WO LIEGT AFRIKA?
Wo liegt Afrika? fragte die Lehrerin. Ivo, sagte sie, zeig uns auf der Karte, wo Afrika liegt. Ivo zögerte einen Augenblick, stand dann von der Bank auf und ging zur Wandtafel. Hier liegt Afrika, sagte er und zeigte auf die gelb bemalte und vom Meer umgebene Landfläche in der Mitte der großen Weltkarte. Er folgte mit dem Zeigefinger den Umrissen des Kontinentes. Das ist Afrika, sagte er, Afrika ist gelb. Die Lehrerin blickte die Schülerinnen und Schüler an. Und was gibt es in Afrika? fragte sie. Einige Kinder streckten die Hand in die Luft. In Afrika gibt es Elefanten, sagte Peter. In Afrika gibt es Giraffen, meinte Miriam. In Afrika stehen die Pyramiden, sagte Nino, der sich an seine letzten Weihnachtsferien in einem Land im Süden mit Palmen und riesigen Bauwerken aus Steinblöcken erinnerte. In Afrika leben die Afrikaner, sagte Lisa. In Afrika fließt der Nil, antwortete Andreas. In Afrika gibt es Löwen, ergänzte Stefanie. Ivo ging zurück an seinen Platz, setzte sich und blickte auf die Weltkarte. Einige Augenblicke überlegte er angestrengt. Dann streckte er die Hand in die Luft. In Afrika grast das Känguru, sagte er. Die Lehrerin blickte überrascht, einige Schüler drehten die Köpfe und lachten. Das Känguru, sagte die Lehrerin. Weiß jemand, was ein Känguru ist? fragte sie. Niemand antwortete. Das Känguru lebt nicht in Afrika, erklärte sie dann. Es lebt in Australien. Ein Känguru hat einen Beutel und kräftige Hinterpfoten, mit denen es weite Sprünge machen kann. Sie drehte sich zur Weltkarte um. Wissen jetzt alle, wo Afrika liegt? fragte sie. In Afrika, sagte Ivo trotzig, grast das Känguru. Die Schulglocke läutete, es war schon fast Mittag.
Hier liegt Afrika, sagte Ivo, als er mit seinen Freunden über den schneebedeckten Schulhof ging. Er ging an eine Stelle, an der noch keine Fußspuren zu sehen waren, machte einen Sprung und rief: Ich bin in Afrika! Er blickte auf den Boden und stampfte mit kurzen Schritten eine Linie in den Schnee, die einen an einer Stelle eingebuchteten Kreis ergab, als er den Ausgangspunkt erreicht hatte. Das ist Afrika, sagte er. Er bückte sich und zeichnete mit der Hand einen Strich in den Schnee, der in einigen Kurven zur Grenze Afrikas führte und dabei immer breiter wurde. Hier fließt der Nil, erklärte Ivo seinen Freunden. Und nun zeige ich euch die Pyramiden. Mit beiden Händen schichtete er den Schnee neben dem Nil zu drei Türmen auf, deren Seiten er mit einem Ärmel seiner Jacke glatt strich und zusammendrückte, bis sie oben eine Spitze bildeten. Einige Male stand er auf, machte einige Schritte, um die Pyramiden aus der Ferne zu betrachten, und korrigierte dann die Stellen, die ihm noch nicht gefielen. Das sind die Pyramiden, sagte er. Dann ging er vom Nil aus an den Pyramiden vorbei weiter landeinwärts, wo die gelbe Fläche der Wüste und der Savannen noch unberührt waren. Der Löwe, der Elefant und die Giraffe hielten sich an diesem Tag versteckt und schliefen. Auch die Afrikaner waren nicht zu sehen. Nur das Känguru graste auf halbem Weg zwischen dem Nil und der Küste. Es war ziemlich allein und sah verloren aus in seinem Körper aus Schnee. Das ist kein Känguru, rief Andreas, der hinter den Pyramiden stand, das ist ein Dromedar. Das kannst du gar nicht wissen, sagte Ivo, du bist viel zu weit weg. In Afrika, sagte Andreas, gibt es keine Kängurus. Er überquerte den Nil und schritt davon. Ich muss jetzt nach Hause, sagte er noch. Ivo schüttelte den Kopf und blickte auf den Boden. Dann folgte er seinen Freunden.
Heute war ich in Afrika, erzählte Ivo seinem Vater, als er zu Hause ankam. Und, wollte der Vater wissen, wie war es? Afrika ist gelb, antwortete Ivo, und sehr groß. In Afrika gibt es viel zu entdecken, wenn man Zeit hat. Das stimmt, sagte der Vater, der sich an seine Reise durch Afrika erinnerte, an die er schon lange nicht mehr gedacht hatte. Er ging zum Regal und nahm einige Fotos hervor. Komm, sagte er, ich zeige dir Afrika. Aber ich kenne Afrika schon, sagte Ivo, zögerte eine Weile und folgte erst dann seinem Vater ins Wohnzimmer. Das ist die Wüste, sagte der Vater und zeigte Ivo ein Bild, auf dem hohe Sanddünen bei Sonnenuntergang zu sehen waren. Kenne ich, sagte Ivo. Die Nomaden, erklärte der Vater zum nächsten Foto, sie sind stets unterwegs und schlafen in der Wüste. Die sind mir nicht begegnet, meinte Ivo. Eine Karawane, fuhr der Vater fort, die wertvolle Waren transportiert, wochenlang unterwegs ist und nur mit Hilfe der Himmelskörper ihren Weg finden kann. All das gibt es in Afrika, staunte Ivo. Schließlich, erklärte der Vater zum letzten Bild, der Fluss, der durch den Dschungel fließt, viel weiter im Süden, durch dichten, unbewohnten Wald bis zum Meer. Ist das der Nil? wollte Ivo wissen. Nein, sagte der Vater, dieser Fluss heißt Kongo. Er ist kürzer als der Nil, hat aber mehr Wasser. Er entspringt in den Ausläufern eines Gebirges, das in der Mitte Afrikas liegt und Mitumba heißt. Dann durchquert er Regenwälder und Sumpflandschaften und erreicht nach vielen hundert Kilometern die beiden Städte Kinshasa und Brazzaville. Wenig später kommt er zu einem Felsabbruch und fällt in mehreren Stufen über zweihundert Meter in die Tiefe. Livingstonefälle nennt man diese Wasserfälle, zu Ehren des schottischen Afrikaforschers David Livingstone, der 1866 während einer Forschungsreise einen der Quellflüsse des Kongo entdeckt hat. Ivo blickte auf das Foto und überlegte. Diesen Fluss habe ich nicht gesehen, sagte er, aber er gefällt mir. Na ja, vielleicht beim nächsten Mal. Natürlich, sagte der Vater. Bist du auch an den Pyramiden vorbeigekommen? wollte Ivo wissen, der immer noch die Bilder betrachtete. Nein, sagte der Vater, die Pyramiden kenne ich nur von Fotos. Ich nicht, sagte Ivo stolz, ich habe sie heute zum ersten Mal besichtigt. Der Vater lachte. Das stimmt, sagte Ivo gekränkt. Wenn ich mehr Zeit gehabt hätte, hätte ich vielleicht sogar den Elefanten gesehen. Hast du schon einen Elefanten gesehen? fragte er. Nein, sagte der Vater, leider nicht, obschon ich mich auf die Suche gemacht habe mit einem Reiseführer und einer Karte, in der alles verzeichnet war, die Dörfer, die Wege, die durch die Savanne führten, die Wasserläufe und die Gebiete mit den meisten Wildtieren. Ich hätte die Elefanten sehr gerne gesehen, sagte der Vater und dachte an seine Reise, musste aber nach Hause zurückkehren, bevor mir dieses Glück vergönnt war. Wer weiß, ob es so bald wieder eine Gelegenheit geben wird. Da siehst du es, sagte Ivo und blickte wieder freundlicher. Er bückte sich auf den Boden und hob einen kleinen Ball auf, den er von einer Hand in die andere warf. Und die Giraffe, wollte er wissen, hast du die Giraffe gesehen? Der Vater überlegte einen Augenblick. Er erinnerte sich an seinen fünften Geburtstag, als er von seinen längst verstorbenen Großeltern eine gelbe Giraffe aus Stoff erhalten hatte, die so groß war, dass ihr Kopf sogar über die Bettkante reichte. Tage hatte er damit verbracht, ihr zuzuschauen, als sie die verschiedenen Winkel des Zimmers kennengelernt hatte. Sie folgte den Falten der Vorhänge, überquerte den großen gelben Teppich und erholte sich an der grünen Kante des Büchergestells, bevor sie erneut aufbrauch und hinter den Stuhlbeinen den blauen Fensterrahmen entdeckte, den Kopf hin und her bewegte und zum ersten Mal den Horizont sah, die Wolken und die Sonne, und die Luft des Meeres schnupperte. Natürlich, sagte der Vater und lächelte, natürlich habe ich die Giraffe gesehen. Sie hat mir ganz Afrika gezeigt. Tatsächlich? wunderte sich Ivo und machte ein ungläubiges Gesicht. Dieses Glück möchte ich auch einmal haben, sagte er und wandte sich ab.
Später, beim Essen, fragte er seinen Vater, ob er mit ihm nach Afrika komme. Wann du möchtest, antwortete dieser. Aber wo eigentlich liegt Afrika? fragte er. Das weißt du nicht? wunderte sich Ivo. In der Mitte der Weltkarte liegt es. Afrika ist gelb. Der Nil fließt an den Pyramiden vorbei. In der Wüste stehen der Elefant und die Giraffe. Und in Afrika grast das Känguru. Der Vater blickte auf, überrascht. Er zögerte einen Augenblick. Natürlich, sagte er dann, in Afrika grast das Känguru.