Januar 2016

Todesstille

von Maya Olah
Jahresthema: Musikstück
Monatsthema: Sigur Rós, «Dauðalagið»

Der dunkelblaue Sessel steht leer neben dem Tisch. Dein Duft ist aus allen Dingen verschwunden, sogar aus deinen Kleidern, die noch immer im Schrank hängen. Nun riecht es nach Salzwasser. In der Schachtel am Boden sitzt ein verletzter Vogel und blickt um sich. Krächzen durchbricht die Stille der Wohnung.

Ich hatte das Haus mit halb verdecktem Gesicht verlassen, die Hände in den leeren Taschen. Der kühle Wind wurde stärker als ich am Strand ankam. Das Meer, der Himmel, die Küste, alles war wie mit Bleistift gemalt. Helleres Grau ging in dunkleres über. Über dem Wasser in Strandnähe kreisten schemenhafte Konturen und kreischten sich zu. Ein dunkler Fleck blieb am Boden. Als ich näher kam, erkannte ich eine Seemöwe, deren Flügel schlapp am Körper hing. Sie versuchte die kaputte Seite mit dem Schnabel aufzurichten. Eine Böe machte den violett gefärbten Knick am Knochen frei, da umfasste ich die Möwe von beiden Seiten mit meinem Schal und hob sie empor. Ich habe sie den ganzen Weg nach Hause getragen und ihr klopfendes Herz an der Handfläche gespürt.

Nachdem ich beide Klappen der Schachtel geschlossen habe, sind ihre Bewegungen ruhiger geworden. Sie hat ihren weissen Kopf unter den silbernen Flügel gesteckt. Ich sitze am Tisch und sage zum Sessel: „Ich pflege die Möwe damit sie mich heilt. Damit ich wieder durch die Strassen laufen kann, als würde mich etwas Gutes erwarten.“ Zurück kommt nichts, ich höre nicht einmal den leichten Regen durch die dicken Scheiben.

Während der Tage, an denen ich die Möwe füttere und ihr Wasser gebe, stelle ich mir dich vor. Wie du auf dem Sessel sitzt, das eine Bein angewinkelt, und mich beobachtest. Einmal höre ich dich sagen: „Die Dinge sind nicht dafür da, um einzuleuchten. Ich bleibe, auch wenn der Vogel geht.“ Daraufhin zucke ich die Schultern und polstere mit deinem blauen Kleid die Schachtel aus.

Der Hals der Silbermöwe ist glatt und stark geworden. Sie hält meiner Hand stand, die ihr über den Rücken streicht. Es ist Zeit, flüstere ich ihr zu, während ich die Kiste aufhebe. Es ist warm geworden. Vor den Geschäften stehen Körbe mit Früchten, beim Vorbeigehen rieche ich ihre Süsse. Der Kopf des Vogels stupft an die Kartonklappen, doch ich hebe sie erst zur Seite, als wir am Strand sind. Die Möwe schaut aus der Kiste hervor, geradewegs übers Meer. Sie spannt zwischen meinen Handflächen ihre glänzenden Flügel. Sie rudert stockend am Ort, dann erhebt sie sich in die Lüfte. Eigentlich müsste jetzt ein Lied eingespielt werden, denke ich mir. Etwas, das nach Vollkommenheit und Freiheit klingt. Die Möwe schlägt kräftig in die Luft, gewinnt an Höhe. Die ausgebreiteten Flügel biegen sich geschmeidig in den Lüften wie der lange Nacken einer Geigenstreicherin. Ein Vogelschwarm umfängt sie. Das Rufen der Möwe wird von den anderen beantwortet. Sie gleiten in Richtung Himmel, stürzen dann zum Wasser hinab und peitschen der spiegelglatten Oberfläche entlang. Nun kann ich meine Möwe nicht mehr von den anderen unterscheiden. Ich stehe am Strand, hebe die Hände über die Augen und blicke zum Himmel.

Als ich am Strand entlang zurück laufe, scheint mir die Sonne ins Gesicht. Die Strasse hinauf gehe ich aufrecht. Ich kaufe mir Orangen, der Verkäufer lächelt mir zu. Vor der Wohnungstür nestle ich den Schlüssel aus der Hosentasche, drehe ihn im Schloss und öffne die Türe. Der Sessel steht leer neben dem Tisch und ich werfe den Schlüssel mit aller Kraft durch den Raum ans Fenster. Die Scheibe zerspringt nicht.