Stillleben
Sie wohnten schon so lange im Haus am ehemaligen Rebberg, dass niemand in der Nachbarschaft sie anders als alt kannte. Eine kleine, zart gebaute Frau und ein hagerer, mittelgrosser Mann mit starken, lupenhaften Brillengläsern.
Abends machte das Paar einen Spaziergang mit dem ebenfalls bejahrten Hund. Bei schlechtem Wetter gingen sie nur ihrem Strässchen entlang, den ehemaligen Rebweg hinauf und die obere Strasse wieder zurück. Eine langweilige Runde, die sie im Sommer mieden. An den langen, hellen Abenden gingen sie weiter, zur Allmend hinauf, zum Flarz oder zum Holzlager.
David hielt sich sehr gerade. Mit den nur wenig grau melierten Haaren wirkte er von weitem kaum wie ein alter Mann. In der Nähe sah man allerdings, dass ein Netz von feinsten Falten und Runen sein Gesicht überzog. Das Haar seiner Frau Anna war seit langem schneeweiss. Sie hatte es früher gefärbt, war aber bald wieder davon abgekommen. Nun leuchtete es beim Einnachten durch den Garten wie weisse Sommerblumen leuchten, als würden sie von innen heraus erglühen.
Sie sprachen wenig oder gar nicht auf ihren abendlichen Gängen. David rief manchmal den Hund oder pfiff nach ihm. Er hatte meist seinen Arm in denjenigen Annas geschoben oder hielt ihn leicht oberhalb des Ellbogens. Früher rauchte er manchmal eine Pfeife, eine würzige Tabakmischung, die ihnen wie eine duftende Spur folgte.
Unterwegs bückte er sich immer wieder, sammelte herumliegende Föhrenzapfen, die er an der Sonne trocknete und mit ihnen das Kaminfeuer heizte, das oft brannte, im Winter fast durchgehend, im Sommer bei jedem kleinen Kälteeinbruch.
Das Haus war viel zu gross geworden für die zwei alten Leute. Jahrelang hatten sie Umbaupläne besprochen. Sie wollten eine kleine, bequeme Wohnung für sich einbauen, den Rest vermieten. Dann entschlossen sie sich, das Haus zu verkaufen und eine Stadtwohnung zu suchen in der Nähe von Geschäften, von Einkaufsmöglichkeiten.
Sie schauten viele Wohnungen an, moderne und alte; gingen fremd durch fremde Zimmer. Sie konnten sich ihr Leben darin nicht vorstellen und sehnten sich geradezu schmerzlich nach dem Garten und der weiten Aussicht. Eines Tages sprachen sie nicht mehr vom Umbauen und auch nicht mehr vom Ausziehen.
Die ehemaligen Kinderzimmer waren ohnehin fast leer. Es standen nur noch ein paar vergessene Sachen darin, der alte Spielschrank mit den Schiefertafeltüren und zwei weissgestrichene Kinderstühlchen im einen, Noras Spinett im anderen Zimmer. Das Spinett war immer wieder Gegenstand von langen Telefongesprächen. Nora wollte es seit Jahren abholen. Es fehlte ihr jedoch der Platz dazu, und so blieb es schliesslich wo es war. David spielte manchmal ein paar Takte darauf, wenn er in die oberen Räume kam, gab es aber bald wieder auf. Man hätte es unbedingt stimmen müssen, aber der Stimmschlüssel war seit langem unauffindbar.
Dem ehemals gepflegten Garten liess man seinen Willen. Die Blumenrabatten verschwanden, Büsche und Sträucher breiteten sich aus, während die Rosen üppiger blühten als zur Zeit ihrer besten Pflege. Ein älterer Mann erschien nach eigenem Gutdünken von Zeit zu Zeit, um das Gras zu mähen. Im Frühjahr schnitt er ohne grosse Fachkenntnisse auch die Bäume. Anna und David zerkleinerten dann wochenlang die abgeschnittenen Äste zu Anfeuerholz.
Es wäre möglich gewesen, die Lebensmittel telefonisch in einem kleinen, gepflegten Geschäft im Nachbardorf zu bestellen. Anna tat dies auch einige Male. Man musste jedoch, damit die Lieferung sich lohnte, grössere Mengen bestellen, und dazu benötigten sie nicht genug.
Das Einkaufen wurde ihnen immer beschwerlicher, und schliesslich sah man die beiden nicht mehr langsam den Berg hinaufsteigen, die schweren Taschen niedersetzen und verschnaufen. Eine Nachbarin schickte ihnen manchmal Gian Franco vorbei und Anna nahm auch ein paarmal seine Hilfe an. Er fuhr pfeifend auf seinem Mofa davon, besorgte Waschpulver und Knäckebrot, Salz und Teebeutel, elektrische Birnen, schwarze Schuhbändel und Briefmarken, wenig Essbares.
Das Haus sah nicht eigentlich verkommen aus, nur ein wenig vernachlässigt. Moos wuchs auf der Garageneinfahrt und die weisse Bank unter dem Apfelbaum sank immer tiefer in den Boden.
Es stand eine Stille ums Haus, ein Warten, wie angehaltener Atem. Die Musik, die man im Sommer bei geöffneten Fenstern hören konnte, schien diese Stille noch zu verdichten.
Anna und David sassen einander gegenüber am Fenster oder nebeneinander am Kaminfeuer und hörten der Musik zu. Anna hatte meist eine Näharbeit im Schoss. Sie flickte und besserte Wäsche aus, die vom Tragen und Waschen hauchdünn geworden war und überall brach. Sie stopfte und ergänzte Stellen, die ganz fehlten. Sie verwebte Dünnes, um ihm neuen Halt zu geben, umstichelte Säume und Kanten und schuf im Laufe der Zeit Neues, kostbare Spitzenunterwäsche aus Flicken und Flecken in vielen verschiedenen Rosaschattierungen, in feinster Handarbeit.
Der Arzt hatte darum Annas Unterrock und Hemd wahrscheinlich nicht als geflickt erkannt, als David ihn eines Abends kommen liess, weil Anna gestürzt war und nun blass und mit geschlossenen Augen im Wohnzimmer auf dem Sofa lag.
Er hatte voll Bewunderung den festlich gedeckten Tisch angesehen, das Zwiebelmustergeschirr, den Zinnteller mit dem grossen Stück Käse, umgeben von einer köstlichen, wie mit Tau beschlagenen Weintraube, einer Birne, einem Apfel und ein paar Nüssen. Rotwein stand in einer altmodischen Karaffe daneben und in einem Glas mit breitem Goldrand eine voll erblühte Rose.
Er hatte mit einem Nicken gegen den Tisch gemeint, er hoffe, sie erwarteten heute keine Gäste zum Abendessen; denn er müsse Anna ins Krankenhaus bringen lassen, er vermute, sie habe den Knöchel gebrochen.
Nein, sie erwarteten keine Gäste, hatte David kurz erwidert. Er hatte dem Arzt den Weg zum Telefon gezeigt und war selber zurückgegangen ins Wohnzimmer, hatte sich zu Anna gesetzt, ihre Hand in die seine genommen und sie so lange angesehen, bis sie die Augen aufschlug.
«Soll ich den Tisch abräumen?» hatte er leise gefragt.
Sie nickte kaum merklich.
«Werde ich es auch können? Glaubst du, dass es mir gelingt?»
Wieder nickte sie: «Du beginnst mit der Rose. Aber das weisst du ja».
Er stand auf, horchte, ob der Arzt noch telefonierte und stellte dann behutsam die Rose in den goldenen Bilderrahmen an der Wand zurück, den Zinnteller mit dem Käse und den Früchten daneben, die Karaffe drehte er, bis der Wein dunkelrot aufleuchtete. Den Teller mit dem Zwiebelmuster rückte er in den Vordergrund und legte das gebrochene Brot darauf.
Den zweiten Teller stellte er in den Schrank zurück.
Als der Arzt meldete, es werde bald ein Krankenwagen kommen, um Anna abzuholen, lagen nur noch zwei Servietten auf dem Tisch und ein silberner Weinuntersetzer.
Sie wechselten noch ein paar höfliche Worte, wie lange der Spitalaufenthalt wohl dauern würde. Ob David sich allein weiterhelfen könne oder ob man ihm eine Hilfe senden solle.
Doch das hatte David abgelehnt und gemeint, es werde schon irgendwie gehen.