Wiedersehen im Hamam
Forstmosers ausgetretene Birkenstock-Sandalen stanken ganz fürchterlich. So fürchterlich, dass sogar der Hund im Büro einen weiten Bogen um das Pult des Professors machte.
«Dieser Mief hier im Institut ist schon grenzwertig», sagte Liniger zu Kollege Rüttimann. «Der Hund?», fragte dieser nach. «Der Forstmoser», sagte Liniger. Rüttimann und Liniger arbeiteten seit zwei Jahren als wissenschaftliche Mitarbeiter am Biochemischen Institut der Universität Zürich. Das Interesse an der Identifizierung intrazellulärer Signalwege bei der Differenzierung humaner hämatopoetischer Stammzellen zu myeloiden dendritischen Zellen hatte sie vor zwei Jahren hierhergeführt. Unterdessen hatte sich ihre Begeisterung für dieses Thema, ja eigentlich die Freude an der wissenschaftlichen Forschung im Allgemeinen, gelegt. Vor allem Liniger hatte die Nase sprichwörtlich voll von der universitären Tätigkeit. «Wir sind doch auch nicht besser als die Privatwirtschaft», sagte er einmal bei einem Mittagessen in der Mensa zu Kollege Rüttimann. «Einfach ein bisschen fauler.» Rüttimann hatte ihm damals Stress attestiert und ihm dringend Ferien empfohlen. «Fahr doch mal wieder weg. Drei Wochen. Oder vier. Du wirst sehen, das kommt schon wieder.» Liniger war schon lange nicht mehr weggefahren. Sein Ferienkonto wies mittlerweile 35 zusätzliche Tage auf. «Wohin soll ich denn?»
Liniger und Rüttimann gönnten es sich an diesem Freitagnachmittag, zwei Stunden früher ins Wochenende zu gehen. Eigentlich machten sie das jeden Freitag so. Denn der Professor meldete sich freitags immer schon am Mittag ab, da er das Weekend bei seiner Familie in Deutschland verbrachte, noch nach Frankfurt fahren musste und über 400 Kilometer zurückzulegen hatte.
So sassen Liniger und Rüttimann bereits um Viertel nach vier im Pub – gleich um die Ecke des Instituts – und hielten sich an ihren Pints fest. Beide schwiegen und nahmen erst einmal einen Schluck. Und noch einen. Sie hatten einander ja während der Woche im Büro eigentlich schon alles gesagt. Es war genau diese anfängliche Stille, die die Gedanken des philosophisch veranlagten Liniger anregte und dem Abend eine entscheidende Wende geben sollte.
«Vielleicht sollten wir nach Amerika auswandern», durchbrach Liniger die Stille. «Amerika – das ist doch die Sehnsucht aller Verzweifelten», sagte Rüttimann. «Der Vater meiner Ex war richtiggehend vernarrt in den American Dream. Er hat sogar den PIN-Code seines Schliessfachs so gewählt, dass ihm sein Traum vom Auswandern immer wieder vor Augen geführt wird. Eins, vier, neun, zwei – 1492 – die Entdeckung Amerikas durch Christoph Kolumbus.»
«Du kennst den PIN zum Bank-Schliessfach deines ehemaligen Schwiegervaters in spe?» – «Wir erzählten uns alles, Julia und ich», sagte Rüttimann. Und seine Stimme klang gleich ein bisschen weicher. «Ich weiss, wo Julias ältere Schwester überall tätowiert war. Wo Julias Mutter ihre vermeintlichen Alumni-Weekends wirklich verbrachte. Und warum ihr jüngerer Bruder noch nie eine Freundin hatte und auch nie eine Freundin haben wird.»
«Ok, ok», meinte Liniger, «zurück zum Wesentlichen: Du weisst, wo der Goldschmuck dieses Vaters, wie hiess Julia nochmals zum Nachnamen?» – «Odermatt.» – «… dieses Odermatt liegt?» – «Es ist kein Gold. Im Fach liegt ein Edelstein. Ein ‹Fancy Vivid Pink›. Julia meinte, wenn wir jemals heiraten sollten, wolle sie einen Ring mit diesem Stein tragen.»
«Fancy Vivid Pink?» Was für Liniger erstmal wie eine Girlie-Plastik-Schmuck-Eigenmarke eines schwedischen Mode-Unternehmens klang, entpuppte sich nach einer kurzen Internetrecherche als einer der seltensten Diamanten der Welt.
«Rüttimann, da steht, Edelsteine dieser Sorte hätten einen Wert von mehreren Millionen Franken.»
«Natürliche Farbdiamanten haben in den vergangenen zwanzig Jahren eine überdurchschnittliche Wertsteigerung entwickelt, das ist richtig», entgegnete Rüttimann nüchtern und wie immer ganz der Wissenschaftler. «Julias Vater hat den Stein von seiner Urgrossmutter geerbt. Unterdessen hat er halt ein bisschen an Wert gewonnen.»
«Rüttimann, ich weiss, was wir tun müssen, um unser Leben als Birkenstock-Follower für immer hinter uns zu lassen.»
«Ein halbes Bier und du bist bereits betrunken? Rüttimann, konzentrier dich auf dein Pint oder alles, was du ab jetzt sagst, kann später vor Gericht gegen dich verwendet werden.»
«Rüttimann, verstehst du nicht?», fragte Liniger, «du hast den Code geknackt, der uns zu Millionären macht!»
«Ich geh jetzt mal pinkeln», sagte Rüttimann, und glaubte den Eifer Linigers so erstmal etwas abzubremsen. Am Pissoir stehend, fiel es ihm plötzlich wie Schuppen von den Augen, dass er in seinem Leben ausser den Säulen, Sälen und Sandalen der Universität Zürich wahrhaftig noch nicht viel gesehen hatte. Dass ihm ein Weiterkommen, egal in welche Richtung, vielleicht wirklich guttun würde. Und nicht zuletzt: Er mit seiner ehemaligen Freundin eigentlich eh noch eine Rechnung offen hatte. Julia, die ihn damals mit dem Satz «Ich liebe dich einfach nicht mehr» auf die Strasse stellte und ein Loch so tief wie der Walensee in sein Herz riss. «Ich liebe dich einfach nicht mehr» – diese Erklärung wollte er damals nicht gelten lassen und hat er bis heute nicht verstanden. Die Begründung war in seinen Augen einfach nicht «valide», wie er es als Wissenschaftler ausdrückte.
Zurück am Tresen reichte er Liniger die Hand.
Alles, was sie noch brauchten, war Odermatts Bankkarte, die vor der Eingabe des Codes beim Eingang zum Schliessfach-Raum gescannt werden musste.
Rüttimann wusste, dass der Vater seiner Ex-Freundin immer mittwochs im Stadtbad das Hamam besuchte. Die perfekte Gelegenheit, um an Odermatts Karte zu kommen, die er mutmasslich im Umkleidespind deponieren würde. Und ausserdem der perfekte Ort, da er nicht kameraüberwacht war. «Bei der Intimzome hört der Überwachungsstaat auf», sagte Liniger. Eigentlich beruhigend, dachte Rüttimann.
Soweit der Plan.
Liniger stand draussen vor dem Haupteingang zum Bad, um Rüttimann über Funk von der Ankunft der Zielperson zu berichten. Die beiden waren übers Ohr miteinander verbunden. Rüttimann stand derweil Schmiere im Hamam, trug nichts als einen Spa-Mantel. Wie alle anderen Badegäste. Er sollte ja nicht auffallen.
Was Rüttimann dann sah, damit hatte er nicht gerechnet. Seine Ex-Freundin Julia trat aus der Damen-Garderobe, nein: schwebte aus der Damen-Garderobe. Engelsgleich. Im weissen Flauschemantel und mit zum Heiligenschein hochgesteckten, blonden Haaren. Rüttimann legte hastig den Mantel ab, flüchtete sich ins nahegelegene Becken und tauchte unter. Der trifft sich mit seiner Tochter im Hamam?, fragte er sich, hatte jedoch nicht lange Zeit zum Überlegen. Ihm ging die Luft aus.
Wie eine Kröte tauchte Rüttimann zwanzig Sekunden später im Zeitlupentempo wieder auf, trat, von Julia abgewandt, ungelenk seitlich die Treppe hoch aus dem Wasser und schlich sich hinter einen Marmorpfosten.
«Odermatt ist jetzt im Bad», funkte Liniger, «es geht los.»
Rüttimann erhaschte von seinem Standpunkt vor dem Eingang zur Garderobe aus einen letzten Blick auf Julia, die ihren Mantel sanft über ihre Schultern zu Boden gleiten liess und ihrem Vater ins Becken folgte.
«Perverser Wichser», sagte Rüttimann. Für Liniger via Funk gut hörbar. «Was sagst du?» – «Odermatt planscht nackt mit seiner 25-jährigen Tochter. Das ist doch pervers, oder nicht?» – «Konzentrier dich jetzt auf deine Aufgabe, Rüttimann, und sieh zu, dass du mir hier in der Garderobe den Rücken freihältst», antwortete Liniger. Liniger packte seine Metallsäge aus und machte sich damit am Spind der Zielperson zu schaffen.
«Bitte nächste Garderobe benutzen», hatten sie auf ein Blatt geschrieben und vor den Eingang zur Umkleide gehängt. Eine Massnahme, um nur eine der beiden Türen der Männergarderobe bewachen zu müssen. Auf der anderen Seite – jener zum Bad hin – stand Rüttimann und wäre im Notfall zur Stelle gewesen, wenn jemand hätte hineingehen wollen.
Der grosse Coup wurde für Rüttimann allerdings plötzlich zur Nebensache. All seine Gedanken drehten sich um die Tatsache, dass dieser 62-jährige rückenbehaarte Bonze mit seiner lieben Julia im türkischen Bad weilte. Und darum, dass Julia noch immer so schön aussah wie damals, als sie beide noch zusammen waren.
Immer wieder machte Rüttimann seinen Hals lang, damit er vielleicht noch einmal einen Blick auf Julia werfen könnte. Doch seine Verflossene blieb im Dampf verschwunden.
Rüttimann war mit seinen Gedanken ganz woanders, sodass ihm prompt ein Gast durch die Lappen ging und Liniger in der Garderobe überraschte. Gerade noch rechtzeitig stellte dieser sich vor den aufgesägten Spind und rubbelte ablenkungshalber seine trockenen Haare. Während zweier langer Minuten. Bis der Mann die Garderobe durch den anderen Ausgang wieder verliess und Linigers Frisur wie ein physikalisches Experiment aus dem Technorama Winterthur aussah.
«Phu, das ging gerade nochmal gut», sprach Liniger seinem Gefährten aufs Ohr, der seinerseits von der brenzligen Situation gar nichts mitbekommen hatte. Odermatts Portemonnaie war nun in Griffweite. Liniger durchsuchte die Brieftasche nach der Bankkarte. Tatsächlich. Da war sie. Wie ein Boxer die Siegerfaust hielt er die Karte in die Höhe und stiess einen stummen Freudenschrei aus. Ein wichtiges Etappenziel.
Liniger legte das Portemonnaie zurück und lötete das Metallgitter vorsichtig wieder zu, um die Spuren zu verwischen und Zeit zu gewinnen, bis Odermatt die Entwendung bemerken würde. Danach funkte er seinen wehmütig dem Spiel der Dampfwolken hinterher träumenden Komplizen zurück ins Hier und Jetzt. «Rüttimann, ich hab sie, es geht los!»
«Weisst du, was ich an ihr am meisten vermisse?», fragte Rüttimann Liniger, als die beiden in Richtung Vereinsbank Altstetten fuhren. «Nein, weiss ich nicht», antwortete Liniger, der den Fluchtwagen schweissgebadet mit möglichst unauffälligen 20 Stundenkilometern durch die verkehrsberuhigte Glättlistrasse lenkte, «aber weisst du, was ich an dir vermisse? Deinen verdammten Fokus aufs Wesentliche!»
Rüttimann schwieg. Und malte sich vor seinem inneren Auge aus, wie seine geliebte Julia ihrem Vater gerade zwei Birkenzweige erst sanft, dann immer härter auf dessen haarigen Rücken drosch. Und mit jedem Schlag spürte Rüttimann den Schmerz etwas stärker, der ihn nach all den Jahren noch immer plagte.
Unterdessen war es kurz nach acht. Die Bank hatte seit zwei Stunden geschlossen. Die Sonne sich ebenso lange verabschiedet. Keine Kunden oder Mitarbeiter waren mehr vor Ort. Ideale Bedingungen, um den Schliessfächer-Raum der Vereinsbank Altstetten unbemerkt zu betreten. Die beiden besprachen im Auto noch einmal die nächsten Schritte.
«Wir bleiben beim Plan, Rüttimann», sagte Liniger bestimmt. «Konzentrier dich auf dein To-do. Nicht, dass ich nochmals in eine Situation komme, wie eben in der Garderobe.»
«Hast du den Code im Kopf?» – «Hab ich», sagte Rüttimann. Wenn auf ihn bei etwas Verlass war, dann war es sein Gedächtnis. Seine Erinnerung an Zahlen – und an alles andere aus seiner Vergangenheit, wie Julia.
Seine einstige grosse Liebe wollte Rüttimann einfach nicht mehr aus dem Kopf. So sehr er ihr mit diesem Raub alles heimzahlen wollte, so stark hatte ihn auch seine Sehnsucht wieder gepackt. Heute. Im Hamam. Als er sie wiedersah. Und wie er sie wiedersah.
Liniger und Rüttimann setzten sich Roger-Federer-Masken auf und stiegen aus ihrem 91er Opel Astra, den sie tags zuvor bei Auto Züri Ost am Stadtrand für 500 Franken diskret erworben hatten.
Dieses Mal stand Liniger Wache. Er passte an der Strasse auf, dass kein Passant in Sichtweite war. Rüttimann legte die Karte auf die Sensorplatte und tippte den Code ein. Eins. Vier. Neun. – Eins. Nicht wie es richtig gelautet hätte: eins, vier, neun, zwei. Den falschen Code wiederholte er noch einmal. Und noch einmal, hielt aber beim dritten und letztmöglichen Versuch vor der letzten Ziffer kurz inne, schloss die Augen, und horchte der Stimme seiner Julia, die ihm zuflüsterte: «Rütti-Schätzli, bist du mir noch böse?», was Rüttimann mit einem entschlossenen Druck auf die falsche letzte Ziffer – dieses Mal die Neun – verneinte.
Als der Alarm losging war es Zeit für Plan B. Zurück in den Opel und ab in den Aargau, wo der Fluchtwagen unter der Fridolinsbrücke unbemerkt in schweizerisch-deutsches Grenzgewässer geschoben werden sollte. In der Hoffnung, dass sich da die Spurensuche nur schon aufgrund der Zuständigkeitsunklarheit erschweren würde.
Als Rüttimann und Liniger sich tags darauf in der Mensa der Universität Zürich wie jeden Tag bei einem Zwei-Franken-Kaffee gegenübersassen, sagte Liniger: «Er hat den Code erneuert.» – «Er hat den Code erneuert», bestätigte Rüttimann, «es ist nichts, wie es mal war.»