Mai 2023

Rungholt

von Lian Rasmussen
Jahresthema: Vom Verschwinden
Monatsthema: Verschwindende Orte

Heut bin ich über Rungholt gefahren1

 

Mutter sagt, geh raus, geh spielen. Doch ich will nicht. Mutter sagt immer, sie wünschte ich hätte ein Hobby, doch ich habe keins. Träumen wird von der Gesellschaft nicht als Hobby anerkannt. Geh schwimmen! Sagt Mutter.

 

Ist Angst ein Hobby? Angst vor der Flut. Heut bin ich über Rungholt gefahren, die Stadt ging unter vor 500 Jahren1: So heisst es in der Rungholt-Ballade. Wenn der Meeresspiegel bis 2070 um 25 Meter steigt, dann bin ich 77 und über meiner Stadt schwimmen Hering und Krill.

 

Die Wasser ebben, die Vögel ruhen1

 

Angst ist kein Hobby. Und Melancholie? Wenn der Meeresspiegel um 25 Meter steigt, dann liegt alles, was ich liebe, unter Wasser. Die Nordsee wird man dann das nennen, was heute meine Heimat ist. Wattenmeer. Ach Mutter, warum darf mein Hobby nicht Träumen sein?

 

Vor unserer Tür stinkt es nach Gülle. Der Schweine-Mastbetrieb ist so gerade eben ausserhalb der Sichtweite. Hinterm Horizont. Gülle heisst auf Türkisch Kanonenkugel und wenn ich eine Kanone hätte, könnte ich mit Gülle zurückschiessen hinter den Horizont.

 

Der kleine Prinz lebt mit einer Rose auf einem Asteroiden2

 

Küçük Prens kız arkadaşı gülle küçük bir asteroitte yaşar2. Denn Gülle heisst auch Rose auf Türkisch. Welch schöne und von Gewalt viel freiere Übersetzung. Mutter freut sich, mich draussen zu sehen. Was ich mit der Rose will und dass ich doch fragen soll, wenn ich an ihre Rosen gehe.

 

Nie zufrieden die Mutter. Sie schaut mir nach, als ich mit der Blume hinterm Horizont verschwinde. Am Abend fragt sie, ob ich verliebt sei. Wäre ich mit einer Kanone losgezogen, hätte sie das wohl nicht gedacht. Verwirrt ist Mutter, denn ich habe den Schweinen eine Rose gebracht.

 

Da schlagen die Wellen ganz wild und empört1

 

Die hat den Schweinen schon wieder Blumen gebracht. Es wundert mich nicht, dass das Dorf sich über mich wundert. Ist hier jemand gestorben? Das fragen sich einige, denn die Blumen lege ich jetzt immer auf dieselbe Stelle. Mutter wäre es lieber, ich liesse es sein.

 

Ach Kind: Warum? Als Zeichen, sag ich. Ich trauere um mein Land. Mutter schaut mich lange an und nickt schliesslich. Ich sehe ein Lächeln in ihren Augen und ihr Mund lächelt nicht. Ich weiss, es ist ihr lieber, dass ich Blumen bringe. Lieber DAS, als mich am Güllewagen festgekettet zu sehen.

 

Aber keiner von den grossen Leuten wird jemals verstehen, dass das so eine grosse Bedeutung hat!2

 

Das Moor, auch dafür bringe ich die Blumen. Es ist tot und doch hängt es noch mit allem zusammen. Die Römer hielten die Germanen für düstere Moor-Hexen, weil man im Moor versinkt, wenn man sich nicht auskennt und weil man als Römer getötet werden konnte von den Sümpfen.

 

Dann bauten sie Pontes Longi und entwässerten das Moor. Ställe wurden gebaut und man züchtete Vieh und mehr Vieh bedeutet mehr Gülle, die stinkt. Das Moor hat sehr viel Wasser verdunstet und es wurde vom Westwind nach Brandenburg geweht. Heute ist Brandenburg trocken.

 

Am Ende beginnt die Marsch3

 

Der Tag an dem das Meer kommt. Das klingt so poetisch. Schon fast banal, als hätte Mutter das Meer zum Abendbrot zu uns eingeladen. Die Menschen, die des Nachts von den Fluten überrascht ihr Leben liessen – denen kann Poesie jetzt auch egal sein.

 

Manche Kinder im Dorf, diejenigen deren erste Sprache nicht das Deutsche ist, nennen den Deich den Hügel. Es ist ein sehr langer Hügel und wohl hoch genug für bis 2030. Aber 2050? Und 2070? Die Angst vor der Flut und dem Sturm, sie sitzt noch immer tief, so wie wir hinterm Deich.

 

Und der Himmel ist geflutet3

 

Die grote Mandränke zerstörte Rungholt im 14. Jahrhundert. Das Gebiet, in dem die Stadt lag, nannten sie Strand. Strand wie der Strand. Und jetzt ist es Watt. Watt wie platt. Mandränke – Menschen sind da ertrunken, nicht nur Männer und Kinder. Auch Frauen und Kinder. Und Alte.

 

Wenn ich im Fernsehen die Politiker für tausend Dampfmaschinen lobbyieren sehe, könnte ich böse werden. Aber dann erscheint mir Mutter vor dem inneren Auge, wie sie immer sagt: mein Kind, sei fröhlich und freundlich und gut – und weg ist die Wut.

 

Viel tausend Menschen im Nordland ertrinken1

 

Mutter bringt mir einen Tee mit Kandis und eine Wolldecke. So sagt sie mir, dass sie einverstanden ist, dass ich nichts tue als träumen. Und ich träume vom Hochmoor und vom Niedermoor und von Gülle und Rungholt.

 

Vielleicht ist es noch nicht zu spät. Wenn wir nur anfingen in die Höhe zu bauen. Ganz Nordland auf Stelzen, davon träume ich tags. Und nachts von der Flut. Das Land Niedersachsen teilt mit: Hochmoore wachsen 1 Millimeter pro Jahr. Schafften wir so 25 Meter bis 2070?

 

Und rauschende, schwarze, langmähnige Wogen kommen wie rasende Rosse geflogen1

 

Ganz Nordland gerüstet, gebaut nach oben. Ich wünsche mir nur, mit der Idee liesse sich Geld verdienen. Moor ist wohl ungeeignet als Geschäftsmodell, selbst wenn Moore im Norden dem Osten den Regen zurückgeben können.

 

Mutter wer hat uns ausgetrocknet? Mutter wer hat uns den Regen geklaut? Mutter wer hat auf sinkendem Boden gebaut? Mutter wegen wem ist der Wald gestorben? Es war der Norden. Mutter schaut mich mit hochgezogenen Augenbrauen an. Benutz mich nicht für dein Klima-Gedicht.

 

Ein einziger Schrei die Stadt ist versunken und hunderttausende sind ertrunken1

 

Mutter sticht Löcher in meine Logik wie in einen Gürtel. Wenn wir hier alles zu Moor machen, sagt sie. Wovon sollen die Leute dann leben? Und wenn die Nordsee das Land zurück nimmt, wird Brandenburg dann nicht auch wieder mit Regen versorgt? Ach Mutti, letzteres stimmt.

 

Mit finsterer Miene starrt Mutter mich an. Du denkst zu viel, Kind! Geh raus und spiel mit deinen Freunden. Ich gehe und spiele und vergesse Träume und Sorgen. Aber im Innern bin ich noch immer dieselbe. Die Mutter lädt das Meer zum Abendbrot ein.

 

Einzeltextreferenzen:

1 Detlev von Liliencron, Trutz Blanke Hans

2 Antoine De Saint-Exupery, Der Kleine Prinz (Küçük Prens)

3 Anja Kampmann, Moorchaussee