Juli 2023

Die Bürste

von Leonie Tooten
Jahresthema: Vom Verschwinden
Monatsthema: Aussterbende Berufe

Helge war diese kleine, unscheinbare Stelle am Finger schon vor ein paar Tagen aufgefallen. Zuerst hatte er sie irritiert gerieben; auch um sich zu vergewissern, dass der Finger noch intakt war. Die Hautpartie verblasste so arg, dass man meinen könnte, es gäbe sie nicht. Das sorgte ihn ein wenig. Ihn beschlich das Gefühl einer sich anbahnenden Durchlässigkeit; als könnte er durch einen Teil seines Fingers hindurchschauen. Schmerzhaft war der Bereich nicht, Gott sei Dank. Seine Hände waren schliesslich sein Kapital. Ohne Hände keine Bürsten, ohne Bürsten keine Kunden, ohne Kunden keine Einnahmen. So einfach war das. Er nahm sich vor, vor dem Zubettgehen eine Crème aufzutragen. Vielleicht über Nacht ein Pflaster über den Fingerknöchel zu kleben, damit die Wirkung nachhaltiger wäre. Nun aber musste er sich von dieser kleinen Sorge wieder abwenden, um sich den Aufträgen seiner Kunden zu widmen.

Heute wollte er unbedingt an der Bürste für Herrn Kilisé weiterarbeiten und sie möglichst fertigstellen. Der Kunde war unlängst in seiner Werkstatt erschienen und hatte einen besonderen Auftrag erteilt. Seine Frau habe die wunderbarsten Haare, die man sich vorstellen könne, hatte der Mann geschwärmt. Dicht und lang bis zu den Schulterblättern. Er hatte an der kleinen Werkbank vor ihm gestanden und mit leuchtenden Augen die Haare seiner Frau beschrieben. Die rechte Hand hatte er dabei umständlich unter seine Achsel geschoben und versucht, eine Stelle auf seinem Schulterblatt zu erreichen, um anschaulich die Haarlänge seiner Frau zu illustrieren. Herr Kilisé hatte betont, wie entscheidend es gewesen sei, die Haare nicht zu färben. Niemals! Denn die Farbe sei nicht ausschlaggebend, es seien die Struktur, der Glanz, die Gesundheit des Haares, die zur echten Schönheit führe. Zur Pflege habe seine Frau über dreissig Jahre die eine Haarbürste benutzt, die sie seinerzeit bei einem Bürstenmacher in Wien erstanden hatte, eine original Sissi Bürste. Wunderschönes Holz, die Borsten so fein und doch stabil, dass sie das Haar mit jedem Bürstenstrich gleichermassen ordneten und pflegten. Doch nun sei die Bürste verschollen, partout nicht mehr auffindbar. Seine Frau sei untröstlich und nahezu verzweifelt. Als sie angefangen hätten, sich gegenseitig zu beschuldigen, das gute Stück verlegt, entsorgt oder gar zerstört zu haben – mutwillig! –, sei ihm bewusst geworden, dass er handeln musste. Er wolle seine Frau zum Geburtstag mit einer Bürste überraschen, die dem Original in nichts nachstehe. Seine Ehe stehe auf dem Spiel! Die Werkstatt in Wien gebe es nicht mehr, das habe er bereits recherchiert. Ohnehin habe er wenig Anbieter gefunden, die sich dieser Handwerkskunst noch verschrieben haben, und sei so erleichtert, ihn, Herrn Mastrow, gefunden zu haben.

Helge hatte während des Vortrags eine kleine Freude, aber auch unmittelbar einen grossen Druck verspürt, da dieser Auftrag mit einer besonderen Verantwortung verbunden war. Er hatte den älteren Herrn angelächelt und genickt.

Die Recherche und die Vorüberlegungen für den Entwurf hatten seitdem viel Zeit in Anspruch genommen. Es galt, das richtige Holz zu verwenden und die richtige Borstenmischung. Die Zeit drängte, in zwei Tagen stand der Geburtstag an.

Als Helge gerade an seiner Werkbank Platz genommen hatte, um sich dem Projekt zu widmen, hörte er das Läuten der sich öffnenden Ladentür. Er erhob sich wieder und rieb wie automatisiert seinen Finger. Es traf ihn beinahe der Schlag, als sein Blick auf seine rechte Hand fiel – sie war nicht mehr da! Das heisst, er rieb sie ja, daher musste sie existieren, aber er konnte sie nicht mehr sehen. Schlimmer: er konnte durch sie hindurchsehen. Panik stieg in ihm hoch. Was geschah da mit ihm? Gebeugt stand er da, seine rechte Hand entsetzt anstarrend, sie gleichzeitig mit der linken Hand betastend, reibend. Sein Mund stand offen; er konnte seinen Blick nicht von seinen Händen abwenden. Derweil hörte er, wie jemand sich ihm näherte.

«Hübsch haben Sie es hier», sagte die Besucherin. «Marlene Boom von der Carlson Holding. Sie erinnern sich?»

Helge räusperte sich und drehte sich in einer schnellen Bewegung zu ihr um, hielt seine beiden Hände dabei auf dem Kreuzbein vor ihr verborgen. Die ihm entgegengestreckte Hand verweilte kurz im leeren Raum, bis Frau Boom sie wieder zurückzog.

«Ich hätte mir den Handschlag nach der Pandemie auch beinahe abgewöhnt», sagte sie. «Herr Mastrow, ich bin wegen der Tastaturpinsel mit unserem Firmenemblem gekommen.» Sie schaute ihn betreten an und fuhr, als er schwieg, fort: «Ihr Angebot ist interessant. Wir möchten das Auftragsvolumen gerne verdoppeln, wenn Sie uns mit dem Preis noch etwas entgegenkommen.»

Helge sah Frau Boom lächeln, hatte dem Gesagten aber kaum folgen können. Hinter seinem Rücken hielt seine linke Hand die rechte fest umklammert. Sie existierte. Eindeutig. Er spürte sie ja. Was um Himmels willen war mit seiner Hand passiert? Hatte er vielleicht gar kein Problem mit der Hand, sondern mit den Augen? Gequält schaute er seiner Besucherin direkt ins Gesicht, unfähig zu sprechen. Er getraute sich auch nicht, seine Hand nach vorn zu nehmen, sie noch einmal zu betrachten. Was, wenn sie immer noch unsichtbar daherkäme? Was, wenn nicht nur er, sondern auch Frau Boom seine verschwundene Hand bemerkte? Er räusperte sich.

«Ich muss nachdenken», sagte er schliesslich. Was hatte sie gewollt? Er wollte nicht unhöflich erscheinen und fragte nicht nach. Es fände sich schon alles.

Frau Boom nickte verständnisvoll.

«Geben Sie mir einfach Bescheid», sagte sie und lächelte ihn gewinnend an. Sie verabschiedete sich und verliess zügig den Laden.

Helge nahm seine Hände ins Blickfeld und war abermals schockiert. Die rechte Hand war nun völlig durchsichtig. Er konnte durch die Finger und inzwischen schon durchs Handgelenk blicken. Und an der linken Hand fehlte der halbe Daumen. Helges Atmung veränderte sich. Er hatte das Bedürfnis, tief einzuatmen, aber das Gefühl, nicht tief genug atmen zu können. Er ging zum Fenster, drehte mit der durchsichtigen Hand den Fenstergriff und sog die frische Luft ein, die ihm entgegenströmte. Das Telefon klingelte.

Helge entfernte sich vom Fenster, nahm mit links den Telefonhörer.

«Ja, bitte?»

«Kilisé. Herr Mastrow, ich wollte mich nach der Bürste für meine Frau erkundigen. Wird sie denn morgen fertig sein?», wollte er wissen.

«Sie können sich darauf verlassen», antwortete Helge japsend.

«Ich freue mich sehr. Dann komme ich so gegen zehn Uhr. Ist Ihnen das recht?»

«Das passt mir gut», log Helge und legte den Hörer auf die Gabel.

Er liess sich auf einen Schemel sinken, seine Hände betrachtend. Dann stand er direkt wieder auf, ging zur Werkzeugwand und griff nach den Arbeitshandschuhen. Er zog sie an und zu seinem Entsetzen änderte der Handschuh nichts an der Durchsichtigkeit der Hand. Als hätte der befallene Bereich den Stoff gleichermassen aufgelöst. Helge sah durch die behandschuhte Hand die Werkbank darunter. Herrje! Was könnte er nur machen? Ob er bei Dr. Seitz vorstellig werden sollte? Er war unsicher. Unsicher, ob das, was er sah, den Tatsachen entsprach. Ob er sich in dieser Verfassung überhaupt seinem Hausarzt zumuten konnte. Helge fasste sich ein Herz und rief in der Praxis an.

«Guten Tag – die Praxis macht Ferien. Ab 07.08. können Sie uns wieder wie gewohnt erreichen. Bis dahin vertritt uns Dr. Koller …» Helge legte auf. Dr. Koller hatte ihm gerade noch gefehlt. Er war absolut keine Option. Helge setzte sich wieder. Was auch immer gerade mit ihm geschah, drohte sein Leben zu zerstören. Das Fortschreiten der Durchsichtigkeit seines Körpers nahm ein rasantes Tempo an. Der rechte Arm war während des Telefonats bis über den Ellbogen verschwunden, die linke Hand war komplett weg. Helge überlegte kurz und entschied sich nun konzentriert und zügig zu arbeiten. Die Bürste für Frau Kilisé musste unbedingt fertig werden. Er arbeitete bis in die Nacht und zwang sich, von weiteren Körperbeobachtungen Abstand zu nehmen. Er knüpfte die Bürste aus einer Mischung aus asiatischen Wildschweinborsten und feinem Dachshaar. Das edle Holz lag angenehm in seiner Hand und die Borsten schmiegten sich sanft durchs Haar. Helge war erschöpft, aber zufrieden. Er polierte die Bürste noch, packte sie dann in einen Geschenkkarton und ging zu Bett.

Am nächsten Morgen erwachte er früh, schlug die Augen auf, schlug die Bettdecke zurück und sah seinen Körper nicht mehr. Er war scheinbar nicht mehr existent. Helge ging ins Bad und konnte dort sein Spiegelbild nicht mehr entdecken. Gefasst wusch er sich, zog sich an, bereitete wie immer eine Tasse Tee und ass sein morgendliches Honigbrot.

 

Als sich um zehn Uhr Herr Kilisé der Werkstatt näherte, stand die Tür offen. Er trat ein, rief nach Herrn Mastrow und wunderte sich zunächst. Dann erblickte er ein wunderschönes Kästchen auf der Werkbank, daneben eine handschriftliche Notiz.

«Lieber Herr Kilisé, leider musste ich kurz weg, aber in der Kartonage finden Sie das gute Stück. Ich hoffe, es entspricht Ihren Erwartungen und bereitet Ihrer Frau Freude. Wenn Sie zufrieden sind, empfehlen Sie mich bitte weiter. Herzlichst Ihr Helge Mastrow»

Herr Kilisé öffnete die Schachtel und strahlte. Er nahm die Bürste vorsichtig heraus und wog sie in seinen Händen. Er strich durch die schimmernden Borsten, befühlte das polierte, hochwertige Holz. Herr Kilisé legte dankbar eine Hand auf sein Herz. Als sich seine Augen mit Tränen füllten, war ihm, als würde er ein leises Räuspern vernehmen. Er blickte auf, aber nein, er war allein. Sorgfältig verpackte er die Bürste wieder ins Kästchen und verliess diesen bezaubernden Ort.