Dezember 2023

Die Verbannten – Das Verlies der Zauberer

von Felix Ernst Peter Schalk
Jahresthema: Vom Verschwinden
Monatsthema: Verschwundene Gegenstände
  1. INT. DIE ZAUBERHÖHLE / HINTERKAMMER – NACHT

Eine düstere Kammer, gefüllt mit magisch-arkanen Gerätschaften, die alles in ein bläulich-schummriges Licht tauchen. Man hört nur ein leises Säuseln.

ELDRIAN, der alte reisende Zauberer hält seine Hand zitternd über eine Schriftrolle, die auf einem Holztisch liegt und liest mit geschlossenen Augen darin.

ELDRIAN
(murmelt)
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Eldrian hält plötzlich inne. Er öffnet die Augen.

Er starrt gebannt und voller Schrecken auf die Schriftrolle.

Die Schriftrolle wird von einem dünnen Faden ruckartig ein Stück nach hinten gezogen.

Eldrian tut einen erschrockenen Schritt zurück, ein Stahlkabel hebt einen Kletterkarabiner unter der Kordel seines Runenmantels hervor.

Ein Licht strahlt auf Tisch und Schriftrolle und taucht die Motion-Tracking-Marker in ein ominöses Rot.

ELDRIAN
(entsetzt)
Unmöglich!

Das Licht wird plötzlich gleissend hell, hinten, auf der moosigen Höhlenwand, liegt der harte Schatten einer Tonangel.

An einer Bühnenfeuerwerksdüse hinter dem Tisch entsteht eine kleine Stichflamme.

Eldrian tut einen Schrei, die Motoren der Aufhängevorrichtung surren auf und heben den Zauberer plötzlich ein Stück in die Luft, er wird Richtung Tisch und Flämmchen gehievt.

Das Video stoppt.

 

„Joa“ sagt Raul. „Das wird also quasi dieses Vergessens-Scroll-Portal-Dings. Relevant sind die letzten 5 Einstellungen, die haben mit der Totale insgesamt fast 11 Sekunden.“ Der Raum nickt. „Deadline ist für diese Sequenz Mittwoch KW 48, sprich… nächste Woche.“ Einzelne Augenbrauen wandern nach oben. Raul schaut umher und nickt eilig. „Aber das wird schon. Ein paar Assets können – oder müssen wir sogar – auch von Milos Team übernehmen, weil dieser Flammeneffekt die gleiche Designsprache haben soll wie die Ruinen, die die mal composited haben. Da gibt’s später im Film irgendeinen Twist, wo der Zauberer durch seine eigene Magie zugrunde geht, oder so…“ Uninteressierte Augen wandern von Raul in Richtung eines grossen Kalenders an der Wand. Jeder weiss, was als nächstes kommt. Raul steht auf. „Also, dann brechen wir das mal runter.“ Auch Anne kennt das alles schon lange. Das Team wird in Gruppen und das Problem in Aufgaben aufgeteilt. Es ist eigentlich wie immer – es müssen jetzt schon Abstriche gemacht werden. Jede Aufgabe wird auf ihr minimalnotwendiges Wesen zusammengestutzt. Für alles, was darüber hinausginge, war nie Zeit, ist keine Zeit und wird niemals Zeit sein. Diese Aufgaben wurden dann noch in Teilaufgaben zerlegt und anschliessend hierarchisiert. Dann wurde ein mutiger Zeitplan erstellt, dessen Zwischendaten sich systematisch nach dem einen grossen Datum reckten: Der einen, der unumstösslichen, der allesseienden Deadline. Das Filmstudio zieht die Deadline, und das Filmstudio zieht sie hart, denn das Filmstudio muss sie hart ziehen. Denn das Steuerjahr geht ins Land und die Kinobesucher wollen kommen und das Filmstudio will das Geld der kommenden Kinobesucher und Annes Chef will das Geld der Studios und Anne, die will sich immer wieder ein Abendessen kaufen und manchmal ein Eis. Deshalb respektiert Anne die Studiodeadlinedringlichkeit, weil diese ja in weiten, nicht immer ganz durchsichtigen, aber unwahrscheinlich realen Verkettungen mit ihrer alltäglichen Abendessensnotwendigkeit steht. Deshalb arbeitet Anne schnell, so schnell sie kann. Daran, dass sie auch gut arbeitet, ist nur sie selber schuld.

Anne macht sich auf den Weg zu ihrem Schreibtisch. Das Büro ist düster, auf den Tischen stehen leuchtende Computerbildschirme, die alles in ein bläulich-schummriges Licht tauchen. Die Render-Tower säuseln ununterbrochen vor sich hin. Abends gehen die Deckenbeleuchtungen in diesem ganzen Bürogebäude aus, aber das ist egal, man will ja nicht ewig bleiben. Anne und die Ihren ziehen dahin, wohin die fiskalklugen Studios ihre Aufträge vergeben. Sie sind fahrendes Volk, Pixel-Gypsies, digital nomads. Sie werden gelockt von der Achse Filmstudiofinanzen – Abendessen. Und die Studios entscheiden streng ökonomisch, denn sie müssen streng ökonomisch entscheiden, denn die Steuerjahre gehen ins Land, und 11,6 Milliarden US-Dollar Umsatz wollen sauber gehegt sein.

Anne hat keine Zeit, daran zu denken, und geht an ihre Arbeit. Ihre Position heisst zwar junior creative, aber Anne sieht sich lieber als Zauberin. Sie zaubert aber keine Elfen, keine Orks, keine Zwergenburgen, auch keine Raumschiffe und keine Wurmlöcher her. Das sind zwar die Dinge, an die die meisten Leute denken, wenn sie Visual-Effects hören, ihre Aufgabe ist aber eine andere, eine mysteriösere. Sie lässt Dinge verschwinden.

Stunden lang arbeitet sie penibel daran, die lästigen Rückstände der Realität aus den hohen Sphären der Kunst zu entfernen. Meistens sind es Dinge, die aus technischen, aus sicherheitspolitischen oder zeitökonomischen Gründen in den Aufnahmen übrig geblieben sind. Da gibt es Seile und Kabel, Markierungen für das Motion Tracking oder das Rigging, es gibt Sicherheitsgurte und sonstige Sicherheitsausrüstung, manchmal sowieso Ungereimtheiten am Kostüm, die einfach in Kauf genommen wurden, da die Kostümleute wussten, dass es eine Anne geben würde, die ihre schlampigen Nähte im Closeupfall retouchieren würde. Es gibt die Lavalier-Mikrofone und hier und da auch die Tonangel an den Bildrändern, wenn ein Tonassistent einmal kurz unaufmerksam oder schwach war. Diese in tausenden Pixelwerten konkret verewigten Dinge, die es in der Welt des Filmes auf gar keinen Fall geben darf, verbannt Anne mittels meisterhafter Manipulation für immer aus dem Dasein. Manchmal stellt sie sich vor, wie gewaltig der Berg an physischen Dingen wäre, den sie bereits aus Filmmaterial entfernt hatte. Sie stellt sich vor, wie diese Bergmasse das Fundament für die höchsten, teuersten Bauten der Unterhaltungsindustrie bildet. Der Kamerabühnentechniker, dessen fülligen Schatten Anne heute vernichten wird, wurde damals stündlich bezahlt, wie auch der Oberbeleuchter, dessen Assistenten, die Kostümbildner und die Bühnenmaler, wie alle eigentlich, alle, ausser VFX-Künstlerinnen wie Anne. Diese ernähren sich von Projektpauschalen, ihre Lebenszeit ist für die Filmstudios ein inflationär vergiessbares, unerschöpfliches Grundgut.

So werden also Wochen und Monate verarbeitet und Anne wohnt inzwischen wieder wo anders. Sie liegt spätnachts in einem Hotelzimmer und sieht auf Social Media Promomaterial zu Die Verbannten, einem Fantasy Film, an dem sie einmal mitgearbeitet hatte. Es ist ein Interview mit dem Kameramann. Der Kameramann redet von allem möglichen und erwähnt unter anderem, dass sie damals am Set alles practical gemacht hätten. No CGI. Lacht er stolz, „wir hatten richtig viel Feuer dort!“ No computer generated imagery? Also no 3d-scenes, no colorkeying, no matte-painting, no matchmoving, no compositing… no Anne. Anne ist verwundert – es gab sie doch? Sie schaut das Sandwich aus der Hotelbar an, dessen Dasein mit dem Nie-Passiert-Sein ihrer Arbeit nicht vereinbar war.

Das war ein Fehler, dachte sie, ein schlichter Schnellrede-Lapsus, wie er unter Zeitstress passieren kann, besonders einem Kameramann, der es eben gewohnt ist hinter, nicht vor der Kamera zu stehen. Der arme war quasi in seinem Jenseits, in der Welt des Scheines, statt deren Abbildner. Er war gewiss nervös, vielleicht war er auch abgelenkt durch das Zahnradsystem des Follow-Focus auf der Kamera des Behind-The-Scenes Kamerateams, welches losgeschickt ward, um verwertbares Werbematerial einzufangen. Auf jeden Fall hatte der Kameramensch an diesem Tag bestimmt grössere und andere Sorgen gehabt, es eilig oder sonst was – auch auf Filmsets war Zeit bekanntlich heissumkämpfte Mangelware.

Anne öffnet noch ein Tab. Sie sucht nach dem Titel des Filmes und klickt auf News. Sie hält inne.

 

Anne hat nicht damit gerechnet, wie wenig Fehler es in der Welt der Studios geben darf, weil Fehler teuer sind. Und dafür, dass nicht ist, was nicht sein darf, sorgt Sven. Der kunstaffine, aber gänzlich unkreative Rhetoriker hat erst ein Agenturleben in der Strategieentwicklung hinter sich gebracht und ist jetzt im Entry-Level bei der Brand Publicity und den Public Relations des Filmstudios beschäftigt. Sven, der jede Silbe auf die Goldwaage legen kann und zur Not das rechte Zünglein auch parat hat, steht bei den Behind-The-Scenes-Drehs und bei allen wichtigen Interviews – vom Regisseur bis zum dritten Perückenpuderer – weder vor, noch hinter der Kamera – sondern schalkhaft neben dieser. Dann sorgt er dafür, dass am Ende des Interviews alles so gesagt worden ist, wie es in den von seinen Kollegen virtuos aufgesetzten Verträgen schriftlich vereinbart wurde. Schauspielerinnen, Kameraleute und auch Produzenten waren zwar Privatpersonen mit Meinungen und sonstigem Krimskrams… Das, was diese Personen aber in Interviewkameras lächeln und sagen, das, was im World Wide Web angeklickt wird, das waren keine Privatpersonen, sondern Marketing- und PR-relevante Contentassets. Solche Worte sind Werbemassnahmen und daher Eigentum des Studios. Sie haben einem Spin zu folgen und der gegenwärtigen Marketingstrategie zu dienen. Alles, was zwar gesagt wird, dieser aber nicht dient, wird von Sven penibel weggezaubert.

 

Anne starrt gebannt und voller Schrecken auf ihren Laptop.

Sie öffnet einen weiteren Tab.

Sie liest einen Onlineartikel.

No CGI.

Sie scrollt durch ein Video Essay.

Why CGI is getting worse.

Sie öffnet ein weiteres Interview.

The World of Practical Effects.

 

Sven hebt die Hand und unterbricht das Interview.

SVEN
(freundlich)
Entschuldigung – Könnten wir da vielleicht eine elegantere Formulierung finden?

Der Kameramann schaut kurz auf seine Armbanduhr.

KAMERAMANN
(entnervt)
Ja, ja sicher…

Sven lächelt.

 

Die Lichter in Annes Zimmer erlöschen.

Anne tut einen Schrei.

Sie fliegt ein Stück in die Luft und verschwindet spurlos.

FADE TO BLACK.