Das war hier alles mal glazial
Der Gewinnertext dieses Monats arbeitet sehr stark auch mit der graphischen Gestaltung – diese kann hier leider nicht ganz übernommen werden. Hier können Sie ein PDF mit der Originalgestaltung herunterladen: 06_LuisaMariaSchulz
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Das war hier alles mal glazial
du abgeschmolzen
wir aufgehoben
im Trogtal
im Schallschatten
wie in einer
Serviettenfalte
mit nichts
als Zwitschern
und dem tastenden
Lodern
der Vogelbeeren
DEIN NACHLASS
Es stimmt
dass ihr nicht gerade anziehend seid
Ein erloschenes Grau
der Boden
schwer gangbar
kein Leben
zu nah noch die kalte Hand
Kein Zweifel, ihr seid ein
abschüssiger Friedhof
glänzenderer Welten
Aber auch ihr noch
lasst euch so leicht nicht erweichen
verwehrt euch den feiernden Farben
sagt das Treffen lieber ab
und bleibt noch ein paar Jahrzehnte allein
Aber diese sanften Windungen
wie sie nur schwere Massen hinschieben konnten.
MORÄNEN
im Tiefland
Niederungen
stehende und
schwirrende Wasser
wo liebestolle
Libellen
ihre Taillen spiegeln
Erlen sich winden
um nicht einzusinken
Schwellenland
wo der Boden nachgibt
wo das Wasser
die Erde an sich zieht
VERMOORUNG
was heisst hier unbeweglich
wie ein Stein
euere Reisen
stehen unsren in nichts nach
über die Breiten
auf Fliessbändern aus Eis
der Unterschied
liegt im Tempo
aber wer Kaltzeiten alt ist
hat keinen Anlass
zur Hudelei
und doch
mitsamt euren Tonnen
bis hierher gekommen
Findelkinder
des grossen Schiebens
seit ein paar
Jahrtausenden
nun schläfrig liegen geblieben
auf einer Wiese
ein Zwischenhalt
FINDLINGE
Da sitzen wir an den Seen
barrückig
gedankenlose Günstlinge
des Moments
wir waren woanders
als du hier
mit Geröll hadertest
Senken aushobst
Schotter zermahltest
in den Zeiten
blanken Klirrsinns
in den Randgebieten
des widrigen Eises
wir kamen um die Ecke
als alles vorbei war
wir standen
auf der Gästeliste
für ein überfälliges
Frühlingsfest
mit den Libellen
den Blindschleichen
den Stechmücken
und dem Röhricht
aber unser Glück ist:
dass wir dir noch so nah sind
noch
in Reichweite
deiner Süsswasser-Grüsse
statistisch
überwiegen die trockenen Zeiten
die höllisch heissen
wir leben
von dem
was du hier gebunden hast
Unzeiten lang
SEENPLATTE
I
nicht leicht
an diesem milden Tag
an dich zu denken
sanfte Wellen
warmer Sand
an dich
erinnert allenfalls der Wind
der hier ungehindert waltet
und alles
was er antrifft
für dürftig befindet
II
wie das gewesen sein muss
als plötzlich die Eisbarriere brach
und das Salz einströmte
du Teil des zyklischen Ganzen
wurdest
des ständigen Wallens der
mondsüchtigen Massen
der langen Routen der Wanderfische
sicher keine
Verwandlung geht ohne Opfer
vonstatten
die zarten Süsswasserorganismen
verendeten am Salz
Felsen und Nadelwälder versanken
die Flut erfasste
breite Streifen an Land
du aber
wurdest wieder ein Körper
mit dem Ozean
dem du über viele Wandlungen
mal entstammtest
mit dem du immer
ein Element warst
aber in einem zu fremden Zustand
III
hinterlassen
hast du
ein Meer
jung noch
erdgeschichtlich
halbgar
immer noch
wenig salzig
ein nicht dies und nicht das Meer
brackig
das es
seinen Bewohnern schwer macht
aber doch
ein Meer
eine irre Verwandlung
will es mir scheinen
aber es ist eine Gradsache
OSTSEE
Auch das ist nur ein Intervall
ich spreche
als seist du
für immer verschwunden
das ist unser Schwachpunkt:
wir überschätzen gerne die Gegenwart
wir ziehen
uns ungern
ihren Regenmantel aus
wir denken
lieber nicht zu weit voraus
aber ein Blick auf den Graphen
lässt eher anderes erwarten
wahrscheinlicher ist:
auch wir sind hier
nur ein Zwischenspiel
der Tag wird kommen
wo ihr euch
hier wieder langrobben werdet
wir werden unsere Bündel
schnüren
und südwärts ziehen
hier wird dann wohl
wieder eine grössere Fauna leben
gut möglich:
wir haben hier
nur das Intervall
die günstige Phase
eines kleinen Kippens
unseres Erdballs
lichtwärts
viel früher jedoch
werden vielleicht
deine Grüsse versiegen
wir sitzen in Zügen
wir schaukeln
durch sanfte
Endmoränenlande
ich denke:
riskant wird es
wenn wir dich ganz
vergessen
wenn wir dem Glauben
verfallen
dein raues Wesen
nicht mehr zu brauchen
ich denke:
gut dass unsere Zähne
nachts
noch knirschen und malmen
eine Art Nachklang
ENVOI