November 2023

Liebende im Wartezimmer

von Destina Yildirim
Jahresthema: Vom Verschwinden
Monatsthema: Verschwundene Gegenstände

Der Schnee liegt fest auf den Spitzen des Taunusgebirges, so als hätte er nie irgendwo anders hingewollt.

 

Der Ausblick aus der Bibliothek meiner Universität ist schön. Das können wir festhalten. Der Gang in den sechsten Stock gleicht jedes Mal einer Reise in die Ruhe, die wir bekommen, wenn wir uns nur mit dem, was wir denken und fühlen, beschäftigen dürfen. Wir sitzen alle angereiht in einer U-Form nebeneinander und blicken auf die gleiche Aussenwelt. Es ist warm und meine Hände werden langsam wieder rosa. Nach dem endlosen Rauchen von endlosen Zigaretten am Eingang des Gebäudes war die natürliche Farbe der Wärme auf meiner Haut einem Violett der Kälte gewichen. Ich binde meine Haare zusammen auf der hinteren Seite meines Kopfs und starre sie an. Meine Hände. Ich fixiere meine Haare und sehe sie an. Die Bergketten. Es ist alles gut. Trotzdem, so sehe ich, wenn ich auf die Schönheit blicke, nur, dass ich gezwungen bin, in mein europäisches Exil zu starren. Mit den Jahren fällt mir auf, es starrt auf mich zurück.

 

In einer Woche ist mein siebenundzwanzigster Geburtstag und ich komme nicht darum herum mir zu denken, dass ich etwas Anderes sehe, wenn ich auf die Kälte dieser Stadt blicke als die anderen Menschen, mit denen ich mir die Räume teile. Isoliert und doch unter vielen, sitze ich hier und tippe die Zeichen meines kleinen Lebens in einen noch kleineren Laptop, der mich über die letzten sieben Jahre meines Seins begleitet hat. Er starrt auf mich zurück und fragt sich, wann ich wieder schreiben werde. Wann ich ihm wieder die Aufmerksamkeit geben werde, die er von mir kennt, wenn sich mein Kopf nicht anfühlt, als würde er unter Beobachtung stehen. Wenn sich mein Gehirn nicht anfühlt wie ein poröser Klumpen, der festgehalten wird an meinem Stock, den wir Wirbelsäule nennen, sich aber nicht so anfühlt. Wann meine Hände wieder nachgeben werden und sich dem Spannungsgerüst meiner inneren Ängste widersetzten. Er sieht mich an. Mit einer Selbstsicherheit. Dabei denke ich mir, dass ich auch ohne ihn Schreiben gelernt habe. Auch wenn er mich schon lange begleitet.

 

Um mich dem Druck entgegenzusetzen, schreibe ich bereits mein gesamtes Leben, in der Hoffnung, Raum zu finden. Müde werden wir immer dann, wenn Wut ihren Weg nicht nach aussen findet, hattest du zu mir gesagt. Als wir uns letzten Freitag zu unserer wöchentlichen Sitzung trafen und ich meine Augen nicht mehr aufhalten konnte, schon nach der ersten halben Stunde. Auf dem Boden meiner Müdigkeit fand ich den Wunsch, mich in meinen alten Tagebüchern zu vergraben und für einen Moment wieder mit mir allein zu sein. Dort, wo ich nicht erblickt werden konnte. Das ging aber nicht. Ich weiss nicht mehr, wo sie waren. Ob sie noch waren. Sie gehörten zu den Gegenständen, die sich auflösten in einem alten Leben, damit man irgendwann ein anderer Mensch sein könnte. Vielleicht war das ein Trugschluss. Es hatte bis heute ja auch nicht funktioniert. Ob sie in Basel waren, eingereiht zwischen den anderen Gegenständen meiner Kindheit – oder in Frankfurt, eng eingepackt zwischen Nachweisen der Adoleszenz, sie hatten bereits eine andere Welt in mir gezeichnet, welche ich mitnahm, egal, wohin die Reise ging.

 

Heute sieht alles anders aus und ist trotzdem gleich. Siebenundzwanzig Jahre bin ich hier und trage trotzdem eine andere Welt in mir, welche zum Motor meiner Wut wurde. Ich kann die Schönheit nicht sehen, da sie mich allein lässt. Ich kann die Schönheit nicht sehen, weil sie in meinem Kopf andere besingen. Diejenigen, die hier niemand kennt. Deren Geschichte niemand kennt. Er hatte mir als Kind immer Kassetten gekauft, um den Schmerz etwas abzudämmen. Ich hatte einige. Sein Auto stand voll. Stundenlang sah ich ihm dabei zu wie er sie aussuchte, wie er lächelnd mit den Verkäufern sprach und ich immer dachte, er wäre mit jedem anderen Kurden auf dieser Welt befreundet. War er nicht. Aber er verstand sie. All die kleinen Gegenstände, die wir untereinander austauschten und die bedeuteten, nicht mehr allein zu sein mit der Wut und der Müdigkeit, die immer wieder darauffolgte, wenn die Sonne in Europa unterging und alles genau so blieb wie es immer war. Als würde es nie Erlösung geben, als würde es nie den Punkt geben, an dem die Handlung weitergeht. Im Wartezimmer sitzen wir da und tauschen Musik- und VHS-Kassetten aus, um uns kurz nicht einsam zu fühlen. So vergehen die Jahre und die Gegenstände, die getauscht werden, ändern sich. Sie werden zu DVDs und CDs, zu USB-Sticks mit Liedern, die bereits gesungen wurden, da wusste ich noch nicht, woher der Schmerz in meiner Brust kam.

 

Die Vögel vor meinem Fenster fliegen in den Süden und ich würde ihnen gerne folgen. Wenn auch nur für einen kurzen Moment die Luft atmen, die uns genommen wurde. Sie kamen hierher, um uns vor dem Schmerz zu bewahren, dabei wussten sie nicht, dass er bereits in einer Vergangenheit geboren wurde, die sie in ihrem Innersten trugen. Er war mit ihnen gekommen und hatte hier neuen Nährboden gefunden. In den Mülleimern, die sie leeren mussten, um uns durch die Schule zu bringen. Auf den Parkwiesen, die sie mähten, damit wir warme Schuhe hatten im Winter. In den Büros, die sie reinigten, damit wir uns an unseren Geburtstagen wichtig und geborgen fühlten. Sie tauschten ihre Leben für unsere Hoffnung, die wir bewahren mussten, ohne sie jemals zu hinterfragen.

 

Der Schnee liegt fest auf den Spitzen des Taunusgebirges. Er starrt mich an, als wisse er nicht, was ich hier tue. Ich konnte es ihm nicht verübeln. Die meiste Zeit des Tages wusste ich es auch nicht. In einer Woche wird mein siebenundzwanzigster Geburtstag gewesen sein und es gab keine Zukunft, die meine hätte sein können. Aber es gab mich und ich musste mich solidarisch mit dem Sein zeigen, damit ich es überwinden konnte. So dachte ich an jedes Lied und jedes weitere Indiz, welches mich zu dem gemacht hat, was ich Mich Selbst nenne. Deine ersten Indizien der Liebe hast du vermutlich auch nie richtig verstanden. Du hast nicht verstehen können, wie wichtig sie dafür waren, wer du heute bist. Ebenso wenig wie du rezitieren könntest, welche Filme oder Bücher dich zu dem Menschen gemacht haben, der du heute bist oder du nachschmecken könntest, welche Bärchenwurst es war, die dir das Gefühl gegeben hat, jemand würde deine Vorlieben kennen, kannst du sagen, was die ganzen anderen kleinen Zeichen der Liebe waren. Im Nebel sind sie verschwunden. Wie hinter Milchglas spürst du ihre Anwesenheit und wenn du dich nur dicht genug rantraust, fühlst du auch ihre Wärme noch. Trotzdem bleiben sie ungreifbar für dich. Siebenundzwanzig Jahre später stehst du dann da und fragst dich, wann du gelernt hast zu lieben und wann du es verlernt hast. Ob du eigentlich nie wirklich wusstest, wie das Spiel zwischen Nähe und Distanz funktioniert und ob du nie richtig verstanden hast, wie du der Mensch geworden bist, den du in jeder Spiegelung siehst. Du hast dich auf dem Weg in deiner nie enden wollenden Adoleszenz verirrt in den Beziehungen, die du geführt hast, weil du Halt gebraucht hast. Denn auch wenn du nichts zu geben hattest und auch irgendwann nicht mehr nehmen konntest, so war das Netz, welches du dir gesponnen hast, wenigstens dein eigenes kleines Zuhause. Kleine Aufmerksamkeiten sollten den Schmerz lindern. Sie sollten einen Teil von dir zeigen, den du mühsam kuratiert nach aussen gabst, weil du den Schmerz der anderen auch sehen konntest, genauso wie sie deinen. Es war aber zu schwierig. Wie konnte man denn auch wirklich im Wartezimmer lieben?

 

Die Tränen wollten an meinen Wangen vorbeifliessen, trauten sich jedoch nicht ganz. Langsam aber traut sich die Sonne aus den Wolken hervor, vielleicht hat sie mich gesehen. Rojbaş, lieber Heval, dachte ich schmunzelnd und sprach es in meinen Gedanken zur Sonne. Ich habe auf dich gewartet. Damit du auch die salzige Flüssigkeit trocknen kannst, welche ihren Weg nach draussen noch nicht gefunden hat. Vielleicht können wir danach gemeinsam nach den Kassetten von Baba suchen. Nach den Fotoalben von Anne und den gestrickten Socken von Hala. Rojbaş, lieber Heval. Bleib noch einen Moment und lass mich noch kurz hoffen, dass der Tag noch nicht zu Ende ist. Wir können uns gemeinsam in den Wirrungen meines Lebens verlieren und uns zusammen auf die Suche nach dem machen, was noch geblieben ist. Wenn du mir deine Wärme gibst, gebe ich dir mein Leben. Lass mich nur kurz hoffen, dass die Handlung weitergeht und wir irgendwann, alle gemeinsam, werden können.