Streuner
Der Wecker summt, der Mann schnarcht, die Vögel singen, alles ist wie immer und doch: Wie ein Seismograf, der die allerfeinsten Erschütterungen aufzeichnet – es ist ein Beben der Stärke zwei auf der Richterskala – spüre ich den Bruch, das Ächzen im Gebälk. Ich schäle mich aus den Daunen, töte den Wecker, horche, horche ganz tief, ein und wieder aus. Der Kater springt aufs Bett. Er riecht nach Wald, feuchter Erde und nach Mord. Ich stehe auf und betrachte die Maus. Ihre Gedärme liegen verstreut wie liegengelassene Wäschestücke, hier die Blase, dort ein Stück Darm, nur scheinbar planlos. Als Belohnung kraule ich ihm den Bart, in dem schon graues Stichelhaar spriesst, den verlängerten Rücken, den er mir auffordernd entgegenreckt, spüre den Speichel auf meinem Unterarm. Er ist leck geschlagen, tropft aus Orten, aus denen er früher nicht getropft hat. Darin unterscheiden wir uns nicht grossartig.
Was für ein gutes Tier, denke ich. Er bohrt seine Krallen in die edle Bettwäsche, zieht einzelne Kettfäden aus der merzerisierten Baumwolle und schnurrt mit Nachdruck. Wir schenken uns nichts.
Der Kater war ein Streuner gewesen, genau wie der Mann. Ich behielt beide, pflanzte sie in mein Habitat und beobachtete, wie sie Wurzeln schlugen. An das Jahr erinnere ich mich nicht mehr, aber an den Tag an dem sie vor meiner Türe standen. Es war der dreizehnte Tag eines neuen Jahres gewesen, ein Dienstag. Der Kalender in der Küche hing noch unverplant und ich wollte ihn nicht enttäuschen. Ich gab dem Kater keinen Namen; der Mann hatte seinen mitgebracht. Wir wurden eine Dreiecksgeschichte zwischen Bett, Kühlschrank und Toilette, teilten die Kalendereinträge der Reihe nach. Der Kater liebte Poulet-Filets, handwarm und mundgerecht zerteilt, der Mann Schweinekoteletts. Ich trank Sojaeiweiss. Irgendwann stellte er seine Möbel neben meine, legte seinen Schlafanzug unters Kopfkissen und vermählte unsere Zahnbürsten im Glas – und ich sagte nichts. Der Mann hingegen sprach oft und viel, und wenn er mal verstummte, sprach die Glotze. Mit der Zeit wurde er schwerhörig, bekam ein stumpfes Fell und schlechten Atem. Meine kleine Wohnung wurde verkehrsberuhigt, mit Bremsschwellen aufgepflastert und wir steckten im Stau. Der Mann hatte den Motor abgewürgt und ich sägte am Baum, aber die Wurzeln starben nur langsam. Der Streuner musste den Verfall gerochen haben, pirschte immer öfter durchs Revier und wilderte am Ende nicht weit von Zuhause. Der Nachbar war verreist, die Nachbarin rothaarig. Ich beschloss, den Kater auf Diät zu setzen – und sagte nichts.
Ich gehe auf die Toilette, hole Klopapier, inspiziere die Maus oder das, was von ihr noch übrig ist. Die Vögel haben aufgehört zu singen, der Mann schnarcht weiter. Ich packe den verteilten Körper, renne ins Bad, öffne die Kloschüssel und lasse ihn ins Wasser gleiten. Er rutscht mit einem leisen «Plopp» bis ganz nach unten durch und wartet. Panisch betätige ich die Spülung, drücke bis mein Daumen weiss, und die Maus durch den Siphon ist. Es dauert ewig, bis auf der Toilette wieder Ruhe einkehrt, doch es wird nie mehr ganz still sein. Ich schlurfe in die Küche, zücke den Kugelschreiber, markiere den nächsten freien Dreizehnten und sage: «Umzug …», so laut, dass nur ich es höre.