Sommerlesetipps
Sandra Gubler, Kommunikation / Finanzen / Personal
Dacia Maraini «Drei Frauen»
Die Grande Dame der italienischen Literatur schreibt über drei Frauen dreier Generationen: Gesuina, Maria und Lori – Grossmutter, Mutter und Tochter, die zusammen in einem Haushalt leben, was nicht ohne Konflikte mit- und Geheimnisse voreinander vonstattengeht.
Im Wechsel ist jedes Kapitel aus der Perspektive einer der drei Frauen geschrieben. Die Mutter schreibt Briefe an ihren romantischen Freund in Frankreich, die Tochter schreibt Tagebuch oder – wie ihre Generation es nennt – journalt. Und die Grossmutter hält ihr Gedanken mittels Diktiergeräts fest. Es erwarten einen einige Überraschungen und unerwartete Wendungen. Überdies schwingt für alle, die Italien kennen und lieben, ganz viel Italianità mit.
Was mir besonders gefällt: Die Autorin beschreibt ein anderes Bild der mittelalten und alten Frau. Eines, das nicht dem sich über Jahrzehnte festgeschriebenen Narrativ über Frauen jenseits der 40 entspricht, das – wenn ich an meine Grossmutter denke – schon früher nicht der Realität entsprochen hat, aber aufgrund gesellschaftlicher Normen vieles Tabu war und deshalb konnte nicht offen darüber gesprochen werden. Lassen Sie sich überraschen!
Am 7. Mai 2025 war Dacia Maraini mit ihrem neuesten Buch im Literaturhaus zu Gast. Die Veranstaltung kann in unserer Mediathek nachgeschaut werden.
Weiter gibt es auf SRF ein Gespräch mit der Autorin von 2019 zu «Drei Frauen» in der Reihe «52 beste Bücher».
Folio Verlag, Wien/Bozen 2019. Aus dem Italienischen von Ingrid Ickler. Signatur MUG: N 5211
Und als Supplement, weil ich alles von ihr mag: Mariana Leky, «Die Herrenausstatterin», DuMont, Köln 2011. Signatur MUG: L 1349
Beatrice Mascarhinhos, Mitgliederwesen / Leitung Lesesaal
Lapena «Everyone here is Lying»
Zwei Kleinstadtdetektive untersuchen das Verschwinden – und den möglichen Mord – eines neunjährigen Mädchens. Falls sie entführt wurde – und das glauben sie –, ist die Liste der Verdächtigen lang. Hatte ihr untreuer Vater etwas damit zu tun? Oder ihre Mutter? Was ist mit ihrem älteren Bruder? Oder der Geliebten des Vaters? Oder vielleicht dem eifersüchtigen Ehemann der Geliebten oder sogar ihrem problematischen Sohn? Die Detektive Bledsoe und Gully haben alle Hände voll zu tun. Tatsache ist, dass jeder, der mit dem Fall zu tun hat, lügt. Lapenas Prosa ist schnell, klar und übersichtlich, die Handlung nimmt schon auf der ersten Seite Fahrt auf. „Everyone here is Lying“ ist unerbittlich spannend.
Bantam, London 2023, Signatur MUG: Q 2181
Seraphine Reichlin, Praktikum Literaturhaus
Christa Wolf «Ein Tag im Jahr»
Angefangen hat alles mit einem Aufruf einer russischen Zeitung, den 27. September 1960 so genau wie möglich aufzuschreiben. Ein Projekt, das Christa Wolf, eine der einflussreichsten Autorinnen der DDR, anschliessend 40 Jahre lang weiterführte und in einem Buch veröffentlichte. Die Einträge sind intim und zeigen die Auseinandersetzung von Christa Wolf mit sich selbst, der Welt und was sie gerade beschäftigt: Wie die Zeit vergeht, ihre Familie, das Leben in der DDR, das (Nicht-) Schreiben. Jede Dokumentation eines Tages ist ein kleiner Einblick in den Alltag und das Denken von Christa Wolf. Man kann über 40 Jahre die kleinen und grossen Veränderungen und die Konstanten in ihrem Leben mitverfolgen. Das Buch eignet sich hervorragend, um darin zu schmökern und zwischen den einzelnen Aufzeichnungen kurz in den Fluss zu springen.
Luchterhand Verlag, München 2003, Signatur MUG: J 5301
Nicola Steiner, Leiterin Literaturhaus Zürich / Geschäftsführerin Museumsgesellschaft
Tarjei Vesaas «Frühlingsnacht»
«Die Nacht war blau und still. Ein wunderlicher Stoss durchzuckte ihn: Dass man so viel Neues lernen kann! Der Gedanke liess alles ringsum freundlich wirken.» Der 14jährige Hallstein und seine Schwester Sissel bleiben allein im Elternhaus zurück. Was als Abenteuer beginnt, kippt durch das unerwartete Klopfen einer fremden Familie an der Tür – eine Frau in den Wehen, ein Vater, der an der Schwelle zur Verzweiflung steht, ein Mädchen, das Hallstein fasziniert. Geburt, Liebe, Tod – in einer einzigen «Frühlingsnacht» dringt das ganze Universum des Lebens in die kindliche Welt des Jungen ein – ein Erwachen in einer Atmosphäre voller Andeutungen und unausgesprochener Gefühle. Die Perspektive bleibt offen, tastend, nie psychologisch festgelegt – Gedanken und Erlebtes verschränken sich, die Sprache ist schmucklos, aber von rätselhafter Schönheit. Hinrich Schmidt-Henkel hat den Roman, der 1954 erstmals auf Norwegisch erschien, mit seinen fliessenden Übergängen zwischen Vorstellung und Wirklichkeit virtuos ins Deutsche übersetzt. Ein literarisches Kammerspiel voller existenzieller Spannung, das durch seine Offenheit und poetische Präzision lange nachwirkt. Ein Buch, das man immer wieder neu lesen möchte, weil das Wesentliche oft im Unausgesprochenen liegt. Grosse Literatur!
Guggolz Verlag, Berlin 2025, Signatur MUG: N 8914
Isabelle Vonlanthen, Stv. Leiterin Literaturhaus Zürich / Stv. Geschäftsführerin Museumsgesellschaft / Leitung Bibliothek
Tash Aw, «Fremde am Pier: Porträt einer Familie»
Tash Aws Familienporträt umfasst nur etwa 120 Seiten – und doch fühlte ich mich nach dem Lesen, als hätte ich soeben eine ganze, unermesslich grosse Welt betreten. Wahrscheinlich deshalb, weil der schmale Band aus Jahrzehnten des Nachdenkens, Reisens, Erinnerns, auch des Schmerzes herausgegangen ist. Tash Aw ist als Enkel chinesischer Einwanderer in Kuala Lumpur aufgewachsen, hat in England studiert und lebt heute als Autor in Frankreich. «Fremde am Pier» berichtet vom Leben seiner beiden Grossväter, die als Teenager in gefährlichen Bootsfahrten von China nach Malaysia übergesetzt waren und sich dort ein Leben aufgebaut haben. Und vor allem erinnert er sich an seine Grossmutter, die mit Klugheit und Lebensfreude unter schwierigen Bedingungen ein freies Leben führte. Aws Band zeigt, was es heissen kann, Einwanderer zu sein (damals und heute), wie sehr diese Erfahrung noch das Leben der Enkel mitbestimmt, er spricht erhellend über den Umgang mit Privilegien, Scham, familiärem Schweigen – und Liebe. Im Januar war Aw im Literaturhaus zu Gast, es war einer der eindrücklichsten Abende dieses Jahres! Und es hat mich dazu gebracht, nun alle seine Romane lesen zu wollen – auch diese sind zum Glück in unserer Bibliothek erhältlich.
München: Luchterhand 2024. Aus dem Englischen von Pociao und Roberto de Hollanda. Signatur MUG: N 8706
Andrea Wilhelm, Lesesaal
Lydia Reeder «The Cure for Women. Dr. Mary Putnam Jacobi and the Challenge to Victorian Medicine That Changed Women’s Lives Forever»
Alfred Danhauser «Die Tragödie der Frau. Das Problem der reiferen Jahre»
Elinor Cleghorn «Die kranke Frau. Wie Sexismus, Mythen und Fehldiagnosen die Medizin bis heute beeinflussen»
Sommer, Sonne, Hitzewelle … und unversehens ist man ganz rammdösig und hat die halbe Ferienzeit verpasst. Das muss nicht sein! Dieses Buchtrio schafft Abhilfe und lässt einen schon nach wenigen Seiten Lektüre quasi senkrecht im Strandkorb stehen. Vor allem beim Lesen im Quervergleich.
In «The Cure for Women» schildert Lydia Reeder mitreissend, wie die amerikanische Ärztin und Professorin Mary Putnam Jacobi, Jahrgang 1842, durch ihren eigenen Werdegang und in ihrer wissenschaftlichen Arbeit fulminant die gängige Auffassung widerlegte, Bildung und geistige Arbeit mache Frauen krank und sei ihnen deshalb vorzuenthalten. Mit ihrer Pionierleistung revolutionierte Putnam Jacobi die Medizin richtiggehend und trug wesentlich zur Erringung des Frauenstimmrechts bei.
Der Stuttgarter Nervenarzt Alfred Dannhauser, Jahrgang 1894, gewährt uns mit seinem Werk «Die Tragödie der Frau – Das Problem der reiferen Jahre» selbst Einblick in seine Praxis und in seine Vorstellung von weiblicher Identität. Das an Fallgeschichten reiche Buch hält eine Fülle von Ratschlägen für Frauen in ihren «gefährlichen Jahren» bereit. Dannhauser wollte auf seine Patientinnen korrigierend einwirken und den psychischen Veränderungen, die sie erlebten, die zugeschriebene soziale Sprengkraft nehmen.
Dass auch heute noch keine Geschlechtergerechtigkeit in der Medizin existiert, zeigt die britische Kulturhistorikerin Elinor Cleghorn in ihrer bahnbrechenden Monographie «Die kranke Frau». Die Autorin nimmt uns mit auf einen Galopp durch die westliche Medizingeschichte, von der Antike bis zur Gegenwart. 2500 Jahre, in denen Frauen die Deutungshoheit über sich und ihre Körper abgesprochen wird. Endlos viele Jahre, in denen sich Mythen wie derjenige von der Gebärmutter, die bei Unterbeschäftigung organmeuchelnd durch den Körper wandert, hartnäckig halten können. Das sorgfältig recherchierte Buch ist trotz seiner enormen Materialmenge durchgehend gut lesbar, nicht zuletzt dank gut eingebetteter Biographien und Beispiele.
St. Martin’s Press, New York 2024, Signatur MUG: Q 2193
Walter Hädecke Verlag, Stuttgart 1928, Signatur MUG: K 1669
Kiepenheuer & Witsch, Köln 2022, Signatur MUG: N 7245
Patrizia Z’graggen, Lesesaal
Colette «Vom Glück des Umziehens»
Gemütlich am Strand liegen und Colette «zuhören», wie sie von ihren Umzügen erzählt? In ihrer bekannten charmanten Art macht Colette uns mit den unterschiedlichsten Wohnungen und Quartieren bekannt, erzählt von Nachbarn, Katzen, Hunden und der neuen Gelassenheit, die sie die Ortswechsel gelehrt hatten. Sinnlich, anmutig, unterhaltend – ein Bijou von einem Buch.
Unionsverlag, Zürich 2025. Aus dem Französischen von Ina Kronberger. Signatur MUG: N 8873