Umbra mortis
Alles begann mit dem Ave Maria. Klar, ich kannte das Stück schon, den Text, heisst das, auch auf Latein, Ave Maria gratia plena Dominus tecum und so; als Schülerin vom Stiftsinternat, da kann ich das, da können wir alle das im Schlaf hersagen. Auch gesungen hatte ich es schon, aber nur im Chor, als eine unter fünf, sieben oder neun Sopranistinnen. Sogar auf Beerdigungen sangen wir es schon, aber diesmal, da stand das Ave Maria eben auch am Anfang. Zusammen mit Pater Gabriel. Gabriel, das war der neue Stimmbildner im Stiftsgymnasium, und an jenem Tag, da besuchte er das erste Mal die Proben unseres Schüler-Chores; den leitet seit vielen, vielen Jahren Pater Josef. Eine Weile hörte Gabriel zu, sah auch zu, versteht sich, und irgendwann, da meinte er, dass ich doch das Solo im Ave Maria singen könne – vorausgesetzt, heisst das, ich erhalte etwas Einzel-Unterricht von ihm.
Klar, die anderen Girls im Chor, die lästerten; mit Gabriels Hilfe, da wird die Maria zur Maria Annunziata, passend zur Adventszeit, die wir gerade hatten; er wird ihr schon die frohe Botschaft verkünden und so; wie man halt so ist als Stiftsschüler und -schülerin, speziell, wenn der Lehrer recht jung ist und fesch – soweit ein Benediktiner halt fesch sein kann, heisst das.
So gingen wir zwei Probenräume weiter, während Pater Josef mit dem Chor weiter gregorianische Gesänge übte, vor allem ein Advent-Antiphon, splendor lucis aeternae, veni et illumina sedentes in tenebris et umbra mortis, Glanz des ewigen Lichts, Todesschatten und all das. Ich konnte es auch noch hören, wie Gabriel die Tür hinter uns schloss und abschloss, magna lux divinitatis, quam nulla umbra mortis und so – bis Gabriel sich an den Flügel setzte, um mein Solo durchzugehen.
Wir kamen gut voran, glaube ich, bis zum Mater Dei; da war Gabriel scheinbar nicht so glücklich mit meiner Intonation; zu viel Vibrato, zu viel Pathos; das ist schliesslich kein Mendelssohn, meinte er. Daher stand er vom Klavier auf, trat an mich heran und fasste mit beiden Händen sanft an meinen Kehlkopf, während ich sang und während drüben der Chor sich mit dem umbra mortis herumschlug; immer wieder lux und umbra mit den so schwierigen hohen und tiefen Tönen; offenbar war Pater Josef nicht zufrieden mit dem Zusammenklang von Männer- und Frauenstimmen.
Auch Gabriel lauschte dem eine Weile. Ich dürfe, meinte er dann, meinen Text nicht nur als Gesang sehen, als eine stimmliche Herausforderung; es ist Gottesdienst. Ob ich wüsste, dass Maria, als der Engel Gabriel sich ihr offenbarte, wohl auch erst Vierzehn oder Fünfzehn war, höchstens Sechzehn, so wie ich? Eben eher Jung als Frau? So rein, so unschuldig, und doch gewiss begehrenswert … Ja, das wusste ich, sagte ich, nur um irgendwas zu sagen; tatsächlich hatte Pater Georg im Unterricht etwas in der Art erklärt; Mysterium, ewige Jungfräulichkeit, Botschaft der Liebe und all das halt.
Er sei nur ein einfacher Musikus, meinte Gabriel, kein Theologe, aber er weiss, was da bei Lukas geschrieben steht: Da war Maria, und da war Gabriel, sonst keiner, und wer soll erzählt haben, was damals genau geschah bei der Verkündigung? Gabriel gewiss nicht! Und auch er selbst, Pater Gabriel, würde nichts offenbaren; seine Verkündigung gelte allein mir, Maria, und er wünsche sich, mir das eine oder andere beizubringen; und er hoffe, dass ich bald auch das Magnificat singen werde, den Lobgesang Mariens.
Drüben waren sie inzwischen beim splendor lucis aeternae, und auch mir ging allmählich ein Licht auf, wie Gabriel das Deckenlicht ausknipste. So machten wir im Halbschatten weiter, eben in tenebris et umbra mortis; als Menschen, meinte Gabriel, da leben wir halt in Finsternis und im Schatten des Todes; nur so könnten wir dann auch das ewige Licht schätzen lernen, das Licht der Liebe.
Irgendwie landeten wir dann beim Hohelied; wie schön und wie lieblich bist du, du Liebe voller Wonne, dein Wuchs ist hoch wie ein Palmenbaum, deine Brüste gleichen den Weintrauben, lass mich den Palmbaum besteigen und seine Früchte pflücken, wobei, etwas übertrieben fand ich das schon, von wegen Palme, Trauben und all das, oder untertrieben eben, aber Gabriel redete weiter und weiter, soweit er halt noch Atem hatte, und ich, nun, ich hatte wohl noch etwas mehr Luft, dank all der Stimmbildung und so; schon immer lag mir das forte eher als das piano, und an dem Tag besonders; crescendo, diminuendo, irgendwie alles auf einmal, aber nicht immer im Takt.
Auch Paulus kam dran, Hohelied der Liebe; hätte ich der Liebe nicht, so wäre ich nur tönendes Erz und so, wobei, von Palme und Traube zum Erz, das irritierte mich schon damals etwas; wie passt das zusammen?
Schliesslich und endlich, ich weiss nicht wie, landete ich dann tatsächlich beim Magnificat; quia fecit mihi magna, qui potens est, et sanctum nomen eius und so.
Drüben ging der Chor ein letztes Mal das splendor lucis aeternae durch, während Gabriel den Deckel des Flügels wieder glänzend wischte und erneut aufklappte.
Pater Josef war dann sehr zufrieden mit den Fortschritten, die wir gemacht haben, nur meinte er, ich lege nun zu viel Gefühl, gar zu viel Liebe, wie er sagte, in meinen Gesang; ausserdem klinge ich erschöpft, die Stimme schon etwas verschattet; ich solle mich doch erst einmal ausruhen, ausschlafen, und am nächsten Tag noch einmal üben, noch einmal alles durchgehen und wiederholen. Mit Pater Gabriel, versteht sich.
So trafen wir wieder zusammen, Maria und Gabriel, ob wir wollten oder nicht, und wir wollten, und wir wollten auch wieder nicht, denn war es nicht eigentlich wider die Schrift; hiess es nicht: und der Engel schied von Maria nach der Verkündigung? Obwohl, es heisst ja auch, dass Maria noch weitere Kinder hatte; wer weiss, ob dafür auch Gabriel zuständig war? Nur weil es nicht geschrieben steht, da muss es ja nicht geschehen sein, dachte ich mir.
Wie auch immer: Weil Pater Josef noch immer nicht zufrieden war, praktizierten wir wieder und wieder, Tag für Tag, sieben Mal insgesamt; gegrüsst seist du mir, Maria, die du bist gebenedeit unter den Frauen und so. Denke ich heute daran zurück, so war wohl anfangs Gabriel der Begehrende, ich die Begehrte, aber nach und nach, da kehrte sich das um. Die Ursache, die kann ich nicht benennen; die Folgen aber schon: Denn am achten Tag, am 21. Dezember, am kürzesten Tag des Jahres, da fand man Pater Gabriel, wie er im Schiff der Stiftskirche hing, an einem Seile, wie der Taufengel im Querschiff, ebenso starr, ebenso leblos, doch leicht pendelnd im Takte des Ave Maria. Und eben dort, in der Kirche, da sangen wir auch zu seinem Begräbnis das splendor lucis aeternae, und Pater Josef meinte später, das war glänzend, und insbesondere mein Solo im Ave Maria, ora pro nobis peccatoribus, aber eben auch benedictus fructus ventris tui, also mit allem Drum und Dran, tiefempfunden und doch beherrscht. Pater Josef beschloss, dass wir als nächstes nun ein Dies irae einstudieren könnten, und da musste ich lächeln; irgendwie hatte ich das ja schon praktiziert, qui Mariam absolvisti, mihi quoque spem dedisti und all das. Und wie Josef unser splendor lucis glänzend nannte, da musste ich an die Bronzebeschläge am Sarg denken, die irgendwer auf Hochglanz poliert hatte; unpassend für einen Benediktiner, meinte die Sopranistin neben mir; sehr passend für Gabriel, dachte dagegen ich. Nur aus Aeternitatis, aus der Ewigkeit, da wurde nichts, obwohl, wer weiss, ob es nun ewiges Licht oder ewigen Schatten für ihn gibt … Für mich jedenfalls, da endete es mit dem Ave Maria, und es begann halt auch damit, für mich und für Gabriel, die Liebe und das Leben. Das heisst, das Leben, das endete nur für ihn; dafür begann ein anderes, und ich glaube, ich werde ihn Lucius nennen. Oder Lucia, je nachdem. Eben geboren ins Licht und aus dem Schatten.