Streichholz, streichle das Holz – Hedwig, meine Schwester
Die Tage kreuzen sich. Die Wellen steigen höher.
Die Seesterne klammern sich an meine Wangen.
Und der lange Tag schmiegt sich an den Hals. Tang.
Ich schaue in die Ferne. Ich suche die Schiffe.
Ich höre nichts. Ich höre nichts.
Ich habe vergessen, wie Menschen riechen.
Nichts hören heisst in einem Aquarium leben. Überleben, ohne zu wissen, was die anderen sagen, nur noch sich hineinfühlen, was die anderen denken könnten. Nymphe sein, ergeben, allein, abgekapselt, angefasst, aber weitergegeben. Es gibt keine Perspiration im Aquarium, da ist schon überall Wasser, Hautatmung, dass man ersticken möchte. Doch wer gelernt hat zu schwimmen, wird immer tiefer tauchen können.
Ein Mädchen singt im grauen Morgenlicht in einem grossen Raum, einsam sitzend auf einem Stuhl, seitlich angelehnt, etwas vornübergebeugt, und schaut Richtung aufgehende Stadt. Es ist beinahe eine junge Frau. Hedwig, meine Schwester. Man hat das Gefühl, dass sie schon lange so dasitzt und wartet. Und dass sie das jeden Morgen tut, auch wenn die Berge um die Stadt verhangen sind. Wir haben nicht genügend Zeit, uns alles zu merken, wir haben nicht genügend Zeit, uns alles anzusehen. Diese tiefblauen Nächte, in denen der Himmel der aufgehenden Sonne zuglüht. Wie kann man diese Schönheit verkraften, vergehen sehen? Indem man sie gehen lässt. Ihr Gesicht ist starr, konzentriert. Blick um Blick geht in sie hinein. Sie schaut alles lange und aufmerksam an, schaut in eine Richtung, dann in eine andere. Wie eine Nachteule am Tag im Zoo, wenn sie aufgeschreckt den Kopf aus den Federn hebt und ihn von einer Seite zur anderen dreht, ohne sich sonst zu bewegen. Und sie singt. Es ist, als ob sie schärfer, exakter, wahrer sehen wollte. Wenn man singt, ist alles intensiver.
Hedwig hat einen Bruder. Er steht nun im Türrahmen und betrachtet sie lange. Er sieht sie sitzen in dem grossen Zimmer, es ist warm, aber es wirkt so sehr kalt, weil es nicht eingerichtet ist. Da sind nur das Bett und ein Stuhl und ein paar Kleider auf einen Haufen geworfen am Boden, ein kleines Stück Papier daneben. Ihr Bruder schaut sie an, diese weisse Gestalt, die sein Kostbarstes ist. Seine Augen sind stark, aber ganz hinten mit einer wehmütigen Trauer erfüllt, dass er sie wieder auf dem Stuhl findet, kaum genug warm gekleidet für den Tag. Hedwig ist früh aufgestanden, getrieben vom Sehen. Wir haben nicht genügend Zeit, uns alles zu merken, wir haben nicht genügend Zeit, uns alles anzusehen. Wir sehen in die Weite, wir haben alles gesehen und doch nichts verstanden. Da ist immer diese Spalte, die alles lautlos trennt. Etwas Licht kommt rein, aber fast alles ist dunkel. Jeder flieht und fliegt in seine eigene Nacht.
Aber es gibt viele Nächte und ihr Bruder kommt aus einer anderen. Ach, wie sind unsere Nächte verschieden und nur manchmal finden wir zueinander. Er kommt von der Nachtschicht unter den Brücken. Von der Organisation aus hatten sie Decken verteilt. Es war anstrengend gewesen, die Obdachlosen zu bewegen, sich wärmer zu kleiden, die Decken anzunehmen. Ab einem gewissen Punkt ist einem alles egal, auch das eigene Leben, man ist dann beinahe bereit, es dankbar abzugeben, wenn jemand anders danach fragen würde. Und wenn dann die Wärme zurückkommt, dann kommt der Hunger, dann die Nässe, die schmerzenden Glieder vom viel zu kalten Stein und Zwicken, das Leben ist. Heute hatten sie viele gefunden. Aufgedeckt und zugedeckt. Und ein paar mitgenommen zu der Heilsarmee. Türen klappen auf. Heimatlos sein, ist mit nackten Fusssohlen nachts die Strassen beschreiben und nicht gelesen werden. Vergessen werden. Und dann die leichten Mädchen da draussen, auch im Schnee, sie wirbeln rum, wissen vor Kälte nicht, wohin zu stehen und lassen sich nur noch treiben. Leichtes Mädchen. Es gibt keine leichten Mädchen. Sogar die leichten Mädchen sind schwer und dunkel und traurig und wissen nicht, was sie tun. Er ruft leise nach der Schwester. Mehr wie zu sich selbst. Damit da eine dunklere Stimme im Raum ist zu ihren fliessend hellen Tönen. Sie ist schuldlos, so fein, so störrisch. Sind alles Falter und fliegen in die Nacht. Wissen von nichts. Nachtling, Schmetterfalter, die Metamorphose zum Schmetterling kommt noch. Hege deine Träume und sprich sie manchmal aus.
Heisse Schokolade von der Organisation und Brot vom Beck. Das Mädchen hat ihn nicht gehört, wie könnte es auch. Aber irgendwann dreht es sich um, etwas abrupt und lachend, weil es die Schokolade gerochen hat. Es eilt auf ihn zu, er auch, beinahe überwältigt von dieser blassen Freude. Er zittert und stellt die Dinge ab, hebt die Schwester auf und umarmt sie. Sie lachen und er redet auf sie ein. Er kann ihr alles erzählen und sie wird seinen Lippenbewegungen nachfahren mit den Augen, um einen Teil der unbekannten Welt dort draussen zu erahnen. Er gestikuliert, unterstreicht die Erinnerungen. Sie kann singen ohne Worte und schreiben und lesen und sehen. Aber nur seine Bewegungen und die tiefen Augen und die Veränderungen von Tag zu Tag erzählen ihr alles. Hedwig streicht eine dünne Decke auseinander, die sie sich über die Beine gelegt hat, fasst den Stoff an, man sieht, mit welcher Innigkeit sie die Textur aufnimmt, vergleicht, deutet, etwas hineinträumt. Es gibt keine Fehlempfindung. Alles fängt mit einer kleinen Realität an, die man auf sich selber übersetzt, in sich selber hineinsetzt. Und dann wartet man, bis sie beginnt zu brennen. Sie sitzen am Boden und essen sein Mitgebrachtes. Sie haben genügend Zeit. Wiedersehen. Wieder sehen.
Waisenkinder. Und wir alle werden Waisenkinder sein. In jedem Leben kommt die Zeit, wo wir Kinder von Toten sind. Dann wissen wir plötzlich nicht mehr, in welche Richtung zu schauen. Welchen Weg wollen wir weitergehen? Wollen wir uns opfern für die Toten oder wollen wir leben für die Toten? Oder wollen wir nichts mehr, weil nichts mehr Sinn macht? Müssen wir einfach weiter, weil alle weitergegangen sind, vor uns? So wird es sein. Und manchmal ist da noch jemand da, um den wir uns sorgen. Den nehmen wir dann mit in unser eigenes Heim, an der Hand in unser eigenes Herz, in unseren eigenen Käfig und wir sperren uns zusammen ein und sitzen zusammen an der Wärme, um uns zu spüren. Und wir werden dann auch zusammen lachen, weil wir wissen, wovon wir reden. Und wenn wir uns verlieren werden, so leben wir doch Bäumen gleich weiter, können nicht mehr, können nicht mehr miteinander reden, aber werden zusammen älter, reifer, anders. Aber wir dürfen uns nicht verlieren. Man wählt nicht, was man liebt.
Wenn die Schwester eine Katze wäre, ihre Augen würden grün leuchten, gerade heraus starr. Alles ansehen und dann würde sie sich umdrehen und um meine Beine streichen und mich fragen, wann wir endlich gehen werden, raus in die Welt. Hedwig träumt viel. Sie träumt oft denselben Traum. Den Traum vom Zwerg, der sie hören macht. Im Traum sitzt der kleine Zwerg auf ihrer Schulter, sein Rücken etwa so lang wie ihr Ohr. Und dann steht er auf und flüstert und bläst ihr etwas ins Ohr. Er pustet und hustet und krächzt und endlich kommt dann der ganze Vers heraus und er sagt ihn ihr auf und sie hört zu: «Warst du schon einmal dort, wo die Blumen übernachten? Wo die Falken deine Träume heimwärts ziehen, wo deine Wimpern zu Federn werden? Wo die Kieselsteine Diamanten gebären und der Wind die Zeit rückwärtsdreht? Warst du schon einmal in jenem Wald, wo die Blätter nachts leuchten, dass die Sterne weinen müssen? Wo die Eulen deine Gedanken lesen und dich nicht mehr nach Hause zurückkehren lassen? Wo Nachtigallen durch deine Adern fließen und du vor Liebe toll wirst? Reibe die Kräuter, die ich dir jetzt gebe, mit dem Pistill, und vertraue. Schreibe den Vers auf und erst, wenn du ganz sicher bist, dass du ihn kennst, wenn du sicher bist, dass du fliegen kannst, dann verbrenne ihn.“ Diese winzig kleinen Härchen, die sich wie Beinchen emporstrecken, wenn etwas Neues in der Luft liegt. Sie hatte den Vers auf ein Papier geschrieben. In unseren Augenblicken liegt die Zukunft.
Hedwig brennt, sie muss die Flamme in ihrem Innern erhalten. Sehen, sehen, fühlen und verstehen. Verstehen versuchen. Da ist nicht immer genug Licht, um alles zu erleuchten, auszuleuchten, um zu Feuer machen. Phosphorgeruch, gezündete Streichhölzer helfen zu wärmen, zu entfachen, zu sehen, zu leben. Kleine glimmende Späne, wie Sternschnuppen, vergehen sie im Dunkel. Und Hedwig streichelt das Holz, zündet es an, das Streichholz, damit es endlich brennen kann und mit seiner Flamme das Papier mit dem Vers entfachen kann. Sind alles Falter und fliegen in die Nacht. Wissen von nichts. Nachtling, Schmetterfalter, die Metamorphose zum Schmetterling. Hege deine Träume und sprich sie manchmal aus.
Die Tage kreuzen sich. Die Wellen steigen höher.
Die Seesterne klammern sich an meine Wangen.
Und der lange Tag schmiegt sich an den Hals. Tang.
Ich schaue in die Ferne. Ich suche die Schiffe.
Ich höre. Ich höre.
Ich werde lernen, wie Menschen gehen, weinen und singen.
Flieg, Hedwig, flieg.