August 2023

Kaiser Barbarossa, der Bahnwärter und die Kaugummiautomaten

von Ingrid Frank
Jahresthema: Vom Verschwinden
Monatsthema: Aussterbende Berufe

Sie ist in Gelnhausen geboren. Gelnhausen heisst Gelnhausen, weil Kaiser Barbarossa für seine Freundin Gela dort eine Pfalz errichtet hat, hat sie in der Schule gelernt. Eine Pfalz ist eine Art Burganlage.

Kaiser Barbarossa hatte einen roten Bart. Sonntags geht sie mit den Eltern zur Barbarossaquelle spazieren. Danach gibt es Kaffee und Kuchen bei Oma und Opa in Altenhasslau. Altenhasslau ist direkt neben Gelnhausen. Da wo Gelnhausen aufhört und Altenhasslau anfängt, verläuft eine Bahnlinie. Da wo die Strasse die Gleise kreuzt, steht ein Schrankenwärterhäuschen. Das ist höher als normale Häuser und sehr eng. Der Schrankenwärter, der darin sitzt, wohnt ja nicht da, sondern sorgt nur dafür, dass die Schranken runtergehen, wenn ein Zug kommt. Dafür hat er eine grosse eiserne Kurbel. Wenn er die betätigt, blinkt das Schild mit dem Warndreieck vor den Gleisen, und die Schranken gehen mit dem typischen bimmelnden Signalton runter. Die Stäbe unter den rot-weissen Balken bewegen sich, und wenn die Schranken auf der Strasse ankommen, wippen sie nach.

Der Schrankenwärter hat das alles im Blick.

Manchmal geht sie mit Opa von Altenhasslau aus zu Fuss nach Gelnhausen. Auf dem Weg hängen mehrere dunkelrote Kaugummiautomaten an Häuserwänden, und sie darf ein- oder sogar zweimal den schwarzen Drehgriff umdrehen. Das ist nicht so einfach, man muss ihn ganz rumdrehen, sonst kommt nichts aus dem Ausgabefach raus. Das Drehen ist schwer aber bestimmt nicht so schwer wie das Kurbeln der Schranken. In dem Sichtfenster am Automaten locken blaue, grüne und gelbe Kaugummikugeln und dazu auch Glitzerringe und Plastikohrringe. Sie wünscht sich sehr, einmal einen Ring zu ziehen, am besten einen mit einem rosa Steinchen. Bislang hatte sie kein Glück. Die Kaugummis sind sehr hart und knacken, wenn man darauf beisst, und schmecken süss nach Banane-Erdbeer-Vanille und noch ein bisschen anders. Mama und Papa geben ihr nie 10 Pfennig für den Kaugummiautomaten, weil das Quatsch ist, sagen sie.  Wenn sie mit Opa von Altenhasslau nach Gelnhausen spaziert, und er ihr 10 Pfennige gibt ist das was anderes, auf jeden Fall kein Quatsch.

Es gibt einen Fussgängerweg, da wo die Strasse die Schranke quert. Man darf auf keinen Fall unter der Schranke durchlaufen, wenn sie erst halb oder ein Viertel heruntergelassen ist und man eigentlich noch bequem drunter herlaufen kann. Das ist gefährlich und ausserdem sieht der Schrankenwärter von oben ja alles. Er kann von da auch die Polizei rufen, denn obwohl es sehr klein in seinem Häuschen ist, hat er da ein Telefon. Er muss ja auch anrufen können, wenn etwas passiert

Die vorbeifahrenden Züge sind schnell. Es gibt Personenzüge und Güterzüge. Auf den Güterzügen stehen manchmal Hunderte von Autos, manchmal sind es auch verschlossene Waggons, und Opa weiss auch nicht was sich darin befindet. Oft muss man an der Schranke zwei Züge abwarten. Das dauert sehr lange. Opa hält ihre Hand. Seine zittert. Genaugenommen zittert der Opa überall, und stillstehen kann er auch nicht. Das kommt vom Krieg, sagen Mama und Papa. Vom Krieg wollen sie nicht reden. Die Kaugummis sind nach dem Krieg von den Amis gekommen. Amis sind manchmal schwarz. Sie fahren Panzer und verteilen Kaffee und Strümpfe und Kaugummis.

Der Opa will auch nicht vom Krieg reden. Er zittert dann noch mehr und sagt Worte, die sie nicht versteht wie „Russland“ und „Gefangenschaft“. Sie traut sich nicht weiter zu fragen. Auf jeden Fall mag der Opa auch nicht so gerne an der Schranke warten. Aber einen Unfall will ja auch keiner. Bestimmt ist es sehr schlimm, wenn man vom Zug überfahren wird.

Direkt hinter den Gleisen in Gelnhausen ist ein Unfallarzt. Da musste ihr Bruder einmal ganz schnell hingefahren werden, weil er mit dem Fahrrad gestürzt ist und das Schutzblech in seine Achselhöhle gerammt hat.

Ihre Mama ist mit dem Bruder ganz schnell nach Gelnhausen gefahren, und sie hat gebetet, dass der Schrankenwärter den kleinen Fiat mit der Mama und dem Bruder an den Gleisen durchlässt, damit der Bruder rechtzeitig beim Arzt sein kann.

Es muss langweilig sein, den ganzen Tag aufzupassen, ob und wann ein Zug vorbeifährt. Und wenn einem langweilig ist, passt man schon mal nicht richtig auf. Vielleicht kommt der Bahnwärter ins Gefängnis, wenn er nicht richtig aufpasst und wegen ihm etwas passiert.

Im Gefängnis ist der Raum mindestens so klein wie im Bahnwärterhäuschen, aber man darf nie raus. Vielleicht war der Opa im Gefängnis, weil Gefangenschaft klingt ja wie Gefängnis. Ins Gefängnis kommen aber die Bösen, und der Opa ist kein Böser.

Die Pfalz, die der Kaiser Barbarossa für seine Freundin gebaut hat, ist genau genommen eine Burg und ein bisschen ähnlich wie ein Gefängnis.

Wenn sie mal einen Freund hat, der ihr etwas schenken will, würde sie sich über einen Glitzerring mehr freuen als über eine Pfalz.