Oktober 2020

Sieben Minuten

von Susanne Tägder
Jahresthema: Klima- und andere Katastrophen
Monatsthema: Fata Morgana

Sie sitzen im ICE, Helen und ihr Sohn, und fahren zum siebenundsiebzigsten Geburtstag eines Mannes, der vergessen hat, was Geburtstag ist. Gerade haben sie Halle verlassen und nähern sich Berlin. Hinter der getönten Fensterscheibe jagt unter Gewitterwolken eine Spätsommerlandschaft vorbei. Sie sprechen nicht oft über den Mann. Sie sprechen überhaupt nicht sehr oft miteinander in letzter Zeit, was an ihrem Sohn liegt, der sich in eine Kapsel zurückgezogen hat seit seine Stimme bricht. Das ist normal in seinem Alter, sagen Helens Freundinnen. Ihr Sohn ist in die Höhe geschossen in den letzten Monaten und klemmt wie ein Keil zwischen den Sitzen. Die Knie hat er gegen die Kante des Klapptischchens gestemmt, seine Nikes baumeln in der Luft, während er auf sein Handy starrt.

Was ihn erwartet, weiss er nicht. Er ahnt nicht, wie schlecht es dem Mann geht. Er weiss nicht, wie unaufhaltsam ein Verstand verschwindet. Woher soll er es auch wissen? Er kam erst vor fünfzehn Jahren in diese Welt, und Menschen seines Alters haben von ganz anderen Sachen Ahnung, wie zum Beispiel dem Geschäftsmodell von Mr. Beast, den besten Proteinshakes für Muskelaufbau oder wo man seinen gesprungenen Handy-Bildschirm ersetzen lassen kann. Verständnisregionen, die Helen selten aufsucht, weil sie hinter dieser Linie liegen, sie nennt sie mal den Generationengraben, obwohl es das nicht wirklich trifft.

Ganz brav haben sie ihre Masken auf, so wie Junjie Shi es auf YouTube erklärt. Helen weiss, dass ihr Sohn, wenn sie nicht dabei wäre, mindestens die Nase aus der Maske befreien würde, und dabei den Waggon nach Zugpersonal abscannen, wegen des Bussgelds, weil er nämlich eine winzige Dosis Widerstand braucht, sie nennt dieses Phänomen mal Revolte in Ermangelung eines besseren Worts, denn eigentlich ist es wohl eher ein Kitzel. Das liegt an den Hormonen, sagt sie sich, an den Nerven, die gespürt werden wollen, aber wenn sie ehrlich ist, war sie selbst auch einmal so.

Sie haben also beschlossen, zu dem fortgeschritten dementen Mann zu fahren, Helen und ihr Sohn. Sie wollen dorthin, um an die Grenzen zu gehen, die Grenzen dessen, was eine liebende Tochter aushält. Korrektur: Helen hat entschieden, dass sie dorthin wollen. Ihr Sohn will gar nicht. Er muss.

Aber in Wirklichkeit nimmt sie ihn mit, ihren Sohn, weil sie dem Mann ohne Verstand nicht allein gegenübertreten will.

Ihr Sohn hat Airpods in den Ohren, spielt Among Us mit fliegenden Daumen, fast ohne Pause starrt er auf den Bildschirm in seiner Handfläche und gelegentlich mal durchs Fenster nach draussen, wo hinter stiftförmigen Regentropfen die ersten Skizzen der Stadt sichtbar sind. Der Regen hinterlässt Notizen auf dem Fenster, einen Strichcode, und der süsse Geruch der Nässe schafft es durch die Klimaanlage ins Innere des Waggons. Wahrscheinlich hört man draussen auch Donner, aber hier, in der rasenden Röhre, abgeschottet vom Naturphänomen, von Sinn und Ratlosigkeit in der Welt, da sind sie im Dazwischen, einem alterslosen Hier und Jetzt, dem sie erst entsteigen, wenn sie ihr Ziel erreicht haben – in ihrem Fall den Südbahnhof von Berlin.

Oder Rom oder Freetown oder Antananarivo würde ihr Sohn sagen, der alle Hauptstädte der Welt kennt, aber in keine davon reisen will, denn auch er ist am liebsten zu Hause in seinem blaugestrichenen Zimmer mit Staubflocken unter dem Bett, die Zeugnis ablegen von einem Machtkampf, der zwischen ihnen tobt – mein Staub, dein Staub, heisst dieser Kampf. Es geht vordergründig um Staub, aber in Wirklichkeit geht es ums Verursacherprinzip. Helen darf sie nicht wegsaugen, diese Flocken, das wäre ein Grenzübertritt, denn sein Staub gehört ihm, so wie seine Erziehung zum Staubwischen Helen gehört.

Auch jetzt sagt sie nichts, sie schluckt die Worte hinunter, die ihr entweichen wollen, als sie in die Hauptstadt einrollen, die inhaltslosen Worte: Wir sind da. Die Fahrgäste werden gebeten, keine Gegenstände im Zug zurückzulassen. Helen hält ihren vergessenswertesten Gegenstand, einen Schirm, mit verkrampfter Faust auf dem Bahnsteig voller maskierter Menschen, weiss, blau, schwarz, geblümt, die sich zur Rolltreppe drängen und den süssen Geruch des Gewitterregens unter zwei Lagen Stoff gerade noch ahnen.

Der Mann ohne Gedächtnis lebt in einem weinberankten Haus im südlichen Teil der Stadt in einer Strasse, deren Namen er nicht mehr kennt. Er weiss auch nicht, dass es Himmelsrichtungen gibt, oder Töchter und Enkel. Geburtstage? Um ihn herum sitzen die Menschen, die ihm am meisten bedeuten, sagt Helens Schwester in ihrer Geburtstagsrede. Woher hat sie diese Gewissheit? Helen besitzt niemals Gewissheit. Wenn sie ehrlich ist, weiss sie nicht mal, wie Gewissheit sich anfühlt. Zu viel, was in ihrem Leben gewiss schien, entpuppte sich als Luftspiegelung. Damals zum Beispiel, als sie nach Spanien zog, weg von zu Hause, hin zu einem Mann, der sie sieben Jahre später wegen einer anderen verliess. Und auch jetzt nicht, jetzt schon gar nicht, denn ihre Zukunft will einfach nicht Gestalt annehmen. Sie schimmert formlos vor einem Horizont aus Wolken, ein Asphaltflirren, mehr nicht. Helen ist offiziell, so wissen es alle hier Anwesenden, Cellistin. Doch in Wahrheit hat sie kaum Engagements und lebt von diversen Nebenjobs, darunter auch an der Kasse bei Lidl. Ein studentisches Leben, wie ihre Schwester befindet. Dabei ist Helen längst über vierzig.

Als wie aus dem Nichts ein selbstgebackener Zwetschgenkuchen und eine Schüssel Schlagsahne auf dem Tisch unter der Pergola erscheinen, da glaubt Helen, ein kurzes Leuchten auf dem Gesicht des Mannes aufflackern zu sehen. Vielleicht war es auch nur die Kerze, die in diesem Moment entzündet wird. Sie singen „Zum Geburtstag viel Glück“, und als sie fertig sind, klatscht der Mann und sein Mund fragt über der bekleckerten Serviette: Wer bist du?

Die Frage gilt Helen. Der Mann ohne Erinnerung kennt jeden am Tisch ausser ihr. Plötzlich weiss sie, dass der Mann sehr schlau ist. Er kann sie lesen. Er versteht, dass Helen eigentlich gar nicht da ist, sondern zu Hause geblieben bei den Staubflocken und dem blauen Jugendzimmer, dem Geruch von Verzweiflung und dem Cello, das am Regal lehnt und auf seinen nächsten Einsatz wartet. Ich unterrichte nicht mehr, will Helen dem Mann erzählen. Sie will ihm von ihrem Beruf erzählen, der plötzlich brotlos geworden ist. Von den Corona-Zahlen, die sie noch vor dem Wetterbericht konsultiert, von ihren Ängsten, deren grösste erst kürzlich mit dem Label „Angst des Monats“ ausgezeichnet wurde und mit ihrem Foto für alle sichtbar über dem Kopiergerät hängt. Ihre Angst heisst: „Gefühle zeigen“ und hat die Dimension einer Zucchini, die man im Garten ungebremst wachsen liess.

Helens Sohn beugt sich über den Tisch und schneidet für den Mann ohne Verstand eine Geschenkbox auf. Die Box ist mit rotem Geschenkband verziert und die samtene Schleife, die nach dem Schnitt zur Seite rutscht, erregt die Aufmerksamkeit des Mannes, der Geburtstag nicht kennt. Man reicht sie ihm. Er tastet, fühlt, legt sie auf seinen Teller. Kaum ist das Band komplett durchtrennt, springt das Geschenkpapier auf wie ein Klappzelt, es wölbt sich frei und entblösst in seiner Mitte ein Buch, eines, das der Mann ohne Wissen nie lesen wird. Es ist ein selbstgemachtes Buch mit Fotografien. Jemand erklärt, dass darin die schönsten Familienfotos gesammelt sind und zwar aus sieben Jahrzehnten. Erinnerungen für einen Mann, der keine mehr hat.

Ihr Sohn, der nie Klavier übt, sitzt am Flügel und spielt. Der Mann ohne Geburtstag ruht sich mit Abstand im Sessel am offenen Fenster aus und hört ihm zu. Dabei lächelt er selig wie jemand, der keine Erinnerung braucht. Der Mann hat plötzlich sehr viel Ähnlichkeit mit einem Mann, den Helen schon immer zutiefst geliebt hat. Gegen den sie angerannt ist wie gegen einen Limes. Zum Beispiel als sie ihr Studium hinschmeissen wollte. Du bist eine Künstlerin hat er gesagt, mach was draus. Den sie enttäuscht hat, als sie dem Mann hinterherrannte, der sie später verliess. Und hier kommt sie nun zum Kern der Dinge, zu einer Wahrheit, die sie jetzt, hier, im Korbsessel im weinberankten Haus, wegleugnen möchte. Sie ist in ihrem Leben zu vielen Fata Morganas hinterhergerannt.

Ihr Sohn spielt die immergleiche Sequenz, während Helen sich neben den Mann ohne Erinnerung kniet und ihm sagt: Ich bin´s Papa. Die Hand des Mannes hebt sich von der Armlehne und beginnt, in der Luft herumzurühren. Er dirigiert. Helen greift nach der Hand, die erstaunlich drahtig ist, wenn man bedenkt, dass der Wille eben jenem Kopf entspringt, der nicht mehr funktioniert.

Sie dirigieren zusammen Mozarts Sonata, gespielt von Helens Sohn, seinem Enkel, den er kennt. Natürlich kennt. Er kennt auch das Stück. Er weiss alles. Wie konnte sie das nur bezweifeln? Helen taucht ein in selige sieben Minuten, in denen sie die Welt lenken dürfen, nur sie drei und ein verstimmter Flügel. Ein Trio der Bemitleidenswerten, einer kopflos, eine gefühllos, einer sprachlos. Sie sind ein präzises Abbild der Welt.

Sie sitzen wieder im Zug, Helen und ihr Sohn. Er spricht (spricht!) von einem neu entwickelten Flugtaxi, elektrisch, einem eiförmigen Ding, das in der Zeitung auf Helens Schoss abgebildet ist. Er erzählt ihr, dass es noch vor 2030 einen hybriden Passagierjet geben wird, die Batterien mit Kerosin betrieben, mit Platz für siebzig Leute. Möglich ist noch viel mehr, sagt er. Aber die Batterien seien das Problem. Einfach zu schwer. Während er spricht, spielt er Pixel Art. Seine Worte sind gedämpft unter der Maske, und als er vor lauter Redseligkeit ausser Atem gerät, dehnt er die Maske ein stückweit nach vorn. Entblösst einen blonden Flaum auf der Oberlippe. Helen hört zu und wird beim Zuhören von einer Woge der Liebe überrollt. Es ist ein grandioses Gefühl, oder, um es mit Romain Rolland zu sagen, ein ozeanisches Gefühl, hier zu sitzen und einen Sohn zu haben, der ihr von der Zukunft erzählt. Die Welt renkt sich ein unter seinem Blick, die Luftspiegelungen am Horizont nehmen Gestalt an. Es wird bessere Zeiten geben, batteriebetriebene Flugtaxis und Nachfrage nach Cellos. Der Mann ohne Geburtstag weiss es auch, es steht alles in seinem Buch, schwarz auf weiss. Dass Helen ihn liebt, steht darin. Sie muss es nicht aussprechen. Woher hat sie plötzlich diese Gewissheit? Sind es die sieben Minuten Mozart, diese Blase von Glückseligkeit, die sie gemeinsam erlebt haben? Helen schaut aus dem Fenster und starrt in die getönte Landschaft. In ihrer Hand hält sie ihr Telefon und unter dem Telefon eine samtene Schleife.