Südwärts
Südwärts
Sie überlegte sich, wann sie zuletzt baden war. Es musste damals gewesen sein, im Flussbad, mit der Freundin. Die vielen Leute, an denen sie sich vorbeizwängen musste, um überhaupt zum Wasser zu gelangen, störten sie, und sie fürchtete sich, auf dem feuchten Holzrost auszurutschen, obschon dieser gar nicht glitschig war. Als sie das Schwimmbad verliessen, sagte die Freundin zu ihr, sie habe sich so komisch bewegt, worauf sie sagte, ihr sei unwohl gewesen. Mit der Freundin hat sie schon lange keinen Kontakt mehr, das Flussschwimmbad gibt es noch. Wenn sie im Sommer daran vorbeifährt, sieht sie die Leute dicht nebeneinander in der Sonne liegen.
Fragte sie früher jemand, ob sie diesen Sommer schon schwimmen war, sagte sie: Ich mag es nicht, im Wasser zu sein, ich bin ein erdverbundener Mensch. Das war ein wenig gelogen. Später sagte sie, ich habe keine passende Badehose, was stimmte, denn sie besass einen Bikini, den sie vor mehr als zwanzig Jahren in der kleinen Stadt gekauft hatte, den sie aber nicht mehr tragen wollte.
In der kleinen Stadt, wo sie aufgewachsen war, ging sie baden, im Winter und im Sommer. Im Sommer hatte sie ihren festen Platz, weg von den vielen Leuten beim Sportbecken, wo sie ihr Badetuch auf der aus Beton gegossenen Stufe neben dem Becken ausbreitete. So war sie im Nu im Wasser, musste keine langen Wege gehen, bei denen ihr die Leute hinterher schauten und ihren Körper studierten, so wie sie die Körper anderer studierte.
Sie zog weg aus der kleinen Stadt in die mittelgrosse Stadt. Ein paar Jahre später zog sie wegen des Studiums von der mittelgrossen in die grosse Stadt. Es war schon immer ihr Wunsch gewesen, wegzuziehen aus der kleinen Stadt, die sie als eng empfand. Sie mochte es nicht, auf der Strasse Leute anzutreffen, mit denen sie sich zu einem Gespräch verpflichtet fühlte. Sie war am liebsten allein, und sie sehnte sich nach einem Freund.
In der kleinen Stadt redete man etwas abschätzig von der grossen Stadt «da unten». Tatsächlich lag sie weiter südlich, doch dieses «da unten» meinte eine weitaus grössere Distanz als nur die geographische. Sie umfasste auch den schnoddrigen Dialekt, der in der grossen Stadt gesprochen wurde, die vollkommen andere Landschaft, die sie umgab. Im Grunde wollte man nichts zu tun haben mit einer Stadt, wo die Luft schmutzig war und man hinter dem Bahnhof von Rauschgiftsüchtigen mit Spritzen bedroht wurde.
Ihre Umzüge von einer Stadt in die andere waren nie ganz radikal vonstatten gegangen. Etwas zwang sie, immer wieder zurückzukehren: In der kleinen Stadt hatte sie noch lange ihre Bankfiliale, und in der mittelgrossen Stadt ihre italienische Friseuse, die wie keine andere bestens mit ihrem dicken, störrischen Haar umzugehen wusste.
Bereits in der mittelgrossen Stadt hatte sie aufgehört zu schwimmen. Sie bemühte sich nicht darum, ein für sie geeignetes Bad zu finden, denn einen so schönen Platz wie jenen im Schwimmbad der kleinen Stadt gab es nirgendwo sonst. In der grossen Stadt war sie mit dem Studium beschäftigt, und so blieb auch gar keine Zeit, sich mit solchen Dingen zu beschäftigen, kam hinzu, dass sie abgenommen hatte; so mochte sie sich im Schwimmbad nicht mehr zeigen.
Nicht im Flussbad war sie zuletzt schwimmen gewesen, sondern im Meer. Mit ihrem Freund, den sie im vierten Studienjahr kennen gelernt hatte, ging sie nach Tarquinia, um sich für die Prüfung in Archäologie vorzubereiten. Tag für Tag stieg sie in etruskische Gräber hinab. Einen Nachmittag gab sie sich frei. Sie nahmen den Bus zum Strand. Ihr Freund sammelte angeschwemmte Äste, steckte sie in den Sand und spannte das gemusterte Tuch darüber. Das gelang erst nach einigen Versuchen, denn der Wind drohte das Tuch immer wieder mit sich fortzutragen. Abends gingen sie barfuss auf dem aufgeweichten Asphalt in die Stadt zurück, und er warf ihr vor, ihren Körper zu verstecken. Ich trage doch einen Bikini, sagte sie, der ist ganz und gar unsexy, sagte er darauf, sieh dir mal die Italienerinnen an. Sein Vorwurf machte sie wütend, dennoch klang etwas bei ihr an. Sie wusste, dass sie für ihre Grösse zu dünn war, wenn sie dies auch die meiste Zeit verdrängte, bis sie jemand darauf ansprach und sie aus allen Wolken fiel. Sie war auch nicht wie viele andere Frauen, die Röcke trugen und mit engen T-Shirts ihren Busen betonten. Im kühlen, abgedunkelten Hotelzimmer bemerkte sie den Sonnenbrand, den sie trotz des Schatten spendenden Tuchs abbekommen hatte. Ihr Freund durfte sie nicht mehr anfassen und nannte sie fortan Krebslein.
Kurz nachdem sie ihr Studium abgeschlossen hatte, machten sie Schluss. In der Nähe ihrer Wohnung verabschiedeten sie sich voneinander. Sie umarmten sich. Sie begann zu weinen, und an den Zuckungen, die seinen Körper durchliefen spürte sie, dass auch er weinte. Es war ihr völlig egal, was die Leute um sie herum dachten. Sie standen lange so da, dann löste er sich von ihr, reichte ihr die Hand und sagte, mach’s gut. Sie schaute ihm hinterher, bis sie ihn im Gewusel unter der Brücke aus den Augen verlor. Sie blickte zu Boden. Auf dem Asphalt bemerkte sie einen feuchten Fleck, den sie als die Summe ihrer Tränen betrachtete, der bei genauerem Hinsehen jedoch ein Ölfleck war.
Sie erinnerte sich, wie es war, baden zu gehen, als sie noch ein Kind war. Im Winter besuchte sie oft das Hallenbad. Bevor man die Treppen zu den Schwimmbecken hochstieg, gab es ein kleines, quadratisches, in der Wand eingelassenes Fenster, das den Blick freigab auf die hoch oben in türkisfarbenem Wasser schwimmenden Menschen. Sie schaute zu dem Fenster hoch und wunderte sich, dass es zu dem Bild keine Geräusche gab. Sie sprühte sich Pilzdesinfektionsmittel auf die Fusssohlen, stieg die schmale, von weiss gekachelten Wänden umgebene Treppe hoch. Oben stieg ihr Chlorgeruch in die Nase. Sie ging ins Wasser und tauchte sogleich zum Fenster hinab. Auf der anderen Seite war niemand. Sie schwamm Brust, Rücken, und sie versuchte es auch mit Kraul, doch auch diesmal hatte sie vergessen, wann man aus- und einatmen musste. Wenn sie müde war, ruhte sie sich auf dem roten Badetuch aus. Ihr Badeanzug war noch nicht trocken, als sie Kopf voran ins Wasser sprang, nachdem sie sich zuvor genetzt hatte. Nach dem Baden waren ihre Fingerbeeren weiss und schrumplig. Sie duschte ausgiebig, schlüpfte in die Kleider, föhnte sich die Haare, die danach in alle Richtungen abstanden. Sie ging hinaus, es schneite, und sie fühlte sich ausgezeichnet. Später nannte sie das Gefühl nach einem Bad im Winter „wie frisch geboren“, auch wenn sie nicht wusste, wie es sich anfühlte, frisch geboren zu sein.
Sie hatte nicht vergessen, wie es sich anfühlte, im Winter aus dem Schwimmbad zu kommen, oder im Sommer bei über dreissig Grad baden zu gehen. Daran wurde sie erinnert, wenn sie am Flussbad vorbeifuhr. Sie blickte auf die andere Seite und dachte, die vergnügen sich, ich arbeite. Fragte sie jemand, ob sie dieses Jahr schon schwimmen war, sagte sie, ich habe keinen Badeanzug, was auf eine gewisse Weise auch stimmte: Einen Badeanzug zu besitzen, den man nicht mehr tragen mochte, war etwa dasselbe, wie keinen zu besitzen. Inzwischen war der eigentliche Grund, warum sie nicht badete das Fett, das sich um Hüfte und Bauch angesetzt hatte.
Sie lebte in einer Stadt mit hoher Bäderdichte, wie es auf der Homepage der Stadt hiess. Als eines der schönsten Bäder wurde das in den Zwanzigerjahren erbaute Flussbad gepriesen, an dem sie vorbeikam, wenn sie mit dem Fahrrad zur Arbeit fuhr. Die dort in der Sonne sich räkelnden, ins Wasser springenden Leute erinnerten sie daran, wie es war, im Wasser zu sein. In ihr wuchs der Wunsch, baden zu gehen, trotz Fettpolstern. Sie fing an, sich nach einem Badeanzug umzusehen. Im Internet suchte sie nach Anzügen aus den Siebzigerjahren. Unter einem bunt gemusterten Badeanzug stand: Kann Altersspuren aufweisen. Würde sie im Internet einen bestellen, bestünde die Gefahr, dass er ihr nicht passte. In einem Sportgeschäft fand sie Badeanzüge, die ihr gefielen. Sie wählte einen in ihrer Grösse aus und gab der Verkäuferin zu verstehen, dass sie keine Beratung wünsche. Sie stieg in einen Anzug, dessen Träger über den Schultern spannte. Auch die Träger der anderen Modelle spannten. Etwas resigniert stellte sie fest, dass Badeanzüge nur für Damen mit kurzen Oberkörpern und den damit einhergehenden langen Beinen hergestellt wurden. Bei einem Bikini bestünde dieses Problem nicht. Schliesslich fand sie in einem Designerladen einen passenden, allerdings sehr teuren Bikini.
Der Sommer war regnerisch und kühl gewesen. Erst gegen Ende August wurde es wärmer, die Meterologen sprachen von den Hundstagen, der Sommer würde zu voller Form auflaufen, bevor er zu Ende sei. Sie sah den letzten Moment gekommen, in diesem Sommer baden zu gehen. Sie überlegte sich worauf man beim Baden achten musste: Nicht mit vollem Magen ins Wasser gehen, zuerst den Körper abkühlen, bevor man ins Wasser sprang. Grundsätze, die sie schon als Kind gelernt hatte. Sie rasierte sich die Beine, bevor sie eilig und aufgeregt aufbrach. An der Kasse fragte sie die Frau nach Preis und Öffnungszeiten. Sie ging zur Wiese, breitete ihr rotes Badetuch darauf aus, entledigte sich ihrer Kleider, ging zum Becken, netzte sich, stieg Stufe um Stufe hinab, während das Wasser an ihrem Körper höher stieg, von den Waden zu den Oberschenkeln bis zum Bauch. Sie liess sich fallen und schwamm los.