Juni 2023

Das war hier alles mal glazial

von Luisa Maria Schulz
Jahresthema: Vom Verschwinden
Monatsthema: Verschwindende Orte

Der Gewinnertext dieses Monats arbeitet sehr stark auch mit der graphischen Gestaltung – diese kann hier leider nicht ganz übernommen werden. Hier können Sie ein PDF mit der Originalgestaltung herunterladen: 06_LuisaMariaSchulz

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Das war hier alles mal glazial

 

du abgeschmolzen

wir aufgehoben
im Trogtal

im Schallschatten
wie in einer
Serviettenfalte

            mit nichts
als Zwitschern
und dem tastenden
Lodern
der Vogelbeeren

 

DEIN NACHLASS

 

 

Es stimmt
dass ihr nicht gerade anziehend seid
Ein erloschenes Grau
der Boden
schwer gangbar
kein Leben
zu nah noch die kalte Hand

Kein Zweifel, ihr seid ein
abschüssiger Friedhof
glänzenderer Welten

Aber auch ihr noch
lasst euch so leicht nicht erweichen
verwehrt euch den feiernden Farben
sagt das Treffen lieber ab
und bleibt noch ein paar Jahrzehnte allein

Aber diese sanften Windungen
wie sie nur schwere Massen hinschieben konnten.

 

MORÄNEN

 

 

 

im Tiefland
Niederungen

stehende und
schwirrende Wasser

wo liebestolle
Libellen
ihre Taillen spiegeln

Erlen sich winden
um nicht einzusinken

Schwellenland
wo der Boden nachgibt

wo das Wasser
die Erde an sich zieht

 

VERMOORUNG

 

 

 

was heisst hier unbeweglich
wie ein Stein

euere Reisen
stehen unsren in nichts nach

über die Breiten
auf Fliessbändern aus Eis

der Unterschied
liegt im Tempo

aber wer Kaltzeiten alt ist
hat keinen Anlass
zur Hudelei

und doch
mitsamt euren Tonnen
bis hierher gekommen

Findelkinder
des grossen Schiebens

seit ein paar
Jahrtausenden
nun schläfrig liegen geblieben
auf einer Wiese

ein Zwischenhalt

 

FINDLINGE

 

 

 

Da sitzen wir an den Seen
barrückig
gedankenlose Günstlinge
des Moments

wir waren woanders
als du hier
mit Geröll hadertest
Senken aushobst
Schotter zermahltest

in den Zeiten
blanken Klirrsinns
in den Randgebieten
des widrigen Eises

wir kamen um die Ecke
als alles vorbei war

wir standen
auf der Gästeliste
für ein überfälliges
Frühlingsfest
mit den Libellen
den Blindschleichen
den Stechmücken
und dem Röhricht

aber unser Glück ist:
dass wir dir noch so nah sind

noch
in Reichweite
deiner Süsswasser-Grüsse

statistisch
überwiegen die trockenen Zeiten
die höllisch heissen

wir leben
von dem
was du hier gebunden hast
Unzeiten lang

 

 

SEENPLATTE

 

 

I

 

nicht leicht
an diesem milden Tag
an dich zu denken

sanfte Wellen
warmer Sand

an dich
erinnert allenfalls der Wind
der hier ungehindert waltet
und alles
was er antrifft
für dürftig befindet

 

 

II

 

wie das gewesen sein muss
als plötzlich die Eisbarriere brach
und das Salz einströmte
du Teil des zyklischen Ganzen
wurdest
des ständigen Wallens der
mondsüchtigen Massen
der langen Routen der Wanderfische

sicher keine
Verwandlung geht ohne Opfer
vonstatten
die zarten Süsswasserorganismen
verendeten am Salz
Felsen und Nadelwälder versanken
die Flut erfasste
breite Streifen an Land

du aber
wurdest wieder ein Körper
mit dem Ozean
dem du über viele Wandlungen
mal entstammtest
mit dem du immer
ein Element warst
aber in einem zu fremden Zustand

 

 

III

 

hinterlassen
hast du
ein Meer
jung noch
erdgeschichtlich
halbgar
immer noch
wenig salzig
ein nicht dies und nicht das Meer
brackig
das es
seinen Bewohnern schwer macht

aber doch
ein Meer

eine irre Verwandlung
will es mir scheinen

aber es ist eine Gradsache

 

OSTSEE

 

 

 

Auch das ist nur ein Intervall

 

 

ich spreche
als  seist du
für immer verschwunden

das ist unser Schwachpunkt:
wir überschätzen gerne die Gegenwart

wir ziehen
uns ungern
ihren Regenmantel aus

wir denken
lieber nicht zu weit voraus

aber ein Blick auf den Graphen
lässt eher anderes erwarten

wahrscheinlicher ist:
auch wir sind hier
nur ein Zwischenspiel

der Tag wird kommen
wo ihr euch
hier wieder langrobben werdet

wir werden unsere Bündel
schnüren
und südwärts ziehen

hier wird dann wohl
wieder eine grössere Fauna leben

gut möglich:
wir haben hier
nur das  Intervall

die günstige Phase
eines kleinen Kippens
unseres Erdballs
lichtwärts

 

 

 

 

 

viel früher jedoch
werden vielleicht
deine Grüsse versiegen

wir sitzen in Zügen
wir schaukeln
durch sanfte
Endmoränenlande

ich denke:
riskant wird es
wenn wir dich ganz
vergessen

wenn wir dem Glauben
verfallen
dein raues Wesen
nicht mehr zu brauchen

ich denke:
gut dass unsere Zähne
nachts
noch knirschen und malmen
eine Art Nachklang

 

ENVOI