November 2007

Toulouse erinnern

von Brigitte Spalinger, Isolde Schaad
Jahresthema: Reiseberichte
Monatsthema:

Die Kinder waren endlich eingeschlafen. David öffnete eine Flasche Wein, da klingelte das Telefon. Ich verstand erst nicht, bis sie sagte, c’est moi, ta Soeur Toulouse. Grettas Stimme war rau geworden. Sie lebe seit einigen Monaten in Salamanca, erzählte sie, und arbeite in einer Jugendherberge. Jeden Tag blicke sie auf die Europakarte an der Wand. Stecknadeln habe sie darauf angebracht, überall dort, wo sie jemanden kenne. Und zwischen uns beiden, ziemlich genau in der Mitte, liege Toulouse. Das ist ein Zeichen, sagte sie.

Drei Wochen später bestieg ich in Zürich den Nachtzug. Während der Fahrt schlief ich kaum. Ich verbrachte die Stunden damit, all die Postkarten zu zählen, die sie mir in den vergangenen elf Jahren geschickt hatte. Ich versuchte, die Länder aufzulisten, die Gretta bereist hatte, seit sie aufgebrochen war, kurz nach unserer Matura. In Guatemala lebte sie auf einer Finca und half mit, wo etwas anfiel, in Peru verkaufte sie Schmuck auf dem Markt. Zu Beginn rief sie ab und zu an. Dann kamen Postkarten, voll geschrieben bis an die Ränder. Manchmal fehlte der Platz für Grettas Unterschrift.

Sie wartete zuvorderst auf dem Bahnsteig und unterhielt sich mit einem Mann mit Gitarre. Wenige Meter von den beiden entfernt blieb ich stehen. Sie trug ihr Haar ganz kurz, wie an jenem Tag, als der Rektor mich ins Schulzimmer geführt und als neue Klassenkameradin vorgestellt hatte. Nur der Stuhl neben Gretta war frei gewesen. Noch dünner war sie jetzt. Dünn und braungebrannt. Sie bemerkte mich und lief auf mich zu. Wir umarmten uns, wir schaukelten wie zu Musik. Dann machte sie einen Schritt zurück, hielt meine Hand, schaute mich an. Sie küsste mich auf die Wange und drückte mich erneut an sich. Schön, sagte sie. Immer wieder. Schön. Als wir losgingen, hakte sich Gretta bei mir ein. Der Mann mit der Gitarre sang ein Lied und zwinkerte uns zu.

Ein Freund hatte ihr das «Le Clos des Potiers» empfohlen. Sie hatte ihr Zimmer bereits vor meiner Ankunft bezogen. Ich warf einen Blick hinein, ihre Kleider und der Rucksack lagen auf dem Bett verstreut. Wir wohnten Tür an Tür. Während ich mich frisch machte, griff Gretta nach meinem Parfüm, sie schraubte es auf, roch daran und strich sich einige Tropfen an den Hals. Wir verliessen das Hotel und setzten uns ins erste Café, an dem wir vorbei kamen.

Als wäre die eine von uns beiden nur kurz weg gewesen. Als knüpften wir dort an, wo wir aufgehört hatten. Wir sprachen ohne Pause. Gretta zündete eine Zigarette nach der andern an. Ich brachte ein Kind zur Welt. Sie stieg in Flugzeuge. Ich schloss mein Studium ab. Gretta verliebte sich, da, dort. Ich heiratete David. Sie liebte einen mexikanischen Zapatisten, einen Tauchlehrer aus Indonesien. Ich wurde zum zweiten Mal schwanger. Und überall blieb Gretta länger, als sie geplant hatte. Wieder waren wir «Les Soeurs Toulouse». Wieder sassen wir, den Rücken an der Wand. Wir haben die Beine ausgestreckt, zwischen uns liegt der Schokoriegel, den wir uns über Mittag teilen. Wir wickeln ihn aus der roten Folie und streichen ihr mit dem Fingernagel das Muster des Bodens ein. Wir falten sie, knicken sie am Rand hoch und legen den Riegel darauf. Die Sonne scheint auf den Aluminiumkragen, behaupten wir. Der bündelt die Wärme und wirft sie direkt auf den Riegel. Schokolade mögen wir nur weich. Und die Physikstunde besuchen wir wegen der Experimente, die wir nicht verstehen. Doch niemand fragt uns je danach. Wie früher liess Gretta jetzt die flache Hand über meinem Oberschenkel schweben. Im schmalen Raum dazwischen flossen ihre Wärme und meine. Hin und her. Ich lachte und bestellte uns eine weitere Flasche Prosecco.

Draussen wurde es dunkel, es regnete seit Stunden. Später rief ich zuhause an. Irina hatte beim Mittagessen ihren ersten Milchzahn verloren. Ich erklärte David, er müsse ihr, während sie schlafe, ein kleines Geschenk unter das Kopfkissen legen und am Morgen von der Zahnfee erzählen. Er fragte nach Gretta, weshalb sie mich so plötzlich habe treffen wollen. Und ich sagte, sie wollte mich sehen, das ist alles.

Der Regen und unsere durchnässten Schuhe machten uns nichts aus. Wir spazierten unter einem Schirm durch die Altstadt und dachten daran, wie wir durch den Sommer geschlendert waren. Barfuss, an der Zehe ein Ring, am Fussgelenk eine Kette aus Silber. Morgens hören wir die Glöckchen am Verschluss, wenn wir aufeinander zugehen, um uns zu küssen. Wir machten eine Bootsfahrt auf dem Canal du Midi und sprangen auf der Place du Capitol in Pfützen. Wir liefen über den Pont-neuf, den wir in Paris zuhause glaubten, und überquerten die Garonne. Wir kippten den Kopf nach hinten und hielten dem Regen unser Gesicht hin, um an der Fassade der Basilique Saint-Sernin hoch zu schauen. Manchmal glaubten wir, uns zu erinnern, warum wir uns «Les Soeurs Toulouse» nannten.

Am letzten Nachmittag betraten wir die Boutique, vor deren Fenster wir jedes Mal stehen blieben, wenn wir ins Hotel zurückkehrten. Alle Umkleidekabinen waren besetzt, endlich wurde eine frei, gemeinsam drängten wir uns hinein. Eine Verkäuferin beobachtete uns und spitzte ihre Lippen. Ich schloss den Vorhang. Wir zogen die Hosen aus und kicherten wie an schulfreien Tagen, als wir die Etiketten von den Schlüpfern rissen, die Unterwäsche in Schichten über dem eigenen Slip aus dem Geschäft trugen, ohne je dabei erwischt zu werden. Merde, schimpfte ich jetzt, diese Französinnen mit ihren Stängelbeinen. Obwohl ich die richtige Grösse genommen hatte, war die Hose viel zu eng. Dies der Dank, wenn du zwei Kinder gebärst, sagte ich, und zerrte den Saum des Hosenbeins über meine Ferse. Während ich mich anzog, schielte ich zu Gretta. Sie betrachtete sich im Spiegel. Ich schaute auf ihren kleinen, flachen Po und die dünnen Oberschenkel. Perfekt passten sie in die Jeans. Du siehst schön aus, sagte ich. Unser Blick streifte sich im Spiegel, dann befestigte ich die Hose am Bügel. Als ich aufsah, hatte sich Gretta mir zugewandt. Sie stand da mit nacktem Oberkörper. Stand da. Mit einer Narbe. Ein glänzender Strich. Über die Brust gespannt. Vom Warzenrand her. Über die gewölbte Haut. Und Gretta. Sie lächelte. Sie liess meine Augen nicht los. Schreien, wollte ich. Sie anschreien. Doch da war bloss ein Flüstern. Wie kannst du nur. Wie kannst du mich so erschrecken. Ich griff nach meiner Tasche und riss den Vorhang auf. Ich drückte der Verkäuferin vor der Kabine den Bügel in die Hand und stürzte aus dem Geschäft. Die Altstadt war voller Regenschirme. Ich tauchte unter ihnen durch, fort, nur fort, ich überholte Mäntel, Jacken, blieb an Einkaufstüten hängen, stiess gegen Schultern, bog links ab, links, rechts, links. Bis die Strassen endlich leerer wurden. Erst als ich stehen blieb, mich an einer Hausmauer abstützte, hatte ich das Gefühl, wieder zu atmen. Ich schloss die Augen und sah Gretta vor mir. Sah ihren Körper, die Brüste, die verlorene Symmetrie. Und dieses Lächeln, das sie schon einmal aufgesetzt hatte.

Vereinzelt fielen noch Tropfen, der Regen hatte meine Kleider aufgeweicht. Ich fror und ging weiter, durch Gassen, die ich nicht kannte. In den Rinnsteinen floss das Wasser auf die viel zu kleinen Gullys zu, die es nicht länger zu schlucken vermochten. In meiner Tasche klingelte das Handy. Ich zuckte zusammen, als hätte es mich aus dem Schlaf gerissen. Gretta, schoss es mir durch den Kopf. Doch es war David, dessen Name im Display aufleuchtete. Ich hielt das Telefon in meiner Hand, ich wartete, bis es still war, dann schaltete ich es auf stumm.

Ich kam an einem Kino vorbei. Ein Mann in abgewetzter Lederjacke stand davor und rauchte. Neben dem Eingang hing ein einziges Plakat. Rote Schrift auf weissem Grund, «les témoins», und darüber fünf halbe Gesichter, Männer, Frauen, die durch mich hindurch schauten, um mich im nächsten Moment anzustarren. Le film commence dans une demi-heure. Der Mann blies den Rauch in meine Richtung. Ich schüttelte den Kopf und versuchte, zu lächeln. Mais qu’est-ce qu’il y a, Madame, sagte er, vous avez l’air malade. Er schnippte die Zigarette weg und kam zu mir, er stützte meinen Arm und führte mich zu den Stufen vor dem Kino, wo wir uns hinsetzten. Seine Hand lag weich auf meiner Schulter, j’ai froid, sagte ich endlich. Daraufhin verschwand er im Kassenhäuschen, mit einer Flasche und einem Schnapsglas kehrte er zurück. Ça vous fera du bien. Er füllte das Glas und bedeutete mir mit seinem Kopf zu trinken. Warm floss der Armagnac meinen Hals hinunter, er breitete sich aus in meinem Brustkorb, meine Augen tränten. Der Mann schenkte mir nach, ich leerte das Glas von neuem. Weiht mich Gretta ein, dann immer zu spät und ohne Rücksicht. Natürlich hatte ich damals gemerkt, dass sie etwas bedrückte. Es begann einige Wochen vor den Prüfungen. Nach dem Unterricht ging sie sofort nachhause, wenn ich anrief, war sie kurz angebunden. Am Abend unserer Maturafeier zog sie mich beiseite. Alles zum Kotzen hier, sagte sie. Ich weiss nicht, wie du das aushältst. Ich griff nach ihrer Hand. Wir könnten uns davon schleichen, irgendwohin, tanzen gehen, wir zwei. Du verstehst nicht, ich muss fort, sagte Gretta. In drei Tagen geht mein Flug. Guatemala City, sagte sie. Und lächelte.

Zurück im Hotel, blieb ich vor ihrem Zimmer stehen. Ich klopfte. Sie öffnete nicht. Ich sprach gegen die Tür. Warum hast du mir nie etwas gesagt. Dahinter blieb es still.

Ich erwachte spät. Auf jede meiner Bewegungen folgte ein dumpfer Schlag in meinem Kopf, mit jedem Schlag erinnerte ich mich klarer an den Traum. Ich trat in unser Wohnzimmer, alle Möbel waren weg. In der Mitte des Raums lag Irina auf dem Bauch und malte ein Bild. Am Fenster stand Gretta und schaute hinaus. Ich setzte mich neben Irina, strich ihr übers Haar. Sie liess den Filzstift fallen und kroch zu mir. Sie schmiegte sich an mich, schob ihre Hände unter meinen Pullover, schob ihn hoch. Ihre Lippen suchten nach meiner Brust. Du bist viel zu gross dafür, Irina, sagte ich. Doch Irina blickte nicht auf, schlang ihre Arme wieder und wieder um meinen Bauch, bis ich sie schliesslich saugen liess. Gretta drehte sich um, sah uns aufmerksam zu. Dann plötzlich ein heftiger Schmerz. Ich stiess Irina von mir. Gretta schrie auf und zeigte auf mich. Deine Tochter hat dich gebissen, brüllte sie. Dort wo Irina eben noch getrunken hatte, fehlte meine Brust. Ich bedeckte die Narbe mit beiden Händen. Irina malte wieder an ihrem Bild. Gretta ging zurück ans Fenster.

Ich brauchte einen Kaffee, nach Essen war mir nicht. Die Tür zu Grettas Zimmer stand offen. Eine Angestellte war dabei, das Bett frisch zu beziehen. Auch im Frühstückssaal fand ich sie nicht. Als ich wieder hoch wollte, winkte mich der Herr am Empfang zu sich und gab mir eine Postkarte. De la part de votre amie, sagte er. Elle est partie tôt le matin. Unter aufgeräumt blauem Himmel leuchteten die rosa Häuserreihen der Stadt. Gretta hatte die Karte neben dem Musée des Abattoires gekauft und versprochen, sie mir schon bald aus Salamanca zu schicken. Est-ce que Toulouse se prononce «to lose» en anglais, stand darauf. Es fehlte ihr Name.

Seither ist bald ein Jahr vergangen. Von Gretta habe ich nichts gehört. Manchmal, wenn David und die Kinder aus dem Haus sind, nehme ich den Zettel mit der Nummer der Jugendherberge hervor. Ich falte ihn auf und versuche, ihn auf dem Küchentisch glatt zu streichen.