Januar 2015

schwimmen lernen

von Ulf Großmann
Jahresthema: Zitat
Monatsthema: Januar - März: "Der Mensch ist einer, der etwas stattdessen tut." (Odo Marquard)

Ihr Stillstand knirscht ihr unter den Schuhen und sie ist unruhig. In letzter Zeit bekämpft Marion sich vor allem selbst. Sie hat sich satt.
Die Straße ist so laut. Hoffentlich kommt der Bus bald.
Und sie mag nicht, wie dieses Kind sie anstarrt. Sie kneift die Augen zusammen. Halblidrig sieht sie auf das Kind, als wäre es eine Idee, die es nicht gibt. Nur ein Scheinstreifen, das Kind.
Das kneift die Augen zusammen, um besser zu sehen. Um sie zu fixieren. Umgürtet sie unangenehm.
„Gaff mich nicht so an“, will sie schreien. Sie lächelt. Kann ihr eigenes Lächeln hören. Findet es zum Kotzen. Findet, dass es klirrt, klirrt wie sieben Jahre Pech. Scherbenfressen.
Dann – entwaffnend – die kleine schmale Stimme: „Bringst du mir das Schwimmen bei?“
Sie zögert. Versteht im ersten Moment nicht.
„Nein“, sagt sie. Sieht sich hilflos mit den Armen rudern.
„Du kannst es nicht“, sagt die schmale Stimme.
Sie könnte das behaupten oder zugeben. Sie verzögert. Rollt die Augen. „Doch“, sagt sie. Taucht ins eigene Wasser, sprudelt: „Ich war früher eine Art Nixe.“
„Und?“, fragt das Kind.
„Nichts und.“ Jetzt ist sie im Vorteil. „Nixen sind die besten Schwimmerinnen“, sagt sie.
„Dann bring es mir bei.“
Schweigen. Ein Film hinter der Stirn in schwarz-weiß, ein alter, zu weit und zu Unterwasser für Farbe. In ihrem Hirn ruft sie Hilfe. Will niemand fallen lassen. Sagt: „Es ist ganz einfach.“
„Wie?“
„Frag deine Mutter“, sagt sie.
„Die hat keine Zeit.“
„Ich auch nicht.“
„Nur das Schwimmen“, sagt das Kind.
„So einfach ist es nicht.“ Jetzt könnte sie sich wegdrehen und weglaufen. Ihrem Amoklauf, der in ihren Gedanken lauert, weglaufen.
„Zeig es mir!“, sagt die Stimme, als ginge es um eine Art Fortpflanzung, einen Urinstinkt. Der Gedanke zum Instinkt klingt bei ihr nach. Sie hat keine glücklichen Instinkte. Sie kann nichts dafür.
Es will ihr etwas entlocken. Was soll sie tun? Außer? Wenn es es nicht anders will
„Du musst dich einfach aufs Wasser legen“, sagt sie. „Die Finger breit machen, mit den Zehen wackeln.“
„Dann geh ich nicht unter?“ Die schmale Stimme klingt noch schmaler, ungläubig.
Sie strafft ihren Körper. „Auf keinen Fall.“
„Nein?“
„Nein!“
Das Kind prallt von dem strengen Antwortwort zurück. Sie hat es wohl zu laut ausgesprochen. Herausgepresst und losgeschossen. „Und gleich ins Tiefe“, sagt sie. „Und die Augen geschlossen halten.“
„Dann sehe ich doch nichts.“
Sie hasst diese Besserwisserei. Das erinnert sie an Ohrfeigen. Kann es nicht nicken und verschwinden.
Sie sagt: „Im Wasser sieht man mit geschlossenen Augen.“ Mit dem ungläubigen Gesicht hat sie gerechnet. Sagt: „Probier es.“ Tätschelt seine linke Wange.
Das Kind weicht zurück.
Ihre Hand bleibt in der Luft hängen.
Die Miene des Kindes sagt: „Ich probier’s aus. Danke.“
„Und ertrink mir nicht“, sagt sie. Lacht äußerlich.
„Du hast es mir doch erklärt.“ Das Kind lächelt.
Die glücklichen Grübchen des Kindes berühren sie schmerzhaft. Nein, will sie schreien. Wartet. Wie wortverloren. Entsätzlich, die Sätze. Und sie muss lachen. Laut. Sie lacht sich selbst aus. Schüttelt sich. Schüttelt sich selbst ab, und wird dann ernst.
Das Kind ist weg. Sie wischt die Hände an ihrem Rock ab.
Der Bus kommt. Sie steigt nicht ein. Sieht auf ihre Finger, die sich breit machen. Wackelt in den Schuhen mit den Zehen.