Tagebuch aus Kenia
3. Januar – Keine Probleme bei der Einreise. Ich bin im
Hilton einquartiert. Für wie lange werde ich mich wohl hier
einrichten müssen? Fünf Tage, zehn Tage, einen Monat? Das
wird vom Ausmass der Krise abhängen. Das Hotel ist fast
leer. Die Touristen reisen ab. Nur die Journalisten und
humanitären Helfer bleiben. Ich bin nervös.
4. Januar – Ich habe Glück. Mein Fahrer und Übersetzter
(und damit die Person, mit der ich am meisten Zeit
verbringen werde in den nächsten Tagen oder Wochen) ist
ein grosser, sympathischer Kenianer mit lächelnden Augen
und sehr bemüht, mir alles recht zu machen. Der
Benzinpreis ist wieder gestiegen. Ich werde ihm wohl mehr
bezahlen müssen wie ursprünglich abgemacht. Wir sind
heute den ganzen Tag in Nairobi geblieben. Die Opposition
hat die angekündigten Demonstrationen abgesagt, wir
haben uns also frei bewegen können. Das habe ich genutzt,
um die anderen humanitären Akteure zu treffen und mir ein
Bild zu machen über das Ausmass der Krise. Jeder sagt
etwas anderes. 150 000 intern Vertriebene oder doch 250
000? 80 Tote? 800 Tote? Ich stelle erleichtert fest, dass ich
nicht alleine bin mit der Schwierigkeit, diese Krise zu
erfassen. Emotional betroffen sind wir alle, klar, aber
können wir verstehen? „This is Africa“, höre ich immer
wieder. Vielleicht muss man Afrikaner sein, um Afrika zu
begreifen. Und hier geboren, um mit einem Achselzucken
das Unverständliche hinzunehmen. Während meiner ganzen
Karriere habe ich versucht, Afrikas Kriege zu vermeiden.
Jetzt bin ich trotzdem mitten in einem schwelenden
Bürgerkrieg im Vorzeige-Touristenland Kenia und berichte in
meinen Emails in die Schweiz von Männern, die am
Strassenrand Macheten schärfen. Oder von Buben, nicht
älter wie zwölf, die sich mit Bögen und giftigen Pfeilen zu
Grausamem instruieren lassen.
6. Januar – Die Kirche in Eldoret hat mich die ganze Nacht
nicht losgelassen. Eldoret liegt im Westen Kenias, im Rift
Valley, und ist einer der Brennpunkte der Ausschreitungen
seit den Wahlen am 27. Dezember. Die politische Opposition
um Raila Odinga bezichtigt den Präsidenten Kibaki des
Wahlbetrugs. Der alte Machthaber denkt natürlich nichtdaran, sich der Opposition zu beugen und abzutreten. Im
Gegenteil, im Blitzverfahren hat er sich vereidigen lassen
und damit für Rage gesorgt. Jetzt eskalieren die seit langem
schwelenden ethnischen Spannungen. Es wird geplündert,
vertrieben, getötet und abgefackelt, was brennbar ist. Die
Medien sprechen von zwei ethnischen Gruppierungen, die
aufeinander losgehen. Die „Kikuyu“ gegen die „Luo“ – oder
umgekehrt. Der amtierende Präsident und seine Entourage
gehören der Kikuyu-Gruppe an und bekleiden sämtliche
politisch und wirtschaftlich wichtigen Ämter. Oppositionsführer
und Gefolge sind Luos, eine weit grössere
Volksgruppe, die seit Jahren zu kurz kommt. Aber so ganz
schwarz-weiss ist die Sache natürlich nicht (die Achse des
Bösen lässt sich halt auch hier nicht so genau definieren).
Andere ethnische Gruppierungen mischen mit, die
Interessen sind vielfältig. Ich habe heute mit einem
Schweizer Journalisten zu Mittag gegessen. Er hat mir die
Zusammenhänge zwischen den Unruhen, der Geschichte
Kenias, der ethnischen Gruppierungen, der Korruption, des
Landproblems, der Mafia und der ausländischen Interessen
erklärt. Vor allem eines ist mir dabei klar geworden: Eine
komplexere Krise hätte ich mir nicht aussuchen können. Der
Journalist hat versucht, ein paar Mal zu telefonieren, ist aber
immer wieder unterbrochen worden. Der hiesige Geheimdienst
ist diese Tage wohl besonders aktiv. Oder sind es
andere? Am Abend in der Hotellobby hat mir jemand von
amerikanischen Secret Agents im Hilton erzählt. Er würde in
den nächsten Tagen ins Fair View wechseln, hat dieser
jemand gesagt, das sei vom Mossad gesichert – und die
seien schliesslich die Besten.
Zurück zu Eldoret. Dreissig Männer, Frauen und Kinder,
gejagt von einem wütenden Mob, haben in einer Kirche
Zuflucht gesucht. Waren sie am beten, als die Milizen die
Türen verriegelt und die Kirche in Brand gesteckt haben?
Wer dem Feuer hat entfliehen können, ist draussen von
wartenden Macheten niedergestreckt worden. Es ist
unvorstellbar. Verkohltes Holz und Gliedmassen sind heute
nicht das Schlimmste an diesem Ort. Es ist die Panik, das
ausgeschüttete Adrenalin im Angesicht des Todes, das auch
Tage nach der grauenvollen Tat noch spürbar ist. Es kriecht
auf einen zu durch den geschwärzten Boden, steigt die Beine
hoch, umfasst das Herz und besitzt das Hirn, bis erbrechen
Erleichterung bringt. In Europa wird diskutiert, ob man
bereits von ethnischen Säuberungen oder Genozid berichtendarf. Die Terminologie kümmert mich wenig. Ich habe Angst
vor solcher Gewalt. Sie macht mich nervös, unruhig,
zögerlich. Ich fürchte nicht um mein Leben, ich habe Angst
davor, Zeugin dieser Brutalität zu werden und nicht mehr
vergessen zu können. Ich muss mich zusammen nehmen.
Noch suche ich diesen inneren Zustand konzentrierter Ruhe
und gespannter Wachsamkeit, der es mir ermöglicht, meine
Arbeit zu machen. Eldoret heisst steiniger Fluss.
7. Januar – Moi Airbase. Ein trauriger Ort mit vielen
traurigen Gesichtern und Geschichten. Ich spreche von einer
Militäranlage in Nairobi, unweit von Mathare, einer der
grösseren Slums Nairobis. Die Gewalt in den Slums hat
weiter zugenommen und immer wieder schwappt sie über
die Armuts-Grenze hinaus in die Mitteklass-Gebiete und die
der Oberschicht (letztere können es sich leisten, ihre
Familien auszufliegen und Sicherheitspersonal einzustellen,
die das Haus beschützen. Die anderen sind der Gewalt
machtlos ausgeliefert). Aus allen Ecken des Rift Valleys sind
Flüchtlinge nach Nairobi gereist, um Schutz vor plündernden
und mordenden Milizen zu suchen. Mittlerweile ist eine
riesige Völkerwanderung im Gange. Etwa 600 Vertriebene
suchen Zuflucht in der besagten Militäranlage. Aber die
Armee will ihren Stützpunkt für die Flüchtlinge nicht öffnen,
die Frauen, Kinder und Alten campen vor den Toren. Steven
und ich haben uns ein Bild machen wollen über die nötigsten
Bedürfnisse der Gestrandeten. Mein Fahrer ist schon zum
guten Freund und Begleiter geworden und erweist sich als
ausgezeichneter Übersetzer – und als einer, ohne Berührungsängste.
Er kümmert sich rührend um diese
schmutzigen, heruntergekommenen Gestalten (sind es noch
Menschen?), die stinken wie zusammengepferchte Tiere und
gezeichnet sind von einem Leid, von dem man sich
abwenden möchte, um sein Herz zu schützen. Die Augen in
den leeren Gesichtern sprechen von einer Qual, die mich fast
ins Bodenlose reisst. Ich habe mir in meinem ganzen Leben
noch nie so sehr gewünscht wie heute, vor der menschlichen
Misere weglaufen zu können. Irgendwohin, an den Strand, in
die heile Welt am Hotelpool, in den Nationalpark zu den
Zebras. Egal. Hauptsache weg. Ich erinnere mich an Forest
Gump. Der ist drei Jahre lang gerannt, bis er schliesslich
alles hat vergessen können.
Die Armee hat mir versichert, die Flüchtlinge seien gut
versorgt. Die Flüchtlinge selber erzählen anderes. In derNacht sind sie den Anschlägen der Banden aus dem Mathare
Slum schutzlos ausgesetzt. Scheinbar kommen die Milizen,
um sich zu holen, was nicht niet- und nagelfest ist und wie
en passant töten und vergewaltigen sie, wer ihnen in die
Hände kommt. Die Armee schaut weg. Sie darf sich nicht in
den Konflikt mit einmischen. Noch ist es die Aufgabe der
zivilen Polizei, für Ruhe und Ordnung zu sorgen. Wo die
bleiben, ist allerdings weiterhin ein Rätsel. Ich habe
versucht, mit den Menschen über ihre Bedürfnisse zu
sprechen und zu klären, wie wir die Hilfe am effektivsten
leisten. Dabei ist mir etwas passiert, was ich nicht erwartet
habe: ich bin gebeten, ja, angefleht worden, keine Hilfe zu
bringen! Jeder Sack Mehl, jeder Liter Wasser, jedes bisschen
Ugali (Nationalgericht) würde einer von ihnen mit dem
Leben bezahlen. Nahrungsmittel und Medikamente machen
diese Menschen zur Zielscheibe. Ich habe unterschätzt, wie
dramatisch sich die Sicherheitslage in den vergangenen
Tagen verschlechtert hat. Morgen werde ich mit dem
Kenianischen Roten Kreuz sprechen. Es muss eine Lösung
geben.
12. Januar – Ich bin seit über einer Woche in Kenia. Die
Unruhen nehmen weiterhin zu. Die Ausschreitungen hindern
mich in Bewegung und Planung. Heute, während dem Essen
mit zwei Schweizer Diplomaten, bin ich der eskalierenden
Gewalt wieder näher gekommen. Oder sie mir. Obschon die
Innenstadt abgeriegelt ist, schaffen es randalierende
Gruppen aus den Slums immer wieder, ins Zentrum zu
gelangen. Die Polizei macht nicht lange Feder lesens und ist
mittlerweile berüchtigt für ihre Gewalt gegen die
Oppositionellen. Man spricht gar von Exekutionsschwadronen.
Da essen wir also und diskutieren mögliche
Hilfsprojekte, bis es plötzlich laut und heftig kracht. Alle
schon sehr sensibilisiert auf Schussgeräusche, sind wir
zusammengezuckt und zum Fenster gerannt. Tränengas! Wir
sind durch die Rauchschwaden in den nun leeren Strassen in
die Botschaft gerannt. Das Büro liegt im neunten Stock und
bietet einen sicheren Ausblick über den kommerziellen
Distrikt Nairobis: Lastwagen karren Dutzende von Polizisten
an, die von den Ladebrücken springen und wahllos um sich
schlagen. Die Menschen sprengen in alle Richtungen, einige
schreiend. Andere bleiben blutend liegen. Viele sind
harmlose Passanten und nur dort, um den Unruhen zutrotzen und ihren Geschäften wie bis anhin nachzugehen.
Noch ein paar Mal hören wir Tränengaspatronen explodieren.
Zum Glück ist es das Gas der Franzosen und nicht das der
Chinesen, unterbricht jemand die bedrückte Stille vor dem
Botschaftsfernster. Das chinesische ist viel schädlicher für
die Gesundheit. Wir schalten den Fernseher ein, um uns
über die Live-Berichterstattung ein Bild zu verschaffen.
Einen kurzen Moment lang weiss ich nicht, ob ich lachen
oder weinen soll: Von Berichterstattung keine Spur, Kenias
Kanäle zeigen Charly Chaplins „Der Diktator“.
13. Januar – Seit gestern Nacht sind 24 Menschen
umgebracht worden. Meine Angst hat sich materialisiert – ich
bin nun doch Zeugin geworden einer Gewalt, die ich nicht
sehen will. Aber dazu später. Steven und ich sind heute
schon vor Sonnenaufgang aufgebrochen. Wir sind ins Rift
Valley, nach Moy, zu den Flüchtlingscamps gefahren. Aber
fast wären wir schon in Nakuru, auf halbem Weg, stecken
geblieben, denn Kämpfe in der Region haben die Weiterreise
verunmöglicht. Zusammen mit anderen gestrandeten
humanitären Helfern haben wir uns dann doch entschlossen,
es mit einer Polizeieskorte weiter zu versuchen. Lastwagen
voller Matratzen, Mehl und Medikamente und wir zwischen
Wagen mit schwer bewaffneten Polizisten im Schneckentempo
Richtung Moy. Es war eine lange, ungemütliche Fahrt.
Wir wussten: Die Strassensperren sind für den Moment
verlassen, aber nicht aufgegeben. Angesichts der
Polizeipräsenz hat sich der Mob in den umliegenden Büschen
versteckt. Die ganze Zeit über haben wir nervenaufreibend
gewerweisst, ob und wann sie ausbrechen und einen
Anschlag riskieren würden. In Moy angekommen, haben wir
die Eskorte gewechselt. Wieder warten. Dann weiter unter
Polizeigeleit in die Lager. 40 000 Menschen sind rund um
Moy aufgelaufen. Die Glücklicheren haben Unterschlupf
gefunden in Kirchen und Schulhäusern. Die anderen
versuchen sich auf öffentlichen Flächen, die zum Teil nicht
grösser sind wie Fussballfelder, zu arrangieren. Es sind
mancherorts bis 1000 Menschen, die sich auf den kleinen
Flächen zusammen finden. Sie schlafen unter freiem
Himmel. (Im Moment regnet es fast täglich und die
Temperaturen sinken nachts auf unter zehn Grad, viele
Kinder leiden an Husten und Fieber.) Sie kochen auf
improvisierten Feuerstellen, fliessend Wasser gibt es nicht.
Die Menschen sind schmutzig, krank, verängstigt. Schonzwanzig Prozent der Kinder sind von Unterernährung
betroffen. Noch spricht man von einer „kontrollierten“
humanitären Krise. Aber wie lange noch? Die lokalen und
internationalen Hilfswerke versuchen ihr Möglichstes.
Trotzdem sind sie zu langsam. Die schlechte Sicherheitslage
verhindert Hilfstransporte vom Hafen in Mombasa ins Rift
Valley. Anfangs Woche habe ich unfreiwillig einen Überfall
mitbekommen. Ein Hilfskonvoy des Roten Kreuzes ist von
Machteten schwingenden Luos (oder Kikuyus oder etwa
andere?) geplündert worden. Die Fahrer waren machtlos.
Heute verzeichnet das World Food Programme
Schwierigkeiten, überhaupt noch Fahrer zu finden, die sich
solchen Gefahren aussetzen. Zu welcher ethnischen
Gruppierung ein Fahrer auch gehört, immer läuft er Gefahr,
den Falschen in die Hände zu geraten. Niemand ist mehr
sicher. In den Zeitungen wird in einseitigen Inseraten
übrigens auch gegen die Weissen gehetzt. Aber das schreibe
ich nicht in die Schweiz, sonst machen die sich noch mehr
Sorgen.
Die Arbeit in den Flüchtlingslagern haben wir schnell
erledigen müssen. Gegen zwei Uhr nachmittags bin ich
unruhig geworden. Ich habe ein gut funktionierendes inneres
Warnsystem für mögliche Gefahren – und meine
Warnlampen blinkten! Ich hiess Steven uns so schnell wie
möglich nach Nairobi zu bringen. Der Gute hat kein Wort
gesagt. Hat er es auch gefühlt oder gedacht, ich sei verrückt
geworden?
Als wir uns nach ein paar schweigsamen Stunden im Auto
endlich Nairobi näherten, sind wir in eine Polizeikontrolle
geraten Eine Weisse im Wagen bedeutet gutes Geld für die
Polizisten. Sie haben einen Strafzettel nach dem anderen
geschrieben (ein Menschenleben alleine würde nicht
genügen, all diese Straftaten zu begehen) und haben Geld
verlangt – oder mich auf dem Polizeiposten. Ich habe mir
wirklich Besseres vorstellen können, wie die Nacht hinter
Gittern zu verbringen und so gestehe ich Scham gerötet,
dass ich zum ersten Mal in meinem Leben und in meiner
Karriere bestochen habe. Aber was hätte ich tun sollen? Auf
dem Polizeiposten die Nacht durchdiskutieren? Das habe ich
mir nicht leisten können, auch wenn es mir der Stolz
eigentlich befohlen hätte. Aber Steven ist ja Luo und wir
haben in Kikuyu-Gebiet festgesessen. Ich habe Steven das
Geld für den Officer gegeben (zu meiner Befriedigung gab
der sich mit einem Bruchteil der zuerst genannten Summezufrieden) und wir haben uns so schnell wie möglich wieder
davon gemacht. Während des ganzen Vorfalles bin ich im
Auto geblieben, wie es mir Steven geraten hatte. Und weil er
sein Land und seine Leute besser kennt, habe ich es für
richtig gehalten, ihn die Sache regeln zu lassen. Den
Rückspiegel aber habe ich so eingestellt, dass ich die
Polizisten hinter dem Auto im Blickfeld hatte. In mitten der
Diskussion ums Geld hat einer der Polizisten sein
Maschinengewehr gerichtet und durchgeladen. Ich bin auf
den Fahrersitz gerückt und habe den Rückwärtsgang
eingelegt. Jetzt, ein paar Stunden später im sicheren Hotel,
behaupte ich, ich hätte im Notfall aufs Gas gedrückt.
Kurz vor Naivasha hat ein Sammeltaxi am Strassenrand
gehalten. Naivasha, die malerische kleine Stadt am
gleichnamigen See, gilt als Touristen- und Blumenparadies
(Kenia ist ein grosser Blumenexporteur). Ein paar
bewaffnete Jugendliche sind in das Taxi gestiegen und haben
ganz offensichtlich die Leute aussortiert. Einige haben sie in
Ruhe gelassen, andere hiessen sie aussteigen. Wir sind im
Schritttempo gefahren, grosse Lastwagen und Flüchtlinge in
Dutzenden hoch beladenen Pickups haben die Strasse
versperrt. Ganz in der Nähe des Sammeltaxis sind wir zum
Stillstand gekommen. Wie auf einer Bühne hat sich das
grausame Schauspiel der ethnischen Säuberung vor uns
abgespielt. Ein Mann ist aus dem Taxi gezerrt, von
bewaffneten Männern umringt und dann zu Boden
geschlagen worden. Panische Schreie sind ausgebrochen.
Die Männer haben mit Fäusten auf ihr Opfer eingeschlagen,
aber sie hatten auch Messer und Macheten. Was sie damit
vorhatten, habe ich mir nicht ansehen wollen. Ich habe mir
die Hand vor die Augen gehalten. Die Schreie sind lauter
geworden. Dann sind Schüsse gefallen. Wir haben uns im
Auto geduckt. Der Schweiss ist mir in Bächen über den
Rücken gelaufen. Da ist die Gegenfahrbahn endlich frei
geworden und Steven hat Gas gegeben.
Jetzt bin ich im Hotel, müde, traurig und erleichtert, dass
uns nichts passiert ist. Im Radio höre ich, dass vier
Menschen in Naivasha, nur 14 Kilometer vor Nairobi, bei
ethnischen Säuberungsaktionen von Jugendbanden
umgebracht worden sind. Ich möchte mit jemandem darüber
sprechen. Aber wer ist da noch? Die Ausländer, die nicht
zwingend in Kenia sein müssen, sind längst ausgereist.
Touristen kommen keine mehr (schon gar nicht nach
Nairobi), auch wenn die Tourismusbranche anderesbehauptet. Die Einreisebestimmungen sind eindeutig (und
auch ein eindeutiges Politikum) und immer wieder reden wir
über Evakuationsvorbereitungen. Gestern habe ich den
Manager des Hiltons kurz beim leeren Pool gesprochen. Die
Hotellerie verzeichnet Einbrüche von über 60 Prozent, auch
an der Küste.
Ich werde als nächstes meine Mails und SMS aus der
Schweiz beantworten. Aber dann werde ich mich den
Erinnerungen des Tages wohl stellen müssen. Im Moment
gibt es nur eines: Gewalt. Ob im Radio, im Fernsehen, in der
Zeitung oder in meinem Kopf. Ich suche verzweifelt den
Knopf, um abzuschalten.
23. Januar – Ich hätte schon längst mal wieder schreiben
sollen. Aber ich habe hier so viel zu tun, dass ich kaum dazu
komme. Jetzt habe ich Mühe, die geballte Ladung von
Eindrücken chronologisch einzuordnen, so viel ist passiert.
Kofi Annan ist mittlerweile eingereist, er will die
Konfliktparteien an einen Tisch bringen. Ein Politiker der
Opposition ist brutal ermordet worden. Ich fürchte, er wird
nicht der Letzte sein. Und scheinbar reisen ugandische
Söldner ein, um sich in Camps für den Kampf an der Seite
der Regierung ausbilden zu lassen. Auf wundersame Weise
sind der Armee unzählige Schusswaffen abhanden
gekommen. Es ist ja wohl klar, wo die wieder auftauchen
werden. Die Todeszahl liegt nach verschiedenen Quellen bei
600 bis 800. Die internationalen Organisationen bestätigen
220 000 bis 250 000 intern Vertriebene, obschon es
schwierig ist, sie zu zählen, wegen der konstanten
Bewegungen. Einige Dörfer sind bereits gänzlich gesäubert
worden. In Eldoret zum Beispiel, der Hochburg der
Opposition, gibt es keine Kikuyus mehr. Die Regierung
versucht, das Ganze herunterzuspielen und schliesst die
Flüchtlingslager. Sie setzt die Vertriebenen damit Willkür
und grossen Gefahren aus. Mittlerweile spricht hier niemand
mehr von einer „kontrollierten“ humanitären Krise. Im
Gegenteil, man befürchtet eine Krise fürs ganze Horn, denn
Kenia ist der Hub der humanitären Hilfe (die UN alleine hat
hier an die 3000 Beschäftigte). Jetzt sind Somalia, Uganda,
Darfur, Burundi mit betroffen. Tansania und Uganda müssen
sich auf Flüchtlinge aus Kenia einrichten, nicht umgekehrt,
wie bisher. Die internationale Hilfe ist in vollem Gange. Seit
meinem letzten Besuch im Rift Valley werden die Flüchtlinge
aus der Luft versorgt. Das sind gute Zeichen. Aber ich sorgemich wegen der Mungiki-Sekte. Die geheimnisumwitterte,
äusserst brutale Sekte gibt den ethnischen Konflikten eine
neue Dimension. Die Mungikis verstehen sich als
Geheimbund und vertreten sehr reaktionäre Ansichten. Sie
gehen in deren Durchsetzung äussert grausam und
unmenschlich vor. Vor den Wahlen hat die Regierung
versucht, gegen die Mungikis vorzugehen, nach dem sich die
barbarischen Morde, die zu Mungiki-Ritualen gehören,
gehäuft haben. Aber jetzt, da die Kibaki-Regierung mit dem
Rücken zur Wand steht, sind die Mungikis willkommene
Verbündete. Steven hat sich heute zum ersten Mal
anmerken lassen, dass er Angst hat. Vor den Mungikis
haben alle Angst. Alle.
26. Januar – Ich bin in der Kirche gewesen. Den Rest des
Nachmittags muss ich damit verbringen, meine Rapporte in
Ordnung zu bringen. Darum nur kurz: Es ist schön gewesen
in der Kirche. Das Singen, die Fröhlichkeit, die bunten
Kleider der herausgeputzten jungen Frauen und Männer (die
Kirche gilt als Dating-Pool schlechthin), haben uns die
Gewalt für einen Moment vergessen lassen. Aber eben,
leider nur für einen Moment. Denn kaum hat die Kirche
einmal ausgeläutet, haben sich die Gottesgetreuen auf dem
Kirchenhof versammelt und Schlachtpläne (für einmal im
Sinne des Wortes) geschmiedet. Es wird auf keinem andern
Kontinenten gleichzeitig so viel gebetet und gemordet.
Aber noch was Lustiges: In einem Teil Kiberas, das ist der
grösste Slum Afrikas, sind Plünderungen durch die
Verbreitung eines Gerüchtes verhindert worden. Man sagt,
dass den Plünderern wegen eines Fluches die gestohlene
Ware an den Körper wächst. Bereits sei ein Mann mit
angewachsenem Fernseher auf der Schulter gesehen
worden. Na, wenn das keinen abhält! Das hat mich wirklich
zum Lachen gebracht. Hexerei und Magie, Gerüchte und
Fabelgeschichten – keiner kann das besser wie Afrika. Die
Sonne scheint nach tagelangem Regen wieder und es ist
ruhig. Steven hat mir erklärt, dass sich am Sonntag alle von
den Kämpfen ausruhen müssen. Krieg ist wie zur Arbeit
gehen: Montag bis Freitag kämpfen, Samstag und Sonntag
Familie und Kirche.
27. Januar – Steven hat Recht, es ist Montag und die Sache
ist wieder in vollem Gange. Die Direktorin eines Spitals, das
mit Schweizer Geldern unterstützt wird, ist bedroht worden.Nur mit Mühe hat sie den Mob daran hindern können, in das
Spital einzudringen, zu plündern und zu morden. Ähnliches
gilt für die Projekte in Kibera. Gerade als ich mit der Leiterin
eines Kinderheimes am Telefon über das Sicherstellen der
täglichen Mahlzeiten gesprochen habe, ist sie in eine
Schiesserei geraten. Ich muss weg, ich muss weg, habe ich
sie zwischen den Schüssen schreien hören. Dann: ich bin ok,
ich bin ok. Jetzt ist sie in Sicherheit, aber an ein
Weiterführen der Projekte ist für den Moment nicht zu
denken. Ich sorge mich um die Kinder, denn auch das World
Food Programme hat die Nahrungsmittellieferungen nach
Kibera aus Sicherheitsgründen eingestellt. Ich fühle mich
miserabel. Diese Machtlosigkeit ist schwer zu ertragen.
27. Januar – Es ist kurz vor zwölf, aber an Schlaf ist nicht zu
denken. Steven hat mir gerade ein SMS geschickt. Er fühlt
sich bedroht von den Mungikis. Als bald einziger Luo lebt er
in einem Kikuyu-Viertel in Nairobi. Schon vor ein paar Tagen
hat er einen Flyer vor seiner Tür gefunden, mit der
Aufforderung, sein Haus zu verlassen, sonst würde er
getötet. Steven ist nicht vermögend, er kann es sich nicht
leisten, während der Zeit der Krise in einem Hotel zu
wohnen. Und was würde mit seinem Hab und Gut
geschehen, wenn er sein Haus verliesse? Er könnte alles
verlieren. Aber mehr sorgt er sich um das Leben seiner drei
Kinder und seiner Frau. Aus Angst, dass die Kinder den
Mungikis oder Kikuyus in die Hände fallen könnten, lässt er
sie seit Tagen nicht mehr zur Schule gehen. Nachts sitzen
sie im Dunkeln, um den Anschein zu geben, es sei niemand
zu Hause. Aber jetzt, laut dem SMS von Steven, gehen die
Mungikis von Tür zu Tür. Glaubt man den Berichten, bringen
sie jeden um, der nicht Kikuyu ist. An Schlaf ist wirklich
nicht mehr zu denken. Ich überlege und überlege, wie ich
Steven helfen könnte. Aus dem Haus kann er nicht, und ich
kann das Hilton nicht verlassen. Seit ein paar Tagen gilt eine
Ausgangssperre. Und bei einer Polizei mit shoot-to-kill
Anweisung mag ich es nicht riskieren. Ich habe herum
telefoniert, aber niemand weiss, was zu tun ist. Ruhe
bewahren, heisst der Tenor. Ruhe? Ich gehe auf und ab in
meinem Zimmer wie der Tiger im Käfig.
28. Januar – Steven und seine Familie haben die Nacht
übergestanden. Ein befreundeter Luo-Poliziste ist
irgendwann aufgetaucht und hat sie an einen sicheren Orteskortiert. Jetzt sind sie für die kommenden Nächte in
einem billigen Hotel einquartiert. Lange wird sich Steven das
nicht leisten können. Aber wo sonst soll er hin? Niemand
mag ihn aufnehmen, denn einen Luo zu beherbergen, ist zu
gefährlich. Seine Verwandtschaft wohnt weitab in einem
Dorf, das nur über das Rift Valley zu erreichen ist. Bei den
Unruhen und Strassenblockaden ist dort aber im Moment
kein Durchkommen. Ich werde bald abreisen. Ich fühle mich
noch immer schlecht. Ich will nicht weg, ohne mehr getan zu
haben. Ich möchte Kenia retten. Und die Welt.
31. Januar – Nach fast vier Wochen hat mich Steven auf den
Flughafen gebracht. Ich habe ihn bezahlt und noch etwas
draufgelegt, damit er noch ein paar weitere Nächte im Hotel
bleiben kann. Ich habe ihn gebeten, sich im
Gefahrenmoment von Menschenansammlungen
wegzubewegen, und nicht den Schutz einer Gruppe zu
suchen, wie es die Menschen in der Kirche in Eldoret getan
haben. Ein solches Herdenverhalten ist schon sehr
afrikanisch und mitunter fatal. So gesagt habe ich das
natürlich nicht. Aber hilf dir selber und deiner Familie, habe
ich ihm erklärt, denk immer zuerst an dich. Ich habe ihm
angesehen, dass er das nicht versteht. Aber weil er mir alles
recht machen will, hat er genickt. Jetzt sitze ich im
Flugzeug, mit einigen hundert Kenianischen Flüchtlingen,
und fliege dorthin, wo jeder nur zu gut weiss, wie es ist, mit
dem zuerst an sich selber denken.
Fabienne Wydler wurde 1975 in Zürich geboren und lebt
seither am Zürichsee. Reisen und Medien sind ihre Passion.
Nach dem Studienabschluss in London und mehrjähriger
Tätigkeit auf Redaktionen Schweizer Publikationen hat sie
ihre Leidenschaft zum Beruf gemacht. Während ihrer
Berichterstattung aus dem Ausland ist sie Zeugin geworden
von viel Leid, von Krieg und Katastrophen. Daraus ist ihr
bald das Bedürfnis entstanden, nicht mehr länger „nur“ über
Krisen zu berichten, sondern einen direkteren und aktiveren
Beitrag zu leisten. Seither ist sie nicht mehr alleine als
Journalistin unterwegs, sondern auch als Medienkonsulentin
und Projektmanagerin in der humanitären Hilfe und
internationalen Zusammenarbeit tätig.