Juli 2018

Wunde Punkte

von Ela Meyer
Jahresthema: Bilder
Monatsthema:

Mit den Sitzen verschmelzen, unsichtbar werden, keine Aufmerksamkeit erregen.

Der Zug schlängelt sich um Berge herum, durchfährt Tunnel, zu viele Tunnel und er rechnet jederzeit mit einer Hand, die auf seiner Schulter landet, die ihn umklammert und ihn hochzieht, ihn vor sich her schubst. Er betrachtet seine Mitreisenden, bewegt nur die Augen, nicht den Kopf, um einen neutralen Gesichtsausdruck bemüht. Das Grossraumabteil ist aufgeteilt in Nischen von je vier Sitzplätzen. Er hat einen Platz am Fenster gewählt, gleich bei der Tür. Am Vormittag hatte sich eine Frau mit ihrem Sohn ihm gegenüber gesetzt. Der Sohn spielte mit dem Handy, die Mutter schlief bald ein und er stellte sich vor, der Vater zu sein. Er malte sich aus, sie wären zu einer Familienfeier unterwegs oder würden das Wochenende über zu Freunden fahren, in die Berge, zum Wandern. Als die beiden ausstiegen, unterdrückte er den Wunsch, sich zu verabschieden, fand die Vorstellung seltsam, dass sie keine Ahnung hatten, welche Rolle sie gespielt hatten, nicht wussten, dass sie während der vergangenen Stunden seine Tarnung gewesen waren.

Seine eigene Familie hat er seit langem nicht gesehen. Sie warten auf ihn. Er will längst bei ihnen sein, wurde aufgehalten, hat auf dem Weg zu ihnen mehrmals festgesessen oder war festgehalten worden. Er hat Umwege in Kauf nehmen müssen, war in Situationen geraten, an die er sich nicht erinnern will und ist immer noch unterwegs. Wenn alles gut geht, wird er bald bei ihnen sein. Wenn alles gut geht. Wenn.

Die Berge werden flacher, die Umgebung urbaner, Dörfer wachsen zu kleinen Städten. Der Zug füllt sich. Er sieht hinaus, schläft nicht, obwohl sein Körper vor Müdigkeit schmerzt. Schlafen hiesse, die Aufmerksamkeit fahren zu lassen und er stellt sich vor, wie die Hand in dem Moment, wo er einschläft, seinen Arm umfassen, ihm in den Nacken greifen wird. Die Vororte ziehen sich in die Länge. Gebäude, die mit dem Grau des Himmels verschmelzen. Im Abteil tritt Unruhe ein, die meisten steigen an der nächsten Station aus. Er wird sitzen bleiben auf seinem Platz, der die Form seines Hinterns bereits angenommen hat.

Mit jedem Kilometer wächst der Abstand zu dem Land, aus dem er kommt. Das der Krieg zerstört hat und das nicht mehr existiert, nicht so, wie er es gekannt hat. Kein Land mehr, in dem es ihm noch möglich wäre zu leben. Jede Sekunde trägt ihn weiter fort, hinein in eine Ungewissheit, die ihm unter der Haut brennt, ihm auf der Brust drückt. Als würde er jenseits der Schwerkraft dahintreiben, ohne zu wissen, wann seine Füsse wieder Bodenkontakt haben werden.

Die neonfarbenen Westen der Security-Leute entdeckt er von weitem. Sie durchschneiden den trüben Tag. Sein Blick ist trainiert, springt auf alles an, was einer Uniform ähnelt. Als erstes reagiert immer der Körper. Das Adrenalin, das den Puls in die Höhe treibt, der Schweiss, der nach Stress riecht, der Darm, der sich entleeren will, während die Gedanken im Kopf wie ein Schwarm Mücken kreisen, von den Hirnwänden abprallen, nicht einzufangen sind. Seine Zunge liegt ihm pelzig im Mund, er will trinken, aber traut sich nicht, schluckt gegen den trockenen Hals an, ist sich sicher, jede Bewegung würde ihn verraten, die Aufmerksamkeit auf ihn lenken. Er beschränkt das Atmen auf das Nötigste, verschmilzt mit den Sitzen.

Erst als der Zug auf ihrer Höhe hält, drängen die auf dem Bahnsteig Wartenden zu den Türen und ihm fällt auf, dass sie einheitlich gekleidet sind, eine folkloristischer Tracht tragen. Sie schwemmen in die Abteile und plötzlich ist er umgeben von ihnen. Ihm gegenüber setzen sich zwei Frauen im bunten Rock, neben ihn ein Mann in Lederhose und Weste. Das Abteil füllt sich mit Lachen und Gesprächen und der Geräuschteppich hüllt ihn ein. Kaum sitzen sie, kramen sie Notenblätter aus ihren Taschen und singen. Von allen Seiten dringen ihre Stimmen zu ihm, die Münder springen auf und zu, wie die Münder von Handpuppen. Melodien umkreisen ihn. Er hat keine Ahnung, wovon die Texte handeln, vermutet, von ähnlichen Dingen, wie bei ihm zu Hause, von Liebe und Abschied, vom Fernweh, dem Krieg und der Sehnsucht. Summend versucht er, dem Gesang zu folgen, stolpert immer den Bruchteil einer Sekunde hinterher. Er spürt die Vibration seiner Stimme, wie sie sich vom Kehlkopf ausbreitet, sich bis ins Innere des Schädels fortsetzt. Er summt die fremden Melodien mit und fühlt sich mit den Singenden wie mit einem zarten, silbrigen Faden verbunden. Das Summen zwingt ihn ruhig zu atmen, er summt gegen seine Angst an. Die Grenze nähert sich mit jedem Takt. Sie fahren durch dichte Wälder, die kaum Licht hindurchlassen. Sie wirken düster, bilden eine dunkle Wand. Hinter jedem Baum wähnt er Grenzsoldaten. Nicht nur die Grenzer bedeuten Gefahr. Die Polizisten fürchtet er fast noch mehr. Sie haben das Recht, ihn jederzeit, auch wenn die Grenze schon lange hinter ihm liegt, zu kontrollieren, seine Papiere zu fordern, ihn mitzunehmen. Die Hand auf seiner Schulter, unvorhersehbar, wann sie ihn trifft.

Eine der Frauen, die ihm gegenübersitzen, starrt auf seine Finger, die ineinander verkrampft, die Nägel schartig abgeknabbert, seine Nervosität verraten. Sie beugt sich vor, sagt etwas zu ihm. Ihm wird schlecht, die Hitze steigt ihm ins Gesicht und er leckt sich über die trockenen Lippen auf der Suche nach Worten, die sie doch nicht verstehen würde. Er befürchtet, enttarnt zu werden, befürchtet, sie wird aufstehen, den Schaffner alarmieren, ihn verraten. Sie wiederholt den Satz. An den hochgezogenen Augenbrauen und der Stimme, die sich am Ende des Satzes hebt, erkennt er, dass es sich um eine Frage handelt. Er versucht ein Lächeln, das ihm im Gesicht schmerzt und zuckt entschuldigend mit den Schultern. Sie lehnt sich zu den anderen beiden und sie beginnen zu flüstern. Er schliesst die Augen, weiss, sie reden über ihn, hört ihre fremd klingenden Wörter, die rauen Konsonanten, die im Rachen hart anstossen. Er könnte aufstehen, das Abteil verlassen, sich einen neuen Platz suchen. Den Zug kann er nicht verlassen, er hält erst wieder an der Grenze. Er bleibt sitzen, verkriecht sich in sich selbst, versucht die Panik zu ersticken, die unkontrolliert in seinem Inneren tobt. Kämpft darum, einen klaren Kopf zu behalten. Er ruft sich das Gesicht der Frau ins Gedächtnis, traut seiner eigenen Urteilsfähigkeit nicht mehr, weiss nicht, ob sie zu der Sorte Menschen gehört, die ihn ausliefern würden.

Eine Hand legt sich auf seinen Unterarm und verbrennt ihm die Haut. Er fährt zusammen, Schweiss läuft ihm die Schläfen herab. Seine neutrale Miene ist heruntergefallen, sein Gesicht erschlafft, ist nur noch eine leere Maske, hinter der er sich die letzten Stunden, Wochen, Monate versteckt hat. Die Stimme der Frau klingt besorgt und er öffnet die Augen einen Spalt, sieht in drei Gesichter, liest Mitgefühl und Sorge darin. Der Zug verlangsamt seine Fahrt, rund um sie herum wird noch immer gesungen. Als ob nichts wäre. Der Nachbar zieht seine Weste aus und reicht sie ihm, lächelt ihn an und er greift zögernd zu. Kennt diesen Mann nicht, will ihm vertrauen, was sonst bleibt ihm übrig. Er nimmt die Weste und zieht sie über sein weisses Hemd, sieht an sich herunter. Befühlt den festen Stoff, den Saum, der mit Kreuzstichen umrandet ist. Der Mann in der Nische neben ihnen trägt die gleiche Weste. Sie besagt, er gehört dazu. Eine der Frauen hält ihm ein Notenblatt hin. Er nimmt es und starrt darauf. Die Linien und Schnörkel bewegen sich vor seinen Augen. Schwarze Punkte, Kreise, alleine oder in Gruppen rennen sie die Notenlinien wie auf Gleisen entlang, verheddern sich ineinander, einige bleiben auf der Strecke, andere preschen voran. Forte. Er berührt sie mit den Fingern, tastet darüber, fühlt ihre Wunden. Wunde Punkte, viel zu viele. Unfassbar, was ein Mensch alles ertragen kann, bevor er endgültig zerbricht. Er hat es vorher nicht für möglich gehalten.

Als der Zug hält, beginnt er zu zählen. Immer weiter. Er bewegt die Lippen, als würde er mitsingen. Er umklammert das Notenblatt, zählt, summt die Melodie mit, summt im Takt der Zahlen, zählt in seiner Sprache, zählt die Punkte auf dem Blatt. Versucht, den letzten Rest Kontrolle nicht zu verlieren. Er riecht seine Angst, denkt, am Geruch werden sie mich erkennen. Strophe um Strophe reihen sich aneinander. Er hält sich an ihnen fest, summt, als würde sein Leben davon abhängen und weiss, dass dem so ist. Zählt und hält das Notenblatt in seiner Hand, als wäre es eine Eintrittskarte.