April 2013

Wörtlich

von Katrin Furler
Jahresthema: Wörter
Monatsthema: Prägnanz,  juckend, Gründlichkeit, zweifelhaft,  Abriss

Es war an einem bitterkalten Tag Anfang April, um die Mittagszeit, da standen sie plötzlich auf der Straße, ausgesetzt und ratlos: fünf Wörter!

Hilfesuchend um sich schauend hatten sie einander bald erspäht und rückten diskret näher zusammen, bis am Ufergeländer der Limmat die Annäherung ins Stocken kam. In gebührendem Abstand lehnten sie sich an das Geländer und starrten argwöhnisch schweigend wie gebannt auf den Fluss, als gäbe es gerade jetzt nichts Faszinierenderes, als Schwäne. Doch schließlich trafen sich die Blicke zweier benachbarter Wörter und etwas verlegen, dann aber mutig die Gunst der Stunde nutzend, wandte man sich, ein knappes, höfliches Kopfnicken andeutend, einander zu.

Enchanté, Madame, darf ich mich vorstellen: Prägnanz ist mein Name, Alberto von Prägnanz. Schönen guten Tag, Signora! Mit wem habe ich das Vergnügen?

Gründlichkeit, Anna-Maria, Grüezi wohl, der Herr, freut mich aufrichtig, von einer Seele ein freundliches Wort zu hören in dieser erbarmungslosen Kälte.

Frau Gründlichkeit rückte ihrem Nachbarn sogleich ein wenig näher, als verspreche sein souveränes, polyglottes Auftreten wärmendes Asyl.

Unterdessen waren die drei anderen hinzugetreten und beeilten sich, auch  ihre Namen anzubringen. Von rechts, flussabwärts neben Monsieur Prägnanz, ließ sich eine markante Stimme vernehmen.

Mein Name ist Zweifelhaft, Zwei-fel-haft, Robert, gestatten Sie, dass ich mich Ihnen anschließe?

Die beiden links von Madame Gründlichkeit Lehnenden hatten das Zeremoniell bereits vereinfacht und begrüßten sich formlos.

Abriss. Tach! Max Abriss. Und wer sind Sie?

Graziella Juckend, ganz einfach, wie man´s spricht, Juckend, denken sie an Mückenstiche, haha, im Winter kommt man gar nicht drauf! Kichernd streckte sie ihre zierliche Hand aus und schüttelte heftig die zögernde Pranke von Herrn Abriss.

Sie standen in kleiner Runde, fünf Wörter am Limmatquai, abwartend, einander verstohlen musternd: Herr von Prägnanz, stattlich, ergraut, elegant, von aristokratischer Verbindlichkeit. Neben ihm die kleine, rundliche Frau Gründlichkeit, etwas bieder in Tweedrock und Strickjacke, jedoch unverdrossen liebenswürdig. Fräulein Juckend, zweifellos die jüngste unter ihnen, ein halbes Kind noch mit buschigem Blondhaar, unter grellbuntem Röcklein lange dünne Nylonbeine in steilen Lackschuhen, ständig kichernd. Der junge Zweifelhaft dagegen von diskreter Eleganz in hochgeschlossenem Jackett, sein glatter dunkler Pagenkopf fast feminin, mit kritischer Miene ständig witternd, als fühle er sich verfolgt. Aus dem Augenwinkel beäugte er Herrn Abriss, der, dünn und lang, in dunklem Rollkragen, bebrillt und kahlgeschoren, an das Geländer gelehnt mürrisch vor sich hinstarrte.

Fünf frierende, ratlose Wörter. Sie warteten. Irgendetwas musste jetzt geschehen. Wörter sind nicht gewohnt, vereinzelt aufzutreten und sich selber zu organisieren. Sie werden organisiert, sie werden benutzt, gesetzt, versetzt, übersetzt, zusammengesetzt, getrennt, gebeugt, gebeutelt… Sie sind gewohnt, dass über sie verfügt wird. Sie beziehen ihre Würde nicht aus sich selbst, sondern entfalten sie erst in Beziehungen zu andern Wörtern. Sie tragen Bedeutung, das schon, darauf bilden sie sich auch viel ein. Manche, bedeutungsschwer, im Laufe von Jahrhunderten zu dem geworden, was sie heute sind, andere bloß kleine, windige Beistellwörtchen. Wieder andere ein wenig fremdartig, Gastwörter, Fremdwörter, viele davon längst eingebürgert, aber gleichwohl stolz auf ihre fremdländischen Vorfahren. Neben abgenutzten, unscheinbaren Gestalten, die kaum beachtet ein freudloses Dasein fristen, wollen andere glänzen und changieren und sich überall in den Vordergrund drängen. Nicht selten kommt es zu Paarbildungen, Fusionen, Konglomeraten, die sich gern spreizen und aufspielen. Obwohl sie belächelt und von niemandem ernst genommen werden, vermehren sie sich, eine Generation neureicher, abgeschmackter Schnösel. Und nicht zu vergessen die große Truppe der kleinen blassen Hilfswörtlein, Hilfsarbeiter, Sklaven, die, in jede Ritze gestopft, nur von den Bedeutenden, den Strahlenden ein wenig Abglanz beziehen.

Herrschaften, ergriff Herr von Prägnanz endlich das Wort, was stehen wir hier im Kalten herum? Setzen wir uns doch erst mal in eine Bar und machen uns bekannt und dann überlegen wir, wie wir unser Schicksal in die Hand nehmen können. Also, mein Vorschlag: Neumarktbar, die ist nicht weit und gehört meines Wissens zu einem Theater, dort sollten Wörter wohlgelitten sein!

Erleichtert und voll heimlicher Bewunderung schloss man sich dem Vorschlag des aristokratischen Weltmannes an und setzte sich Richtung Neumarkt in Bewegung. Frau Gründlichkeit hakte sich vertraulich bei Herrn von Prägnanz unter, der sie gönnerhaft gewähren ließ. Das Nesthäkchen trippelte allein hinterher, während Zweifelhaft sich wie zufällig neben Herrn Abriss wiederfand, die Hände tief in den Jackentaschen vergraben.

Wie immer war die Bar gut besucht, doch für die fünf Wörter fand sich ohne weiteres Platz am Tischchen in der Fensternische. Rasch stellte es sich heraus: Alle fünf waren aus ihren heimatlichen Texten unverhofft herausgeworfen worden. Sowohl von Prägnanz als auch Frau Gründlichkeit fühlten sich persönlich gestraft, allerdings ohne sich der geringsten Schuld bewusst zu sein. Die beiden Jungen hielten es für ein bloßes Versehen, während Herr Abriss unbedingt an eine Befreiung glauben wollte.

Ich bin befreit! Seit Ewigkeiten musste ich mich nach einem angeblich höheren Sinn strecken, mich undurchschaubaren Zusammenhängen unterordnen, musste mich rechts und links anpassen, mich ducken und drehen. Ich hatte nichts mitzureden. Jetzt bin ich frei. Ich, Max Abriss, frei! Lassen Sie sich das mal auf der Zunge zergehen! Haben Sie sich denn nie bewusst gemacht, was für ein unwürdiges, fremdbestimmtes Dasein Sie gefristet haben? Jetzt können wir Bewusstsein entfalten, Selbstbewusstsein, uns auf unsere wahre Bedeutung besinnen, auf unseren Wesenskern, den wir seit Jahrtausenden in uns tragen und bewahren.

Abriss redete sich in Rage, seine blassen Wangen röteten sich und lebhaft gestikulierend fuhr er fort.

Ohne uns gäbe es kein Reden, kein Schreiben, weder Buch, noch Zeitung. Sogar die Wahrnehmung lenken wir. Wie, verstehen Sie das nicht? Gut, ich habe natürlich bei Suhrkamp Wissenschaft manches gesehen und gehört und mich immer weitergebildet. Also: Nur das, wofür es Wörter gibt, nimmt man wahr, das andere, das gibt es gewissermaßen gar nicht!

Er lehnte sich erhitzt zurück, nahm die Brille ab und putzte sie hingebungsvoll. Die anderen schwiegen eingeschüchtert von so viel Eloquenz und Bildung.

Also, ich weiß ja nicht, aber…, Frau Gründlichkeit stockte, um dann nachdenklich fortzufahren, ich…, ich vermute, ich bin schlicht zu altmodisch. Meine Bedeutung ist aus der Mode gekommen, glaub ich. Man ist heute rasch und oberflächlich, die Gründe – wen interessieren die? Alles muss weitergehen,  sich verändern und erneuern. Ich verstehe eigentlich schon, warum man mich nicht mehr so recht brauchen konnte. Meine Zeit ist vorbei. Ich sollte mich besser nach einem Altersheim umsehen, einem Altersheim für altmodische, überflüssige Wörter, ja, oder vielleicht sogar nach einem Museum!

Bedrückt schwieg sie. Die übrigen sahen sie teilnahmsvoll an, auf Tröstung sinnend. Wiederum war es der alte Aristokrat, der das richtige Wort fand.

Ach wissen Sie, liebe Frau Gründlichkeit, jetzt nehmen Sie das mal nicht so schwer. Wir sind durchaus im selben Spittel krank. Sehen Sie, Prägnanz ist auch ein Anachronismus, aber ich bilde mir was drauf ein. Ich bin stolz auf meine Bedeutung, und ich werde dafür kämpfen, dass man mich wieder estimiert. Ich lasse mich nicht so einfach vertreiben aus dem Vorwort meiner schönen Anthologie mit Lyrik des 20. Jahrhunderts. Ja, da staunen Sie, dort hätten sie mich nicht vermutet! Aber das ist ja der Spaß, genau dort aufzutauchen, wo andere nur Wörternebel vermuten. Lesen Sie Gedichte, nein? Dann sollten Sie das tun, unbedingt, und denken Sie dabei an mich! Prägnanz!

Abriss grinste herablassend, äußerte sich aber nicht. Das Mädchen hingegen war unruhig geworden.

Ich will zurück in meine Illustrierte, mir ging´s da gut, auf den dermatologischen Seiten gab´s immer was zu lachen. Ich kann mit dieser eisigen Freiheit nichts anfangen. Was soll die ganze Philosophie? Lyrik und Wissenschaft? Schönheit! Darauf kommt es doch an, Glanz, glatte Haut, Wohlgeruch! Natürlich war ich immer auf der Schattenseite, Juckend! Manchmal hat´s mich echt gejuckt, die Seite zu wechseln, duftend!, ja – aber Bedeutung ist eben angeboren, da kann man nichts machen. So halte ich mich an die armen Geschöpfe, die sich mit ihrem Gekratze die Haut ruinieren… Ach, wenn ich doch nur heim könnte!

Schniefend fuhr sie sich mit beiden Händen durch ihr abstehendes Blondhaar.

Hört doch mal auf mit diesem sentimentalen Gefasel, bleibt auf dem Tisch, ließ sich jetzt Zweifelhaft vernehmen, sich aus seiner lässig zurückgelehnten Pose vorbeugend und mit der rechten Hand ein paar Mal auf das Tischblatt klopfend. Ich bin es gewohnt, hinter die Kulissen zu gucken, ich heiße zwar Zweifelhaft, bin aber nicht zweifelhaft, sondern spüre das Zweifelhafte auf. Ich sehe es überall dort, wo andere nichts sehen als ihr kleines, spießiges Wörterleben. Ich suche es und rieche es, und ich werde mich nicht durch meine Deplatzierung – sei sie nun Absicht oder Willkür – von meiner Bedeutung und Pflicht abbringen lassen. Darf ich mich Ihnen, werter Herr von Prägnanz, als Kompagnon anbieten? Oder auch der Dame, falls sie es nicht doch vorzieht, selbständig zu bleiben, haha!

Wir sind wer! Wisst ihr nicht, dass wir alle zu alten, großen Familien gehören? Wortfamilien! Noch nie gehört? Solche elementaren Zugehörigkeiten darf man nicht einfach ignorieren: ich für mein Teil gehöre zu den Adjektiven, einer verzweigten und vielgestaltigen Sippe, die ihre zahlreichen Mitglieder hie und da auch als Adverbien zur Verfügung stellt, und es bedarf nur kleiner Korrekturen, und wir finden auch Zutritt zu den Kreisen der eingebildeten, selbstgefälligen Substantive. Ich ziehe es allerdings vor, als Adjektiv ihre Selbstgerechtigkeit zu untergraben. Wie geht es dir damit, Graziella? Als Partizip präsens bist Du natürlich eine aparte Sondernummer, nicht übel, würde mir auch gefallen, diese Verwandtschaft mit den Verben. Das ist eine Bande, unglaublich, unter wie vielen Masken die auftreten! Die drehen und wenden sich, die reinsten Akrobaten!  Aber von denen ist ja hier niemand dabei, oder?

Er grinste frech in die Runde und wandte sich dann Herrn von Prägnanz zu.

Manche Substantive laufen ja geradezu mit Ausrufezeichen im Schlepptau herum, ja, als personifizierte Imperative! So hochnäsige altertümliche Aristos nimmt doch keiner mehr ernst, oder? Genauso wenig wie Wörter, die sich einfach so Schnipsel anhängen und meinen, sie könnten sich damit als Substantiv herausputzen: Gründlichkeit! Sieht doch jeder, dass das bloß ein aufgemotztes, kleines „gründlich“ ist! Ein Möchte-Gern-Substantiv, diese schwerfällige, nichtssagende Dreisilbigkeit! Da pfeif‘ ich drauf!

Gut, Abriss, er wiegte den Kopf, nicht schlecht, schlank, herb, männlich, ein Substantiv, das man gelten lassen muss, wenngleich auch da eine Provenienz durchscheint, die weit weniger schneidig ist: abgerissen…

Mein Lieber, unterbrach ihn Abriss, sichtlich beeindruckt von dessen gescheitem Geschwätz, sehr gut beobachtet. Sie wissen ja bereits, ich bin sehr für Selbstbewusstsein, Selbsterkenntnis. Gehört nicht dazu auch, dass man sich fragt, woher man eigentlich kommt…

Etymologie nennt man das bei Wörtern, fiel ihm Zweifelhaft ins Wort, kann man in jedem Wörterbuch nachschlagen. Was ist daran so interessant? Kommt es nicht drauf an, was wir hier und heute leisten? Sich auf irgendwelche illustren Ahnen rauszureden, find ich wirklich abwegig. Steh zu deinem Wort! Hier! Jetzt!

Er hob das Glas: zum Wohl allerseits!

Nach einem ermunternden Blick von Herrn von Prägnanz meldete sich Frau Gründlichkeit erneut zu Wort.

Wissen Sie, ich kann ja nicht so recht mithalten bei Ihren klugen Diskursen, aber ich spüre einfach, dass man als einzelnes Wort nichts und niemand ist. Wo kommen Wörter denn schon mutterseelenallein vor? Vielleicht mal in einer Frage, einem Befehl oder Ruf. Stellen wir nicht eigentlich erst in Gesellschaft etwas dar, zusammen mit Wörtern aus anderen Familien? Ist nicht der Satz unser eigentliches Zuhause? Wer von Ihnen ist schon mal allein aufgetreten? Ja, Sie vielleicht, Herr von Prägnanz, aber die anderen? Seien wir doch mal ehrlich, ohne den Satz sind wir verloren. Und ersetzbar sind wir auch, glaubt doch ja nicht, dass ihr´s nicht wäret. Es gibt so viele Wörter, ich hab schon von Wörterbüchern gehört, die nur dazu da sind, eins durch ein anderes zu ersetzen. Das funktioniert immer, und weg sind wir. Aber Sätze, das ist was anderes, im Bedeutungszusammenhang ist man wer. Gemeinsam sind wir stark und gewichtig. Wenn wir uns nun zu einem Satz zusammentäten und dann versuchten, irgendwo unterzukommen? Was meinen Sie? Wir können doch hier nicht ewig sitzenbleiben!

Innehaltend senkte sie, der langen Rede ungewohnt, leicht errötend den Kopf unter den erstaunten Blicken der anderen. Das Erstaunen wandelte sich in Anerkennung  und dann in lebhafte Zustimmung. Zweifelhaft unterdrückte seine hochnäsige Bemerkung über Synonymenlexika. Sie hatte wirklich Recht, der Satz war der Wörter eigentlicher Lebensraum!

Ja, ein Satz – nur, wie sollte denn aus ihnen ein Satz werden? Niemals konnte aus diesen fünf Wörtern ein vernünftiger, geschweige denn ein bedeutungsvoller Satz werden! Ohne die Mitarbeit anderer Wörter, ohne Verben vor allem, aber auch ohne die kleinen Hilfswörtchen, Kupplungen, Zutaten und Interpunktion waren sie dem sicheren Untergang geweiht. Kein Zweifel, ohne einen Experten für Satzbau und Grammatik, einen professionellen Satzmacher waren sie verloren. Bloß woher nehmen, jetzt am Abend? Da meldete sich die jüngste, Frl. Juckend nochmals zu Wort.

Wisst ihr was, als wir da unten an der Limmat standen, da hab ich so ein gelbes Schild gesehen, irgendwas mit Literatur stand da drauf – hat nicht Literatur mit Sätzen zu tun? Vielleicht ist das eine Satzmacherwerkstatt? Die haben doch sicher Bücher, sollte sich da nicht eins finden, in dem wir wenigstens übernachten könnten? Und wer weiß, vielleicht finden wir da sogar Genossen für unseren Satz? Wollen wir nicht versuchen, uns dort Zutritt zu verschaffen?

Man musste konzidieren, die junge Dame war gar nicht so dumm! Sogleich setzte sich das Häuflein im Gänsemarsch in Bewegung Richtung Limmatquai und erreichte das fragliche Tor.

Abriss übernahm das Läuten, er war der größte. Als niemand öffnete, erklommen fünf müde Wörter den Briefkastenschlitz, zwängten sich hindurch und rutschten in einen duftenden Haufen bedruckten Papiers, wo sie sich sogleich zuhause fühlten und ihrem weiteren Schicksal wohlig entgegenschlummerten.