Unerhörtes Gebet
„Wo ist denn der Josef? Kommt der nicht mit?“ Das ist sein Vater. Alle sind gekommen. Die vielen schwarz gekleideten Leiber in der zu engen Küche, steifes, ungetragenes, vom herbstlichen Nieselregen dampfendes Tuch, aus dem ein fremder Geruch nach Mottenkugeln und diesem Holz aufsteigt, das die Mutter immer in die Wäschetruhen legt, ein fremder, feierlicher Geruch, unter dem die bekannten Alltagsgerüche nur noch ganz schwach wahrnehmbar sind. „Josef, komm, wo bist du, wir müssen los!“ Die Stimme seiner Mutter aus der Stube, in der schon das Buffet aufgebaut ist für den Leichenschmaus. Leichenschmaus, so haben sie es genannt, gestern Abend, und der Josef hat vor Entsetzen über dieses Wort, über diese Tatsache, diese furchtbare Tatsache lange nicht einschlafen können. Durch die angelehnte Tür hört Josef das leise Seufzen, mit dem seine Mutter sich bückt, um unter dem Tisch nach ihm zu sehen. „Josef?“ Jetzt lässt sie das Tischtuch sinken und blickt sich suchend um. „Wir kommen zu spät, Josef, die Glocken läuten schon, hörst du nicht?“ Dann öffnet sich die Tür und die Mutter steht vor ihm. „Josef, was machst du denn da in der dunklen Ecke. Komm her, ich helf dir beim Anziehen.“
In der Kirche sitzt Josef zwischen seinen Eltern in der ersten Bank, direkt unter der kleinen, alten Seitenkanzel aus geschnitztem schwarzem Holz. Ganz aufrecht sitzt er da, kein Wort hat er auf dem Weg hierher gesprochen. Rechts neben ihm der Vater in dem schwarzen Anzug, den er erst zweimal hat tragen müssen und dessen Stoff so steif ist, dass es fast aussieht, als halte der Anzug den Vater aufrecht, als sei der Anzug das Einzige, was den Vater aufrecht hält. Und links neben ihm die Mutter, in dem guten Kleid, das sie bisher nur einmal, zu ihrer Hochzeit, getragen hat, mit einem grossen Wolltuch um die Schultern, das sie vorne gekreuzt trägt, weil das Kleid schon wieder ein bisschen spannt an der Brust und in der Taille. Neben seiner Mutter sitzen seine beiden grossen Brüder, der Ludwig hat auch schon einen Anzug an, das ist sein Firmanzug. Der Johann trägt wie er selbst Kniebundhosen aus dunklem Leder, das sind die alten vom Ludwig. Seine sind die alten vom Johann. Und der Firmanzug vom Ludwig wird auch irgendwann mal seiner sein. Die Kirche ist voll, und sie sitzen ganz schön eng da vorne in der ersten Bank. Josef schwirrt der Kopf. „Das hätte ihr sicher gefallen, dass so viele Menschen gekommen sind“, sagt die Mutter leise über seinen Kopf hinweg zum Vater. „Ich seh den Franz gar nicht“, flüstert der Vater zurück und wendet suchend den Kopf nach seinem Bruder. „Wo ist denn der Franz?“ „Der kommt sicher gleich“, sagt die Mutter und legt dem Vater über Josefs Knie hinweg beruhigend die Hand auf den Arm. Wie sehr wünscht sich der Josef jetzt, dass die Lene neben ihm sitzt. Die Lene mit ihren langen Zöpfen, an denen alle Brüder sie immer so gern gezogen haben. Bis sie sie abgeschnitten hat. Selbst. Mit der Küchenschere. Was für ein tolles Theater das gewesen war!
Aber die Lene sitzt nicht neben dem Josef. Vor ein paar Tagen ist sie früher aus der Schule nach Hause gekommen, „Kind, wie siehst du denn aus!“ hat die Mutter gerufen, ihr prüfend die Stirn gefühlt. „Ab ins Bett mit dir, ich komm gleich mit den Wadenwickeln nach!“ Der Josef hat in der Küche auf der Bank gesessen und ein Butterbrot gegessen. Als er die Lene gesehen hat, ist er wahnsinnig erschrocken und hat sofort ein ganz schlechtes Gewissen gehabt. Denn wenn die Lene jetzt krank ist und stirbt, dann ist das seine Schuld. „Seppl, Seppl, was bist Du für ein Deppl…“ hat die Lene immer gesungen, wenn sie den Josef ärgern wollte. Alles wusste die Lene besser, dabei war sie nur ein Jahr älter als er und erst gerade in die Schule gekommen. Letzten Sonntag vor dem Kirchgang hat sie ihn noch ausgelacht, weil er wieder nicht rechtzeitig zum Frühstück fertig gewesen war und deshalb keine Heisswecken mehr abbekommen hat. Den letzten hat sie ihm vor der Nase weggeschnappt. Er war so wütend gewesen, dass er in der Kirche an nichts anderes hatte denken können als an die verlorenen Heisswecken und an die gemeine Lene. Und dann ist es einfach passiert. Dann hat er in der Kirche „Ich wünschte, sie wäre tot“ gedacht, und hat sich gleich fürchterlich erschrocken und ganz schnell gewollt, dass die Lene wenn nur ein bisschen krank werden solle.
Wenn er jetzt die Augen schliesst, kann er sie singen hören, die Lene: „Seppl, Seppl, was bist du für ein Deppl!“ Josef presst die Augen fester zusammen und fängt leise an zu summen, um das Spottlied zu übertönen, er kann sich ja schlecht die Ohren zuhalten hier in der Kirche zwischen all den Leuten, und ausserdem ist das Lied ja gar nicht aussen, sondern in ihm drin. Hinter seinen Augenlidern beginnen kleine schwarze Punkte zu vibrieren und zu winzigen schwarzweissen Rechenschiebern zusammenzufliessen, und er spürt den erschrockenen Ellenbogen seiner Mutter in der Seite. Jetzt erschrickt auch Josef und bricht ab, aber das Summen hört nicht auf, es vereint sich mit dem Spottlied seiner Schwester, und nun singen sie zusammen, er und Lene, ein doppeltes Spottlied, immer lauter. Vorsichtig schielt Josef nach seiner Mutter, aber die scheint nichts zu bemerken, ihr Blick ist fest auf den Sarg neben dem Altar gerichtet. Schnell schaut er auch zum Vater und dem Onkel, der sich eben noch mit in die Bank gezwängt hat. Keiner scheint etwas zu hören. Als Josef wieder nach vorne sieht, zum Pfarrer, der jetzt davon erzählt, was für eine besondere Person die Verstorbene gewesen ist, muss er plötzlich ein bisschen weinen, und weil hinter ihm auch schon jemand sich ganz laut schnäuzen muss, merkt es gerade keiner. Und sowieso hört niemand, wie sich sein Schluchzen zu dem Summen und dem Spottlied gesellt und es jetzt schon dreistimmig in dem Josef tönt.
Und jetzt sagt der Pfarrer endlich Amen und die ganzen schwarzen Menschen um Josef herum bekreuzigen sich und in den kalten Weihrauchgeruch der Kirche mischt sich wieder der feierliche Mottenkugelgeruch, als die Orgel anfängt zu spielen und sich alle erheben und langsam hinter dem Sarg, der vom Vater und seinen Brüdern getragen wird, her aus der Kirche schreiten, in einer langen, langsamen Prozession. Die schwarze Menschenschlange reicht vom Gotteshaus bis fast zum Friedhof, und in dem kleinen Josef tönt es inzwischen sechs- und siebenstimmig, das Spottlied, das Summen, das Schluchzen, das Beten, die Orgel, die gemessenen Schritte, die gemurmelten Beileidsbekundungen, alles hat sich jetzt vereint zu einer einzigen Musik. Mit glänzenden Augen geht der Josef zwischen seinen Eltern, stumm vor Ehrfurcht vor der Vielstimmigkeit in seinem Kopf. Mit glänzenden Augen steht er am Grab und sieht, wie der Sarg herabgelassen wird. Zusammen mit all den anderen schwarzen Menschen wirft er eine Handvoll Erde auf den Sarg. Und dann hört der kleine Josef verwundert zu, wie mit jedem Aufschlagen der steinigen Friedhofserde auf dem hellen Holz des Sarges die Musik in seinem Kopf schwächer und schwächer zu werden beginnt.
Als der Sarg nicht mehr zu sehen ist, streicht die Mutter über seinen Kopf und fasst nach seiner Hand. „Komm, Josef, wir gehen heim. Zuhause warten sie sicher schon auf uns.“ Josef legt seine Hand in die seiner Mutter und wandert stumm mit ihr nach Hause. In seinem Kopf ist jetzt gar nichts mehr, keine Musik, keine Erinnerung, keine Trauer, und er ist froh, dass die Mutter ihm in der Diele auch beim Ausziehen hilft. Durch die angelehnte Tür kann er die Leute im Haus schon hören. „Na, Josef, hat es dir die Sprache verschlagen?“ Der Vater kommt aus der hellen, warmen Stube und hält ihm kurz die Hand an die Wange. Da erst fällt dem Josef auf, dass die Mutter ihn gerade gefragt hat, ob er Kuchen möchte. „Der Josef hat die Oma halt sehr lieb gehabt, nicht wahr?“ hört er die Mutter sagen, und „Komm, Josef, nimm doch von dem schönen Kuchen, der Lene kannst du auch gleich etwas mitbringen.“
Ein bisschen benommen ist er noch, der Josef, als er mit dem Kuchenteller langsam zur Treppe geht. Stufe für Stufe klettert er vorsichtig nach oben. In der Luft ein schwacher Geruch nach Zwiebeln, Minze und Essig. Die Tür zu Lenes Zimmer ist angelehnt und er hört seine Schwester schon leise rufen: „Seppl, Seppl…“. Aber da, jetzt kommt Leben in den Josef. Der ist so schnell in Lenes Zimmer, dass man sich wundern muss, dass ihm der Kuchen nicht herunter fällt, springt auf das Bett und hält ihr den Teller hin. Die Lene guckt schon erst ein bisschen erstaunt, und Josef denkt kurz, dass sie jetzt sicher den Kuchen wieder ganz alleine aufessen wird. Nein. Plötzlich muss die Lene kichern und guckt ihn dabei immer so an, dass es im Josef auch zu kichern anfängt, da kann er gar nichts machen, erst ganz leise und dann immer mehr, und dann können sich irgendwann beide fast nicht mehr halten vor Lachen, sehen sich an, atemlos, Tränen in den Augen.