Februar 2007

Um den Dranser See. Lokale Probe aufs ferne Exempel

von Theodor Ebert
Jahresthema: Reiseberichte
Monatsthema: ---

Zwischen Wittstock und Rheinsberg, doch näher bei Wittstock und direkt an der Grenze zum ehemals sowjetischen Bombenabwurfplatz, findet der Erholung suchende Berliner den Dranser See, das heisst, er könnte ihn finden, wenn er die Erwartung hegen sollte, nach mehreren Jahrzehnten militärischer Verwendung und Verwüstung könne sich dort noch ein schönes Stück Natur erhalten haben. Und vielleicht würde es ihn dorthin auch des Öfteren hinziehen, wenn er hoffen dürfte, dass die Kyritz-Ruppiner Heide nicht erneut zum Bombenabwurfgebiet, dieses Mal in der Regie der deutschen Luftwaffe, werden würde. In einem Kranz kleiner Dörfer um den Schiessplatz wartet man auf Touristen und wehrt sich seit zehn Jahren gegen den Zugriff der Bundeswehr. Die Widerstand leistende Bürgerinitiative nennt sich «Freie Heide» und ihr Symbol ist ein rotes X über einem schwarzen Jet.

Der Dranser See hat seinen Namen von dem Dorf Dranse, das zwei Kilometer von ihm entfernt an seinem nordwestlichen Ende liegt. Durch Dranse führt bzw. führte die mittlerweile stillgelegte Bahnlinie von Wittstock nach Strelitz. Im Westen steigt das sandige, mit Kiefern bewachsene Ufer des Dranser Sees leicht an, dann wieder öffnen sich flache Buchten ins Hinterland. Auf der Ostseite des Sees reichen die mit Sumpfdotterblumen bestandenen Viehweiden bis dicht ans flache Ufer. An der Südspitze des Sees liegt das Dorf Schweinrich, in dem, wie in Dranse, die Viehwirtschaft überwiegt. Anders als der Name sagt, ist in dem sauberen Strassendorf von Schweinezucht nichts zu riechen. An der am weitesten nach Westen ausladenden Bucht des etwa drei Kilometer langen und sich schmal und in Schweifen nach Norden erstreckenden Sees liegt ein kleiner Campingplatz, der von Schweinrich aus in einer halben Stunde über einen mit Eichen bestandenen Damm zu Fuss erreichbar ist. Wer das Auto nimmt, muss einen Umweg fahren. Man erreicht den Campingplatz dann über eine Stichstrasse, genau betrachtet über einen breiten Sandweg, der unter Kiefern hinab zum See führt.

Diese topographischen Gegebenheiten rekonstruiere ich aus dem Gedächtnis und mit Blick auf die Karte des Landkreises Wittstock, als Ruth und ich nach rascher Fahrt in Richtung Rostock die Autobahn bei der Ausfahrt Wittstock verlassen und auf die alte Kreisstadt zufahren. Fontane hat in seinen «Wanderungen durch die Mark Brandenburg» über Wittstock – im Unterschied zum benachbarten Rheinsberg und Neuruppin – nichts geschrieben und um den Dranser See ist er auch nicht gewandert. Literarisch gesehen sind Wittstock und die Umgebung gewissermassen Niemandsland. Nur Grimmelshausen hat im «Simplicius Simplicissimus» der Schlacht am Scharfenberg bei Wittstock im Jahre 1636, wo die Schweden über die Kaiserlichen obsiegten, ein Denkmal gesetzt. Doch das ist nun wirklich lange her.

Zur zwischenzeitlichen Geschichte Wittstocks und der umliegenden Dörfer liesse sich gewiss einiges aufstöbern, und wahrscheinlich wird im Stadtmuseum in der alten Burg neben der Geschichte des Dreissigjährigen Krieg auch jene danach besucherfreundlich präsentiert. Vorläufig weiss ich nur, dass 1721 die Bischöfe von Havelberg nach Wittstock übersiedelten und dass die Stadt von einer zweieinhalb Kilometer langen Stadtmauer aus Ziegelsteinen umgeben ist.

Die Entfernung der Kreisstadt zum Bombenabwurfgebiet Kyritz-Ruppiner Heide beträgt etwa zehn Kilometer. Das ist knapp, nicht genug, um in Wittstock vom Lärm der in Nord-Süd-Elipsen immer wieder anfliegenden Jets nicht behelligt zu werden; doch weit genug, um einigen die Vorstellung zu erlauben, die erneute Nutzung des sowjetischen Bombodroms durch die Bundeswehr könne ihnen das Leben in der Prignitz nicht verleiden. Darum hat die Initiative pro Bundeswehr, die immer noch auf eine Garnison hofft, ihren Rückhalt in Wittstock und wahrscheinlich auch nur dort, wohingegen der Widerstand gegen das Bombodrom in den Dörfern Fretzdorf, Gadow, Schweinrich, Dranse, Flecken-Zechlin und Gühlen-Glienicke, die direkt an das Abwurfgebiet grenzen, fast geschlossen ist. Diese Dörfer hätten keinerlei wirtschaftlichen Vorteil von einer Garnison der Bundeswehr in Wittstock.

Wir stellen unseren VW-Golf am Campingplatz von Schweinrich ab. Immer noch dieselben niedrigen Preise wie 1992. Ein Erwachsener bezahlt für eine Übernachtung 1 DM und ein Kind fünzig Pfennig. Noch keine Eurotarife auf der Tafel. Die Spontancamper und die Durchreisenden spielen hier keine Rolle. Die Campingwagen sind mit Holzverschalungen oder mit sich über die Hauszelte und Wagen wölbenden Bögen und durchsichtigen Planen winterfest gemacht. Der Kranz der befestigten Campingwagen mit ihren Plattformen, die zum See hin vorspringen, gleicht fast einer Wagenburg. Hier trifft sich kein fahrendes Volk; hier siedelt ein stabiler Club von immer schon Dazugehörigen, ich nehme an seit DDR-Zeiten.

Wir erkundigen uns bei einer vielleicht 50-jährigen Camperin, welche mit zwei Männern an der Verschalung ihres Wohnwagens mit Nut- und Federbrettern werkelt, ob man den See umwandern könne und wie lange dies ungefähr dauern würde. Die Antwort fällt vage aus. Durch den Sumpf hinter dem Platz führe eine Holzbrücke, und eine Rundwanderung sei wohl möglich. Doch wie lange dies dauere, da wolle sie sich nicht festlegen, vielleicht drei, vier Stunden. Wahrscheinlich denkt hier niemand daran, sich auf eine solche Wanderung zu begeben. Die Kaffeetafeln auf vorgebauten Terrassen und die Antennenschüsseln deuten auf sesshafte Wochenenden.

Wir begegnen dann auch während des ganzen Nachmittags keinem Spaziergänger. Schon auf der neuen Holzbrücke aus hochdruckimprägnierten Vierkanthölzern durch die sumpfige Bucht am hinteren Ende des Campingplatzes sehen wir uns mitten in einem Naturschutzgebiet. Die Sumpfdotterblumen blühen in gelben Polstern, und ein Schwanenpaar baut sich zwischen Weiden und grauem, vorjährigem Röhricht ein Nest. Der Pfad am Ufer unter den Kiefern ist schmal, doch im Sande noch erkennbar. Meisen und Finken schwirren menschenscheu vor uns auf. Sie lassen mich nie so nahe herankommen, dass ich sie auf einem Ast mit dem Teleobjektiv erreichen könnte, ganz anders als das Rotkehlchen in unserem Garten.

Der Untergrund des klaren Sees ist sandig, und das Gewässer offenbar über weite Strecken sehr flach. Fische kann ich in Ufernähe nirgends erblicken. Ein Haubentaucher jagt weit draussen. Auch das Angeln vom Ufer aus scheint nicht üblich zu sein. Es fehlen die Astgabeln im Boden zum Ablegen der langen Ruten und die aus dem Ufergebüsch geschnittenen Sitz- und Auswurfgelegenheiten. Wenn hier überhaupt geangelt wird, dann vom Boot aus.

Die auffälligste unnatürliche Hinterlassenschaft ist der Müll, der hier im Sommer Badenden. In jeder Bucht liegen Bierbüchsen, Plastikflaschen und leere Kekspackungen, auch schon mal Sektflaschen. Wenn es das Gelände zulässt, scheinen die Einheimischen hier an einigen Buchten direkt ans Wasser zu fahren. Auch heute sehen wir zwei junge Leute im Auto am Ufer sitzen und knutschen. Ein anderes Paar mittleren Alters stellt etwas höhere Ansprüche an die Romanze, es ist ausgestiegen, hat in einiger Entfernung vom PKW oberhalb der flachen Böschung eine bunte Wolldecke ausgebreitet und trinkt den perlenden Sekt aus Glaskelchen. Sie werden das Ausgepackte auch wieder im Picknickkorb verstauen. Doch beim Anblick so mancher Bierbüchse unter Birkengestrüpp frage ich mich: Bleiben die meisten in ihrer Karre sitzen und werfen die Büchsen durchs Fenster?

Das Ostufer des Sees ist vom Zivilisationsmüll verschont geblieben. Mopedfahrer preschen hinter uns auf einer Sandpiste über die Höhe. An deren Rande stehen die Warntafeln der Bundeswehr. Ruth löst den weissen Plastikstreifen, der über dem vom Verwaltungsgericht untersagten Satz klebt:

Militärischer Sicherheitsbereich
[überklebt: Grenze des Truppenübungsplatzes
Schiess- und Übungsbetrieb]
Blindgänger! Lebensgefahr!
Unbefugtes Betreten des Platzes ist verboten
und wird strafrechtlich verfolgt.
Der Kommandant

Der Plastikstreifen ist das greifbare Zwischenergebnis des Prozesses beim Verwaltungsgericht in Potsdam. Solange die Bundeswehr kein Anhörungsverfahren durchgeführt hat, darf es keinen Schiess- und Übungsbetrieb geben, also darf der Herr Kommandant auch nicht vor ihm warnen. Doch wie vorläufig dieser Erfolg der Bürgerinitiative ist, zeigt das einfache Klebband.

Auf der Ostseite kann man mit dem Auto nirgends bis ans Seeufer fahren. Es ist zu sumpfig. Eine Wohltat für die Natur. Doch ein Wanderpfad ist auch nicht mehr erkennbar. Streckenweise reicht die Viehweide bis ans Seeufer, dann wieder steht das Wasser über eine weite Fläche zwischen den Erlen und deren kräftigen Wurzeln. Dazwischen gelbe Inseln aus Sumpfdotterblumen. Ruth und ich finden unseren Weg zwischen den Erlen und dem Röhricht auf der einen und den Eichen und den Kiefern auf der anderen Seite. Wir haben nur darauf zu achten, dass uns ein tiefer Wassergraben nicht den Weg abschneidet. Im Laub richten vorjährige Boviste die dünnen Hüllen nach oben; aus ihrem Mittelloch stäuben Sporen, wenn der feuchte Wanderschuh dagegen stösst.

Am weitesten wage ich mich auf die Weide hinaus – immer wieder das Einsinken der festen Wanderschuhe riskierend -, als vor mir Wildgänse aufsteigen. Sie haben auf der Wiese das frische Grün verschlungen. Von weitem hatte ich nur das Schnattern gehört und wie selbstverständlich angenommen, dass es sich um Haustiere aus Schweinrich, dem wir uns bereits wieder näherten, handeln würde. Ich sah die Gänse nicht, und erst als ein Dutzend vor mir aufstieg und jenseits des Röhrichts wieder auf dem Wasser aufsetzte, nahm ich wahr, dass die Vögel grau und etwas kleiner als Hausgänse waren.

Ich gehe auf ihrer Futterwiese langsam bis zum Rand des Röhrichts und kann sie durch den schütteren Bewuchs auf dem Wasser schwimmen sehen. Ein Gänsepaar beobachte ich durch das Teleobjektiv über längere Zeit. Die dunklen Silhouetten heben sich deutlich von der silberglänzenden Wasserfläche ab. Die Schilfhalme verdecken die Wildgänse nicht; sie führen wie dünne Striche durch sie hindurch. Ich drücke mehrfach auf den Auslöser meiner Kamera in der Hoffnung, mit wenigstens einer Aufnahme die beiden Tiere mitten in der Bewegung festzuhalten. Währenddessen steigen hinter mir aus den Gebüschen des hügelauf führenden Wiesenrains weitere Wildgänse auf, gleichfalls paarweise und fliegen rauschend, ihre Schreie ausstossend über mich hinweg. Ich verfolge mit dem Teleobjektiv ihren Flug. So im grünen Parka zwischen den Sumpfdotterblumen auf zwei trockenen Grasbüscheln stehend, fühle ich mich als Wesen dieser Landschaft, im eigenen Recht bei der Abwehr auswärtiger Bedrohungen.

Ruth und ich haben uns nicht beeilt, und so erreichen wir Schweinrich erst gegen Abend, doch noch im Sonnenschein. Am Ortseingang – man könnte auch sagen beim letzten Haus in Richtung Rheinsberg, das man auf einer Strasse quer durch das Bombodrom erreicht – treffen wir als erstes auf ein selbständiges, festes Scheunenhaus, wie wir es noch nie gesehen haben. Ich kenne Scheunen als Annex von Bauernhöfen oder als Heuschober in freier Landschaft. Doch hier erhebt sich ein massives Steinhaus wie eine Burg oder ein turmloses Kirchenschiff an der Ortszufahrt, als Scheune erkennbar an den paarweisen, vertikalen Belüftungsschlitzen. Dieser Eindruck des Massiven wiederholt sich im Dorf immer wieder. Die steinernen Bauernhäuser, gesockelt und mit stumpfem Ziegeldach ausgestattet, stehen längs der breiten Mittelstrasse. Mauern verlängern die Firstlinie der Häuser und in der Mitte des Ortes erhebt sich die Kirche als wuchtiger Feldsteinbau mit Backsteinkanten. Am Kirchturm keine Spuren religiöser Symbolik; ein rechteckiger Wehrturm mit kleinen Rundbogenfenstern und ohne Spitze und ohne weite Öffnungen für Glockenklänge, mit einem nach allen vier Seiten hin in einem Winkel von 45 Grad stumpf abfallenden, leuchtroten Ziegeldach. Eine bodenständige, eine trotzige Kirche, und davor steht das Rathaus, ausnahmsweise ein Fachwerkbau, mit einem bemerkenswerten Schaukasten für «Amtliche Bekanntmachungen». Zu diesen gehört das brandenburgisch Übliche, also die neue Hundehalteverordnung der Landesregierung: «Gefährliche Hunde sind ausserhalb des befriedeten Besitztums an der Leine zu führen und es besteht grundsätzlich Maulkorbpflicht… Der Hund muss mit einem Mikrochip-Transponder gemäss ISO-Standard gekennzeichnet sein.» Solche Mitteilungen sind nicht weiter verwunderlich, obgleich nirgends Hunde zu sehen sind. Was mich jedoch unter den «Amtlichen Bekanntmachungen» verblüfft, ist etwas weniger Preussisch-Obrigkeitsstaatliches: Im offiziellen Schaukasten hängen zwei Plakate der Bürgerinitiative Freie Heide. Zum einen das eher zeitlose Piktogramm mit dem rot durchkreuzten Militärjet «Für die Freie Heide» und zum anderen das jüngste Ostermarschplakat «10. Osterwanderung für Frieden und FREIe HEIDe. Hier nicht und nirgendwo». In Schweinrich wird Widerstand also auch von Amts wegen geleistet, seit zwölf Jahren vom (ehrenamtlichen) Bürgermeister Helmut Schönberg, Jahrgang 1941 und von Beruf Tiefbauingenieur.

Am späten Sonntagnachmittag ist das Dorf menschenleer. Ruth und ich wollen jetzt auch mit niemandem reden. Das heben wir uns für einen späteren Besuch auf. Im Sommer wird dann auch der «Dorfkrug» wieder geöffnet sein. Jetzt ist keine Speisekarte im Aushang zu finden.

Das Dorf ist adrett. Die meisten Häuser wurden in den vergangenen Jahren renoviert, die Fassaden ausgebessert und frisch getüncht. Nun sind die Girlandenelemente an den Fassaden und die farbigen Jugendstilgläser in den Haustüren in guter Verfassung, und auch die zu DDR-Zeiten errichtete emaillierte Tafel, die an den Todesmarsch der KZ-Häftlinge von Sachsenhausen im April 1945 erinnert, ist blank geputzt. In der Betongussschale davor blühen frisch gepflanzte, gelbe Stiefmütterchen.

Das einzige Bauwerk, das die Bedrohung des Ortes durch den Fluglärm deutlich macht, steht neben der massiven Scheune am Ortsausgang. Es ist der weisse Rohbau eines anderthalbgeschossigen Wohnhauses aus Kalksandstein. Das Richtfest dürfte noch stattgefunden haben. Die Dachsparren sind aufgenagelt. Es fehlen die Ziegel. Eine Plane unter den Sparren verhindert das Eindringen des Regens. Auch die Fenster fehlen, schwarze Plastikbahnen flappen in deren Höhlen. Im Erdgeschoss sind die Fenster- und Türöffnungen mit Bauholz vernagelt, das von der Witterung ausgebleicht ist. Der schmucke Neubau könnte bereits mehr als einen Winter so dastehen. Vielleicht ist dem Bauherrn das Geld ausgegangen; vielleicht hat er aber auch die Lust verloren, hier noch mehr zu investieren, solange die Schiessplatzfrage nicht entschieden ist.

Wir gehen durch das Dorf, ohne jemandem zu begegnen. Dann wählen wir den Fussweg zum Campingplatz. Es ist ein trockener, grasiger Pfad auf einem mit wilden Birnen und Eichen bewachsenen Damm. Es wird Abend. Die Anemonen haben ihre Blüten bereits geschlossen und die Köpfe gesenkt. Von der Feuerstelle des Campingplatzes steigt Rauch auf. Es ist schon fast sieben Uhr und wir sind beide müde. Ruth empfiehlt mir, mit den Studenten aus dem Projektkurs nicht um den ganzen See zu wandern, sondern mehrere Orte anzufahren und auch Gespräche vorzusehen. Da mag sie Recht haben, wenn ich auch meine, dass erst das Auffliegen und Landen der Wildgänse mir echte Bodenhaftung und wahren Überblick verschafft haben.