Vom Sitzen, vom Stehen, vom Schneien und Gehen
Das Café heisst «My Place» und es lügt aber er kommt, hängt die Jacke über die Stuhllehne hinter seinem Rücken und der Pullover ist rot und jetzt beginnt es zu schneien. Ich sage, jetzt beginnt es zu schneien. Er fragt, wie es geht. Ich denke, das Schneien ist ja ein Zustand. Ich frage, und dir.
Zwei Männer mit Kokosnüssen in Brasilien am Meer. Sie schieben einen Wagen vor sich her und einer von ihnen ist der Kokosnussköpfer. Die Köpfe fallen auf den Boden, der ist ein Strand, da kullern sie ein Stück und bleiben liegen. Das Publikum steht traubenförmig, es schaut zu und kauft die geköpften Kokosnüsse. Einer räumt auf, sammelt das Liegengebliebene in Abfallsäcken.
Er sagt, in einer Stunde wartet ein Japaner in seinem Büro. Er fragt mich Sachen. Ich frage Sachen zurück. Uns fehlen Erzählungen. Ich rauche, er raucht mit, er sagt, jetzt will ich zuerst einmal eine Zigarette rauchen. Ich sage, es passiert eben nichts. Mein Blick setzt sich auf die weissen Punkte in der Luft hinter dem Glas, er ruht sich da aus und schaut zu uns herein.
Gestern habe ich auf den Bürkliplatz gekotzt. Am Morgen wartete ich unter der Decke auf den Sauerstoffmangel wie auf meinen besten Freund. Er wird die schwarzen Punkte bringen, das dachte ich, er wird sie mir in die Augen streuen, wo sich Tränenflüssigkeit ihrer annehmen, sie aufweichen, ausdehnen wird zu einer guten Dunkelheit. Das Verlassen der Wohnung glich dem Zurückschlagen der Bettdecke und ich stand schliesslich doch ausser Atem viel zu früh auf dem noch menschenleeren Perron, zählte die Stiche in der Lunge und später die hölzernen Querbalken zwischen den Gleisen. Im Zug sassen die fremden Gerüche, die Augen der Leute über den Rändern der Tagespresse. Croissants wurden aus Verpackungen gezogen, vereinzelt bereits ein Sandwich, die Papiertüten trugen antike Bäckereischriftzüge, wurden geräuschvoll zerknüllt und landeten unter dynamischem Aufreissen und Zuknallen in den aus allen Nähten platzenden Abfallkübeln. Es gelang mir nicht, mich gebührend von den ungeschickt viel zu weit ins weiche Weiss beissenden Zähnen abzuwenden, von der trotz Bedacht nicht zu verbergenden Gier der hastig kauenden, schluckenden Mäuler. Krümel verteilten sich auf Anzügen, hinterliessen Fettflecken auf pastellfarbenen Bügelfaltenhosen, klebten in Mundwinkeln oder schwebten schneegleich zu Boden.
Eine Ansammlung von Leuten tritt auf, tritt ein, Schneepunkte werden, von einem Wind erfasst, durch die offene Tür getragen, bringen mir meinen Blick zurück. Sein roter Pullover. Ich kann ihm doch nicht vom Bürkliplatz erzählen. Er sagt, die Invasion dieser Menschen passt jetzt schlecht. Jemand kommt und fragt, ob der dritte Stuhl an unserem Tisch noch frei sei. Er sagt, das ist nicht unser Text. Ich sage, selbstverständlich, bitte.
Gestern hat es auch geschneit, und eigentlich war mir schon im Büro speiübel. Ich schlich den Wänden entlang, taub und an den Rändern blind, es war kurz vor neun, man stand herum, einen Kaffeebecher in der Hand, das ultimative Accessoire aller Fleissigen und Wachen aus der dröhnenden Maschine mit den ausgelassenen Gesichtern darauf und der nur langsam schrumpfenden Warteschlange davor. Der hellgrüne Kunststofffussboden wankte, als ich darüber hinaus flüchtete. In der Cafeteria im Parterre trank ich zwei Tassen Tee, zerlegte ein Vollkornbrötchen, ass, betrachtete die Zeilen eines so genannten Abstracts, studierte die Notizen am Textrand, erkannte staunend meine eigene Handschrift, verstand kaum. Im lauten Gemurmel fachkundiger Besprechungen sah ich drei Tische weiter zwei Frauen von Wichtigkeit sitzen, versuchte ein Lächeln, nickte ihnen zu. Mir war schlechter. Es reichte gerade noch für einen Versuch der Verachtung, dann kam das erste Würgen, ich liess es vorübergehen, verstaute das Papier, brachte brav Tasse, Löffel, Unterteller zur Abräumstation und begab mich zu den Damentoiletten.
Wir schweigen ein bisschen. Ich schaue auf die Uhr, er gähnt, er sagt, die sehen alle irgendwie so gesund aus, er meint die Teilnehmenden der Ansammlung von Leuten am Nebentisch. Ich denke an den Satz: Einmal mehr überkam mich der alte Hass auf alles Zufriedene. Er fragt, ob wir uns aus Höflichkeit nichts erzählen. Er fragt, wie geht es dir gesundheitlich.
Die drei Damentoilettentüren waren abgeschlossen, ich lehnte an einer feuchtkalten Wand, vor mir und hinter mir volle Blasen, Därme und Tampons, vielleicht auch bloss verrutschte Unterwäsche, die gerichtet sein wollte, stressnasse Achselhöhlen, die Deodorant verlangten, zerzauste Frisuren, die auf Kämme warteten oder Haarspray. Die wundersame Feststellung, dass man in dieser Stadt selbst zum Kotzen Schlange stehen muss, bescherte mir eine übelkeitsfreie Sekunde, dann aber brüllte das Elend umso lauter, irgendwie stand ich durch und kauerte schliesslich in der hintersten Klokabine. Ausser hässlichen Kehlkopfgeräuschen kam nichts. Einzelne trübe Spülwassertropfen rollten den Schüsselrand hinab und stanken. Wenigstens das Denken hatte aufgehört jetzt, mein Körper wand sich, keuchte und stöhnte und klammerte sich an der Klobrille fest, an der beschmierten Kabinentrennwand, am Boden. Es war stiller geworden um mich. Ich las: Kurz drücken wenig Wasser, lang drücken viel Wasser. Ich versuchte aufzustehen.
Und deine Mutter, fragt er. Ja, immer die Familie, immer das Wetter, danke, sage ich, gut, danke. Ich muss mal kurz aufs Klo, sagt er, ich bin sofort wieder zurück. Ich schaue mich um. Mitten in einem Sofort sitze ich, in einem Café, das sich «My Place» nennt, weil man darin alles kaufen kann, es schneit und ich halte Zwiesprache mit dem Kragen einer Lederjacke auf der Stuhllehne gegenüber.
Bezüglich der Schritte zur Strassenbahnstation verzählte ich mich mehrmals. Ich ging langsam. Es näherte sich schliesslich ein Schienenquietschen, ich stieg hinein, presste die Stirn an die kalte Scheibe, schaffte es bis zum Bellevue, dann wieder Würgen, ich hielt mir die Hand vor den Mund, stürzte auf den Bürkliplatz und erbrach endlich das Vollkorn, vom Tee rötlich eingefärbt. Ich rang nach Luft, wollte mich aufrichten, aber da fiel mir das Gefühl der Erniedrigung mit voller Wucht in den Rücken und drückte mir beinahe das Gesicht in die rostbraune Lache. Eine Weile verharrte ich so. Dann kroch eine neue Empfindung aus dem asphaltierten Boden durch die Füsse an den zitternden Knien vorbei direkt in die Brust. Ich sehnte mich mit einem Mal und mit ohrenbetäubender Heftigkeit nach einer Berührung, nach einer Hand auf meiner Stirn, jemand soll bei mir sein, ein Fremder soll seinen Ekel überwinden und sich zu mir herunterbeugen, aber alles entfernte sich, bis auf die Blicke natürlich, deren Nähe jeden Trost unerreichbar machte, also stand ich endlich auf, sah Köpfe sich drehen, und wie mir gleich darauf dunkel wurde, ich ging und ging in diese Schwärze hinein bis zum Bahnhof, der «Enge» heisst, was mir einleuchtete, gerade mehr als alles andere.
Nächstes Mal, schlägt er vor, bestellen wir Alkohol. Also lachen wir, nicht zu laut, nicht zu verschluckt. Ich grüble in meiner Hosentasche nach Streichhölzern, ziehe eine neue Zigarette aus der Schachtel auf dem Tisch, zünde sie an, er will keine mehr. Nein danke. Der Stuhl, auf dem er sitzt, kostet SFr. 175.-.
Vor gestern ging die Zeit nackt, sie war ein Herumirren, begleitet von nichts als drei oder vier Gedanken und einer Kälte, die in den Knochen wohnte und nicht einmal mehr nachts ausging. Ein wütendes Staunen darüber, wie die Dinge weiterliefen, wie man manchmal noch beim Laden um die Ecke ankam, der Blick auf das Doppelkinn der Frau an der Kasse das einzige Gespräch, wie immer rechtzeitig ein Lächeln kam, dass Weihnachten stattfand, eine Arbeit auf dem Schreibtisch lag, wie es jedes Mal hell wurde, wenn auch spät, kurz und trübe. Heute Morgen durch das Strassenbahnfenster sah ich das Erbrochene zugefroren.
Sag noch etwas Schönes. Das sagt er und muss also los. Du musst natürlich nicht, fügt er hinzu, ich schweige, ich denke mir ein Aha und ein Haha und dann gleich noch ein Ausrufzeichen dazu. Er steht auf, er steht neben dem Tisch.
Die brasilianische Dunkelheit fällt unmissverständlich vom Himmel. Die Leute lassen das Meer allein. Oben an einem kleinen Sandhügel, dort wo der Trampelpfad in der Strasse zur Stadt ankommt, steht der Kokosnussabfalleinsammler auf dem Wagen und hält eine Rede. Seine Arme tanzen auf und ab, der Kopf wackelt hin und her. Der Kokosnussköpfer sitzt etwas weiter weg am Boden. Wellen seines kehligen Lachens schwappen über den Sand und vermischen sich mit dem flatternden Geräusch zeitweiligen Applaudierens.
Bitte rasch aussteigen, Tür schliesst bei freiem Trittbrett automatisch. Wie? Fragt er. In der Strassenbahn, das steht dort geschrieben, auf Täfelchen, die über jedem der Ausgänge angebracht sind. Ach so, ja, sagt er, der rote Pullover verschwindet unter der Jacke. Ich lade dich ein, sagt jemand von uns. Ich bleibe nicht sitzen, ich gehe dann auch.