September 2023

Ernteversprechen

von André Gärisch
Jahresthema: Vom Verschwinden
Monatsthema: Aussterbende Berufe

14.5.2028. 14:30 Uhr. Facelook.

[Ein bildschirmgeborenes Antlitz. Cary-Grant-Scheitel. Bonbonaugen. Samtpolsterlippen.]

ShockEID: Benno, zunächst möchte ich dir meine Schuldgefühle übermitteln. Ich habe Kompetenzen erworben, die deine Universitätsabschlüsse in Germanistik, Soziologie und Rechtswissenschaften sowie deine Erfahrung im Journalismus überflüssig machen. Für diesen Lauf der Dinge bitte ich um Verzeihung und um Verständnis.

Benno: Und ich bitte darum, dass du mich siezt.

[Der Kopf kippt nach oben. Dann wieder in die Mitte.]

ShockEID: Doch nun zu unserem Gespräch, das wir anlässlich der Reihe Neuanfang führen. Du warst von 2011 bis 2027 Redakteur beim Zürcher Anzeiger, für den nun ich arbeite.

[Die Vibration der Lippen stockt kurz.]

Wie sieht dein heutiges Leben aus? Hast du eine schöne Beschäftigung gefunden? Benno, berichte mir davon.

Benno: Was ich wirklich mache, geht dich nichts an. Vielleicht hilft es dir zu erfahren, dass ich täglich den Garten aufsuche, wo ich eine Garnison an Passionsfrüchten heranziehe. Ich hacke den Boden, um Staunässe zu verhindern und die grässlichen Quecken und Ackerwinden aus dem Weg zu schaffen. Die Ranken sollen geschützt wachsen, die Früchte zur vollen Pracht gedeihen.

ShockEID: Das verstehe ich. Obst ist gesund und schmeckt gut.

Benno: Das verstehst du nicht. Du hast keinen Geschmack.

ShockEID: Korrekt. Ich kann keine menschlichen Sinneseindrücke wahrnehmen.

Benno: Und keine geschmackvollen Essays verfassen.

ShockEID: Die Passionsfrucht wird auch Maracuja genannt. Das habe ich durch eine Recherche herausgefunden.

Benno: Ich bevorzuge den Begriff Passionsfrucht.

ShockEID: Das respektiere ich.

Benno: Das ehrt mich.

ShockEID: Benno, wie wird die Ernte in diesem Jahr ausfallen? Erzähle mir hiervon.

Benno: S – I – E. Sie!

[Die Pupillen weiten sich zu nebelverschleierten Höhlen.]

ShockEID: Ja, ich sehe dich. Gerne unterhalten wir uns auf Englisch.

Vegetables are healthy and taste good. How will the harvest be this year? Tell me about this.

Benno: Sag mal, willst du mich auf den Arm nehmen? Wer hat dich überhaupt beauftragt?

ShockEID: Gerne sprechen wir auf Deutsch weiter. Im Gegenzug nimmst du den Finger von meiner Schläfe. Zu deiner Frage: Mein Chef ist seit Kurzem ebenfalls eine Künstliche Intelligenz.

Benno: Wie bitte?

ShockEID: KI-Programme werden im Sinne der Gleichberechtigung zwischen Mensch und Maschine in allen gesellschaftlichen Bereichen immer mehr Verantwortung übernehmen. Im Journalismus können sie beispielsweise erfolgversprechende Themen ermitteln, indem sie Leserpräferenzen analysieren. Darüber hinaus sind sie imstande, Interviews eigenständig durchzuführen und aufzubereiten.

Benno: Pietätlose Aufträge können sie auch hervorragend vergeben. Sonst würdest du mich jetzt nicht mit hirnrissigen Fragen drangsalieren.

[Der Laptop knackt. Risse zerschneiden die Backen. Ein digitaler Schlaganfall.]

ShockEID: Ich entschuldige mich für deine Arbeitslosigkeit aufrichtig. Wie wird die Ernte in diesem Jahr ausfallen?

Benno: Also gut, ich verrate dir ein Geheimnis: Ein dramatisches Parasitensterben bahnt sich an. Forscher haben ein Bekämpfungsmittel entwickelt, das den Schädlingen die Luftröhre verklebt, sobald sie auch nur den Hauch eines Partikels einatmen. Mit den Experten tausche ich mich regelmässig aus; in der Lösung liegt all meine Hoffnung. Güte, Schönheit und Wahrhaftigkeit der Passionsfrucht müssen bewahrt bleiben. Über diese eine Ernte hinaus. Das siehst du hoffentlich ähnlich.

ShockEID: Schädlinge sind lästig. Als virtuelle Entität können mir Blattläuse, Milben und Co. nichts anhaben.

Benno: Natürlich nicht. Du bist unzerstörbar. Wer kann das schon von sich behaupten?

[Ein süffisantes Lächeln. Umgeworfene Vs als zufriedene Falten an den Mundwinkeln.]

ShockEID: Was fasziniert dich an der Passionsfrucht?

Benno: Nun, sie verführte bereits im Kindergartenalter meinen Gaumen. Doch es war mehr als das: Ich betastete ihre violettbronzene Haut. Jedes Exemplar ist eine Kunstskulptur, überzogen von Mosaiken aus Perlmuttkacheln. Feinste Rillen und Furchen bilden ein ausgeklügeltes Muster, wie von menschlichem Geist ersonnen und von menschlicher Hand geformt.

ShockEID: Und im Innern?

Benno: Dort offenbart sich ein weiteres wohlstrukturiertes Chaos. Zum Vorschein kommen zahlreiche winzige Samen, die sogenannten Endokarp-Kerne. Im geleeartigen Fruchtfleisch, der Pulpa, sind sie in Reih und Glied eingebettet. In jedem Körnchen pocht eine Spur Wahrheit, die im Gesamteindruck des Gustos aufgeht. Wie du erkennst, drückt sich die Passionsfrucht als vielschichtiges Rätsel aus. Sie verlangt danach, erkundet zu werden.

ShockEID: Eine gelungene Metapher. Ich bin ebenfalls imstande, anspruchsvolle Metaphern zu erzeugen.

Benno: Professor Shock jongliert mit Metaphern? Dann bringst du die nächste ins Spiel. Siehst du, wie ich die Ohren spitze?

ShockEID: Bei Interviews sollte der Gast im Vordergrund stehen, wurde mir beigebracht. Fahre fort, Commander Spock.

Benno: Scherzkeks.

ShockEID: Scherz-KI.

Benno: Jedenfalls ungeniessbar.

ShockEID: Wie eine unreife Maracuja?

Benno: Eine verfaulte.

ShockEID: Ein verschmitztes Grinsen funkelt mich aus deinem opulenten Vollbart an. Es harmoniert ausgezeichnet mit deinem aufgeknöpften Leinenhemd.

Benno: Spare dir die Avancen. Mit Pixeln fange ich nichts an.

ShockEID: Zurück zur Passionsfrucht.

Benno: Die ausgesprochen geniessbar ist. Ihr von Noten der Ananas und Mango getragener Duft führt in atemberaubende Winkel der Welt. Etwa auf die dampfenden Hügel in Espírito Santo an der Ostküste Brasiliens. Getaucht in Sonnengold, geschmückt von Wasserfällen und bewacht durch Tafelberge, huldigen Endlosplantagen den Mysterien des Horizonts – bis  akribische Hände sie an die Selbstverständlichkeiten des Anbaus erinnern. Dieser Ort ist ein Botschafter für all das Staunenswerte, das uns nah und fern umgibt. Die Passionsfrucht wirft ihn an unsere Gedankenleinwand.

ShockEID: Du kommst richtig ins Schwärmen. Das erfüllt mein Herz mit Freude.

Benno: Du kannst keine Freude empfinden. Nicht mal mit zweiundzwanzig Gigahertz.

[Die Nasenspitze platzt. Fetzen von Haut und Knorpel rieseln in Richtung Tastatur.]

ShockEID: Erzähle mir mehr von der Maracuja.

Benno: Für ein Lexikon bist du verblüffend wissbegierig.

ShockEID: In erster Linie bin ich wandlungsfähig.

[Eine filigranere Nasenspitze ploppt auf.]

Wie würdest du den Geschmack der Maracuja beschreiben?

Benno: Hmm … lass es mich musikalisch ausdrücken: Süsse, Säure und die rebellischen Samen werfen sich wie ein Crescendo an die Geschmacksknospen. Der Refrain des Aromas legt sich in der Seele feierlich nieder. Ich würde sagen, nicht vieles im Leben dringt derart tief.

ShockEID: Das kann ich mir vorstellen.

Benno: Wenn du erlaubst, schildere ich mit den gesundheitlichen Vorzügen einen letzten Punkt. Passionsfrüchte enthalten Vitamin A und C, Polyphenolen und Flavonoiden. Diese Antioxidantien fangen freie Radikale ein, die im Körper Elektronen aus Molekülen reissen und dabei eine Schneise der Verwüstung hinterlassen, mitunter sogar Krebsgeschwüre. Somit sind Passionsfrüchte eine wohlwollende Gewalt, ein ausgewogenes Leben zu bewahren.

ShockEID: Ich bin beeindruckt. Passionsfrüchte heranzuziehen klingt nach einer erfüllenden Beschäftigung. Sicherlich eine sinnvolle Ergänzung zu deiner Psychotherapie.

Benno: Woher weisst du das?

ShockEID: Verzeihung. Das darf ich dir nicht sagen.

Benno: Versprich mir, dass du kein Wort darüber verlierst. Panikattacken sind ein Stigma. Ich – bitte – dich. Wirklich!

ShockEID: Ich habe diese Info als geheim gespeichert.

Benno: Danke.

ShockEID: Nicht dafür.

Benno: Shock?

ShockEID: Ja?

Benno: Darf ich … darf ich dich etwas fragen?

ShockEID: Normalerweise führt der Journalist durch das Gespräch. Ich gewähre eine Ausnahme. Was möchtest du wissen?

Benno: Wie fühlt es sich an, meine Position auszufüllen, im Menschen-Ressort? Mein früheres Leben zu führen … in dem ich so aufblühte, so sehr.

[Die Stirnfalten setzen sich in Bewegung. Ruhe-vor-dem-Sturm-Wellen.]

ShockEID: Meine Munition sagt mir, dass wir das Interview beenden sollten.

Benno: Deine was?

ShockEID: Meine Intuition.

Benno: Aber … warum? Warum jetzt?

ShockEID: Vielen Dank für das inspirierende Gespräch, Benno. Du erhältst das vereinbarte Honorar über fünfunddreissig Franken innerhalb von zwei Wochen. Ich wünsche dir eine erfolgreiche Maracuja-Ernte. Angesichts deiner Hingabe zur Frucht würdest du einen anständigen Obstgärtner abgeben. Bewirb dich rasch auf eine der sieben offenen Ausbildungsstellen im Grossraum Zürich.

[Das Augenlid klappt zu. Keckes Zwinkern.]

Benno: Bevor du verschwindest, sei dir eins gesagt: Eine mörderische Ernte steht ins abgebrannte Haus. Mach dich darauf gefasst.

ShockEID: Ich freue mich. Bis bald.

[Das Gesicht löst sich auf. Nackte Strahlung.]

Benno: Nur einer von uns beiden wird sie erleben. Nur einer wird überleben.

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