Amanda sucht
Amanda ist ein Arm abgefallen. Ausgerechnet der linke. Für sie als Linkshänderin fatal.
Die ganze Woche hat sie nach dem Arm gesucht, hat unters Sofa geschaut, in die Ritzen der Möbel, unters Bett. Nichts. Der Arm bleibt verschollen.
An einem Abend war es passiert. Ferdinand trug die Schuld daran, weil er nie genug bekommen konnte, sie nicht einfach sitzen liess. Natürlich nicht sitzen im Sinne einer Trennung, wo käme Amanda da hin, verlassen werden, das konnte sie nicht gebrauchen. Sie wollte nur ihre Ruhe. Vom Sofa aus die Decke anstarren. Eine schöne Decke. Aus Holz. In der Maserung liess es sich träumen. Da gab es geheime Pfade, die aufregend waren und Geschichten in sich bargen.
Draussen blühten die Kirschen. Ins Rot drifteten Amandas Augen. Durch die Luft flogen Blätter, losgelöst. Bald würde es Früchte geben, kleine, grüne Kugeln, die nur noch ein wenig Sonne brauchten.
Ferdinand holte ihren Blick ins Haus zurück. Er liess seine Stimme ertönen, schnitt mit ihr durch den wohligen Nebel in Amandas Kopf, der nur das Kirschenbild unverdeckt liess und die restliche Umgebung für sich einnahm.
„Kannst du nicht mal meinen Nacken massieren?“
Ums Können ging es dabei nicht. Natürlich war sie dazu in der Lage, rein körperlich gesehen. Aber er hatte nicht die Absicht, ihre Fähigkeiten abzufragen. Das wäre immerhin schnell abgehakt gewesen. Ferdinand setzte voraus. Er forderte.
Zwischen ihnen schwebten winzige Staubteilchen in der Luft. Sie begannen zu flirren, wenn Amanda den Arm bewegte. Das sah sie nur unter einer bestimmten Sonneneinstrahlung, aber es geschah weiter, wenn das Licht verschwand. Daran musste sie jetzt denken.
Mückenartiger Staub. Nur war er feiner. Sie schob den Arm auf und ab. Hin und her. Wie einen Fremdkörper. Bald war Nacht. Das war die Zeit, als sie feststellte, dass ihr Arm nur noch an einem Zipfel hing. Ihn auszustrecken, war kaum noch möglich. Es brauchte nicht mehr viel, und er würde über den Rand des Sofas stürzen.
Sie versuchte daher einzulenken, sagte zu Ferdinand, sie müsse jetzt aufhören, er habe sich ja schliesslich lang genug entspannt. Er knurrte.
Dann war es so weit. Sie vernahm ein leises Plopp. Ferdinand war inzwischen in ein gleichmässiges Schnarchen verfallen, jedenfalls beteuerte er hinterher, das Plopp-Geräusch nicht gehört zu haben, und überhaupt sei er unschuldig an ihrer Misere, so ein bisschen Fürsorge reisse noch lang keine Arme aus.
Ärger machte sich in Amanda breit. Ihr Kopf ging in Flammen auf, bis nur noch eine sauerstofflose Leere zurückblieb. Die Wohnung, drei Zimmer, Küche, Bad, erschien ihr auf einmal zu klein, bildete einen Gegensatz zum Zustand in ihr drin. Diese Enge. Als sie Ferdinand darauf ansprach, meinte er lapidar: Sie brauche nun weniger Platz ohne ihren linken Arm.
Ob er ihr nicht beim Suchen helfen könne, fragt sie. Ferdinand weist auf die Einkäufe hin und den anstrengenden Job. Ausserdem sei es doch wichtiger, den Rasen zu mähen. Was würden die Nachbarn sonst denken? So ein nachlässiges Paar.
Jeden Morgen nimmt das Übel seinen Lauf. Amanda kann nicht mehr arbeiten gehen und lässt sich krankschreiben. Trotzdem geht sie zur gewohnten Zeit aus dem Haus und läuft den üblichen Weg durch einen kleinen Wald, der in ein Industriegebiet mündet. Auf dem Bürgersteig stehen zwei Männer in Polizei-Uniform. Sie versperren ihr mit ihren breiten Körpern den Weg. Sie sind einander zugewandt und besprechen etwas, das Amanda erst nur erahnt. Dann geht ihr ein Licht auf. Es muss um sie gehen. Ist sie ohne linke Hand nicht viel angreifbarer für die Nachbarschaft als ein ungemähter Rasen? Sie ist kein Anblick für die Umgebung, könnte falschen Verdacht auf sich lenken. Einer der Polizisten wird vehementer in seiner Kommunikation und verschränkt die Arme vor der Brust. Sie hört: festnehmen. Auf der Stelle macht sie kehrt und geht ins Haus zurück.
In der Wohnung hört sie Stimmen. Erst ein leises „ja, ja“, dann ein kräftigeres. Sie geht durch alle Zimmer, aber sie kann keinen Besucher ausmachen. Auch keinen ungebetenen. Sie hat Angst, dass sie hinter ihrem Arm her sind.
Ihre Hände sind fein und zierlich, nicht für grobe Tätigkeiten zu gebrauchen. Die Bauarbeiter werden kein Interesse an dem zusätzlichen Arm haben, auch nicht der Bäcker oder der Hilfsarbeiter im Supermarkt nebenan. Aber jemand ist hinter ihm her.
Von nun an geht sie nicht mehr spazieren. Sie bewacht das Haus und lauscht den Regentropfen am Fenster, sucht mit ihren Ohren die Welt da draussen ab, wartet auf etwas Unvorhersehbares, aber nichts passiert. Wasser rinnt übers Glas, Wind heult auf, Amseln picken im Laub. Mehr ist da nicht. Wenn es klingelt, macht sie nicht auf.
Sobald Amanda abends im Bett liegt, glaubt sie, der Arm sei wieder dran.
Als es Winter wird, fasst sie neuen Mut. Sie verlässt hin und wieder die Wohnung, schleicht sich von Strasse zu Strasse, von Schatten zu Schatten. Der Schnee im Westen ist nichts gewohnt, schreit auf, wenn sie Abdrücke hinterlässt. Sie bleibt vorsichtig damit, was sie Ferdinand erzählt. Er ist immer noch verärgert wegen des Arms. Ausserdem verhält er sich ihr gegenüber so, als ob etwas nicht stimmt. Er mag Gründe haben: Er muss den Haushalt allein versorgen, die Wäsche waschen, das Geschirr spülen, und nach wie vor geht er jeden Morgen zur Arbeit und kommt erst spät nach Haus. Vom Arm sprechen sie nicht mehr. Manchmal sucht Amanda noch danach, aber sie achtet darauf, dass es niemand sieht.
Der Antrag auf Vormundschaft wurde abgelehnt. Ein verlorener Arm schade nicht der Gemeinschaft; für die Ehe freilich sei das von anderer Art, doch für das grosse Ganze, die Gesellschaft, habe der Vorfall keinerlei Relevanz. Auch gehe keine Gefahr von dem Stumpf aus, und von dem Arm selbst sei ebenfalls keine Tätlichkeit zu erwarten; er sei von Kindheit an schwächlich gewesen und im Fall der Fälle leicht zu überwältigen.
Ausserdem gab es wenig Beweise für die Aussagen Ferdinands. Man sehe zwar die Probleme. Eine Frau, die nicht mehr arbeiten geht und auch im Haushalt nicht mithilft, sei kein leichtes Los. Dennoch wolle man die Sache auf sich beruhen lassen. Er müsse verstehen, sie sei von rein privater Natur.
An anderer Stelle hiess es, Amanda mache einen verwirrten Eindruck, sei aber nicht gemeingefährlich.
Im Treppenhaus ist es still. Dort wohnen die Kellerasseln. Amanda schaut regelmässig nach ihnen. Sonst kümmert sich keiner um das Getier. Dabei sei Tierschutz heute so wichtig. Bevor die Putzfrau kommt, stellt Amanda jedes Mal einen neuen sperrigen Gegenstand vor die schmale Stelle, die zum Assel-Heim führt, damit dort nicht gekehrt wird. Wie ihr das gelingt, fragt sie sich immer wieder und staunt. Amanda setzt sich zu den Insekten auf den Boden. Sie rennen von einer Ecke zur anderen, wirken beschäftigt. So war sie früher auch.
Einmal hatte Ferdinand versucht, sie einzuweisen, als er sie so vorfand, aber er konnte nichts gegen sie vortragen. Weder gegen den verstümmelten Körper noch den vermissten Arm. Er solle ihr Ruhe gönnen und Medikamente. Die Kommunikation mit Tieren sei unbedenklich, zeuge sie doch von einem Urinteresse an der Welt. Ausserdem spreche Amandas Verhalten für ausreichend Empathie und Wille zur Fürsorge; sie werde gewiss niemandem etwas antun. Damit sei die Sache erledigt.
Ferdinand will sich jetzt scheiden lassen. Amanda hat ihn nach dem Grund gefragt, aber er hat geschwiegen. Letzte Woche ging er an ihr vorbei ins Schlafzimmer. Sie wollte ihm nachlaufen, aber da kam er schon zurück und stand mit einer Reisetasche in der Tür.
„Wo willst du hin?“, wollte sie wissen. Er beachtete sie nicht. Sie fragte ihn, wann er wiederkomme.
„Ich ziehe aus“, antwortete er.
Der Arm ist inzwischen wieder aufgetaucht. Allerdings benutzt ihn Amanda nur, wenn sie unbeobachtet ist. Die Gefahr des Diebstahls erscheint ihr zu gross. Meistens versteckt sie ihn in ihrer Nachttischschublade, unter all den Taschentüchern und Kerzen ist er gut aufgehoben. Dort wird ausser ihr niemand nachsehen.