aufgerissen.
«Die Beine, dort!»
Die Arbeiter drängten herein und schrien wie wild.
«Schnappt sie euch!»
«Ich hab sie! Ich hab sie!»
«Das ist mein Fuss, du Trottl!»
«Heiss! Heiss!»
«Passt mir doch auf die Kartoffelsupp auf!»
In dem Tumult schafften es die Beine, durch ein offenes Fenster zu entkommen.
Gegen Abend hin war die ganze Aufregung schon etwas verflogen. Man hatte Schimmler ein Grab am Waldrand geschaufelt, über dem die Blätter der Bäume im Wind tanzten. Es war schön hergerichtet, einige Blumen und ein Kreuz aus Holz zierten seine letzte Ruhestätte. Das Grab war den Umständen entsprechend nur etwas klein, da der Unterleib fehlte. Wegen der Flucht machte man sich allerdings nicht allzu grosse Vorwürfe. Man hatte alles versucht, um den Ausläufer einzufangen, und die Arbeit musste natürlich weitergehen. Das monotone Holzfällen und Holzsägen erstickte jedwedes Zweifeln und Nachdenken. Wie es zustande gekommen war, dass Schimmlers Schenkel (so wurden sie mittlerweile liebevoll im Sägewerk genannt) überhaupt aufstehen und davonrennen konnten, wurde nicht hinterfragt. Das grösste Mysterium an diesem Tag blieb, wer die Kartoffelsuppe vom Herd gerissen hatte. Niemand wollte es gewesen sein. Zum Abendessen gab es Brot und Schinken. Und wie immer, viel zu trinken.
«Gib rüber eine Bier!»
«Ein Bier heisst´s immer noch!»
«Na gib schon!»
«Heh!»
«Gib her!»
«Sehr merkwürdig war das schon…»
«Das war sicher der Professor. Der sieht ja nix. Und von allein wachsen einer Erdapferlsupp keine Flügerl.»
«Ich meine den Schimmler.»
«Ach, das passiert. Vor drei Jahren, da warst du noch nicht da, aber ein Franzos hat im Werk gearbeitet. Der ist auch zersägt worden.»
«Hat man da die Beine gefangen?»
«Ja… also nein.»
«Also was?»
«Na, die Beine haben sich nicht bewegt, aber der Oberkörper vom Franzos. Man hat den nur bisserl abtrocknen müssen, damit der nicht tropft, so ein Tuch haben´s ihm umbunden.»
«Was ist aus dem geworden?»
«Zuerst hat´s niemand so wirklich bemerkt, aber irgendwann fällt das ja doch auf… Beim Kartenspiel hat der auch plötzlich so ein Glück gehabt. Der Zweigl Stefan hat ihm einen Haufen Geld geschuldet. Irgendwann ist der Franzos aber verschwunden, und einen Tag später hat man ihn im Wald g´funden, sein Tucherl war weg.»
«Was glaubst du machen die Beine vom Schimmler jetzt?»
«Rennen. Und jetzt rennt ma das Bier die Gurgel runter, schau her! Prost!»
«Prost!»
Der Professor war beim Trinken eingeschlafen. Man nannte ihn so wegen seinen runden, milchigen Brillengläsern. Er sah tatsächlich schlecht, die Kartoffelsuppe hatte er aber nicht heruntergeworfen. In Kürze würde die Sonne aufgehen, trotzdem wollte er sich noch eine halbe Stunde Schlaf gönnen. Er trottete zum Schlafsaal, aber in seinem Bett lag zu seiner Überraschung schon jemand.
«Der ist gewaltig, das ist sicher der Michael, den weck ich nicht auf…», dachte der Professor, «dem Schimmler sein Bett ist sicher frei. Nanu? Da liegt ja auch schon wer drin… aber der ist klein, der kann mich mal.»
«He, raus da…», murmelte der Professor halbherzig im Halbschlaf und wollte die Bettdecke wegziehen, der Schlafende hatte sie jedoch mit den Oberschenkeln eingeklemmt und wollte nicht loslassen. Der Professor zog jetzt schon sehr heftig und fluchte sogar ein wenig, dann bekam er einen Tritt ins Gesicht und fiel wie ein Baum zu Boden.
«Der Schimmler!»
«Nicht entwischen lassen!»
Sofort war alles auf den Beinen und man jagte Schimmlers unterer Hälfte nach, die etwas humpelte und nicht mehr den gleichen Elan und die Spritzigkeit wie am Vortag vorweisen konnte. Diesmal hetzte sie direkt Richtung Wald.
«Schneller Burschen!!»
«Sie dürfen nicht in den Wald rein!»
«Schaffen wir!»
Die Arbeiter waren Schimmler dicht auf den Fersen, und einer machte sich sogar schon bereit, die Beine zu fassen, gerade noch, bevor sie den Wald erreichten. Er breitete die Arme aus, sprang ab, flog, flog, und packte einen Knöchel. Ein Jubelschrei entglitt den Verfolgern, der aber schnell wieder verstummte. Schimmler rannte einfach weiter. Der Arbeiter am Knöchel hielt aus Verlegenheit fest, während er durch den Dreck gezogen wurde.
«Wir brauchen mehr Leute!»
«Zwei kann er nicht ziehen!»
Tatsächlich hechteten einige Arbeiter verzweifelt nach vorne, verfehlten aber ihr Ziel und mussten zusehen, wie der Unterleib die schützenden Bäume erreichte. Statt in die Tiefen des Waldes zu flüchten, rannte Schimmler jedoch den erstbesten Baum hoch – der Arbeiter liess vor lauter Schreck den Knöchel los und die Beine jagten hoch und höher.
«Die rennen den Baum hoch!»
«Unglaublich!»
Die Beine hatten beinahe die Baumkrone erreicht, als sie sich abstiessen. Die Arbeiter hielten die Hände empor, um sie aufzufangen.
«Die fallen runter!»
«Jetzt haben wir sie!»
«Wie dumm die sind, stossen sich ab!»
«Nein, schau!»
«Ja was denn?»
«Die fliegen!»
Wahrlich, die Beine traten und wirbelten in der Luft herum und bekamen Auftrieb. Im Sonnenaufgang hatte dies etwas Poetisches.
«Na, geh scheissen!»
«Sie entkommen!»
Schimmlers bessere Hälfte fliegt hoch und höher, strampelt und schlägt und steigt auf. Die Wolken scheinen greifbar, der Wind beflügelt sie, die traurige Welt entschwindet. Die pulsierende Wärme der Sonne ringt behutsam mit der klaren Frische der oberen Himmelsschichten, ein wehmütiger und dennoch kindlich-liebevoller Klang durchzieht das weite Nichts. Ach, wie wohl man sich hier fühlt, diese Leichtigkeit, und so frei… Individuation, Seelenheil, Ambrosia… Ein Arbeiter hielt eine Schrotflinte in der Hand und hatte die Beine wie ein Rebhuhn aus der Luft geschossen. Man jubelte und klopfte dem Schützen auf die Schulter.
Am Abend gab es ein grosses Essen. Die Arbeiter sassen alle zu Tisch und warteten begierig auf das Mahl. Es wurde gemunkelt, es gäbe Kartoffelsuppe.
«Wir haben Hunger, Hunger, Hunger!», schrien sie im Chor und klopften mit Gabel und Messer im Rhythmus auf die Tische.
«Wir haben Hunger, Hunger, Hunger, haben Durst!»
Unter den Tischen zuckten und zappelten die Beine. Und endlich, jetzt kam es! Man hatte den Unterleib Schimmlers zubereitet und die Arbeiter langten ordentlich zu, auch das Bier floss in Strömen. Es herrschte ausgelassene Stimmung, morgen war Nationalfeiertag und man müsse nicht so früh aufstehen, wie sonst immer.