Sommerlesetipps
Kathrin Berger, Bibliothek
Ilona Hartmann «Klarkommen»
«Ich wollte wirklich gerne meine Jugend verschwenden, aber doch nicht so.» Mounia, Leon und die Ich-Erzählerin brechen nach dem Abi endlich von der Provinz in die glitzernde Grossstadt auf, um dort zu studieren, ihr Jungsein zu zelebrieren und auf den Putz zu hauen. Das fühlt sich dann so ganz anders an als erwartet, und die Autorin (Jahrgang 1990) beleuchtet zärtlich, verwundert und melancholisch «die Leerstellen zwischen dem, was wir wollten, und dem, was wir bekamen». Ein grosses Vergnügen!
Park x Ullstein, Berlin 2024 / Signatur MUG: N 8325
Annette Erzinger, Bibliothek
Shehan Karunatilaka «The Seven Moons of Maali Almeida» / «Die sieben Monde des Maali Almeida»
Maali Almeida muss realisieren, dass er tot ist. Er ist einer von vielen Menschen, die 1990 in Sri Lanka zum Verschwinden gebracht werden. Der Geist von Maali Almeida versucht aus der Zwischenwelt den Mord an sich selbst aufzuklären und seine geheimen Fotos zu veröffentlichen. Als Kriegsfotograf hat er von allen Konfliktparteien und einigen internationalen Organisationen Aufträge angenommen und heimlich zusätzliche Fotos vom Krieg im Norden Sri Lankas gemacht. Er ist überzeugt, dass das was er gesehen und dokumentiert hat, die Kraft hat den Krieg zu beenden. Seine beste Freundin Jaki soll die geheimen Fotos von Maali finden, doch um mit ihr Kontakt aufzunehmen muss Maali mit einem Dämonen einen Pakt schliessen. Nicht nur Dämonen bevölkern die Zwischenwelt, Colombo ist sehr dicht bevölkert mit Geistern. Zum Beispiel dem Geist eines Kommunisten, der versucht sich aus der Zwischenwelt an den Folterer der Regierung zu rächen oder dem Geist eines philosophischen Leoparden, der gerne als Mensch wieder geboren würde, weil er von der Elektrizität fasziniert ist.
Sort Of Books, London 2022 / Rowohlt, Hamburg 2023, deutsch aus dem Englischen von Hannes Meyer / Signaturen MUG: Q 1699 (eng), N 8086 (de)
Sandra Gubler, Literaturhaus
Mariana Leky «Was man von hier aus sehen kann»
Die Autorin siedelt diese Geschichte in einem kleinen Dorf im Westerwald an. Die Ereignisse nehmen aus der Perspektive von Luise, deren Hauptbezugspersonen ihre Grossmutter und deren bester Freund, der Optiker vom Dorf, sind, ihren Lauf. Jedes Mal, wenn in Grossmutters Traum ein Okapi erscheint, stirbt jemand aus dem Dorf. Wirklich jedes Mal? Übersinnliches wird mit alltäglichem Dorfleben, Tragödien werden mit Liebesgeschichten verwoben und dies alles in einer unaufgeregten, bildhaften, feinfühligen Sprache. Ein Buch, dessen Ende der*die Leser*in herauszögert, weil es einfach zu bitter ist, das Buch nicht mehr täglich im Leben zu haben.
DuMont Verlag, Köln 2017 / Signatur MUG: W 1096
Beatrice Mascarhinhos, Lesesaal
Karl-Heinz Ott «Endlich Stille»
In Straßburg steht am Bahnhofsausgang plötzlich dieser Mensch neben dem Erzähler (‹Suchen Sie auch ein Hotel?›) und will ihm nicht mehr von der Seite weichen. Von Stund an wird der Basler Philosoph von diesem Schwadroneur und angeblichen Musiker so lange belagert, tyrannisiert, unter den Tisch getrunken und an die Wand geredet, bis es nur noch einen schrecklichen Ausweg gibt. Der Roman handelt von den verheerenden Konsequenzen, die sich ergeben können, wenn man einen Fremden nicht im entscheidenden Augenblick wieder loswird. Er erzählt davon, wie sich der Alltag eines Menschen in kürzester Zeit fatal verändern kann. Ohne dass die Beteiligten ahnen, auf welches Verhängnis sie sich zubewegen, nehmen die Dinge ihren Lauf. Ein abgründiger Roman, nervenaufreibend, gespickt mit Komik, dessen Ende bis zuletzt in der Schwebe bleibt.
Hoffmann und Campe, Hamburg 2005 / Signatur MUG: J 6204
Valentin Schneider, Literaturhaus
Tonio Schachinger «Nicht wie ihr»
Mittlerweile hat Tonio Schachinger mit seinem zweiten Roman «Echtzeitalter» den Deutschen Buchpreis gewonnen. Bereits mit seinem Debütroman «Nicht wie ihr» stand er aber 2019 auf der Shortlist. «Nicht wie ihr» ist ein Roman über den Profi-Fussballer Ivo Trifunović und damit das perfekte Buch, um die Fussball-EM der Männer 2024 mit einer Fussball-Strandlektüre abzurunden. Ivos Leben scheint perfekt, er verdient 100000 Euro pro Woche, spielt bei Everton und in der österreichischen Nationalmannschaft – er ist nicht wie wir. «Wer keinen Bugatti hat, kann sich gar nicht vorstellen, wie angenehm Ivo gerade sitzt.» Es heisst: Bugattis sind Autos für Leute, die nicht warten. Ivo hat Distinktion perfektioniert. Er ist arrogant und selbstverliebt, er flucht und schimpft gern und reagiert gereizt, wenn «Kommunikationsheinis» ihm Ich-Botschaften und gestriegelte Medienkommunikation beizubringen versuchen. Er ist eine toxische Männerfigur aber eben auch ein sehr guter Beobachter seiner Umgebung. Und dann beginnt auch sein an der Oberfläche so perfektes Leben Risse zu bekommen. Eine Affäre mit der Jugendliebe und eine Depression. Die Erzählinstanz bleibt die ganze Zeit nahe bei der Figurenperspektive und urteilt nicht über den Protagonisten, obwohl es so einfach wäre. Gerade darin liegt allerdings der Reiz dieses Textes. Die Problematik und die Widersprüchlichkeiten der Figur werden nur subtil in der leichten Ironie und dem feinen Humor gezeigt.
Kremeyr & Scheriau, Wien 2019
Nicola Steiner, Literaturhaus
Saša Stanišić «Möchte die Witwe angesprochen werden, platziert sie auf dem Grab die Giesskanne mit dem Ausguss nach vorne»
Was wäre, wenn… man für 10 Minuten in einen «Proberaum für das Leben» gehen könnte, um seine Zukunft zu sehen – und danach entscheiden dürfte, ob man sich für diese Variante seines Lebens «einloggen» wolle oder lieber nicht? Was wäre, wenn… die Zeit plötzlich für einen kurzen Moment stehenbliebe und alle Menschen und Maschinen um einen herum stillstünden – bis auf einen selbst? Was wäre, wenn… man sich seine Ferien herbeifantasieren könnte – und hinterher feststellen müsste, dass sich Fantasie und Wirklichkeit nicht mehr eindeutig voneinander trennen lassen? Saša Stanišić legt in seinem neuen Buch Kurzgeschichten vor, die von Freundschaft und Einsamkeit handeln, von Brüchen im Leben und Literatur als Möglichkeitsraum und Freiheitsversprechen. Das Buch ist selbst ein «Proberaum für das Leben» – witzig, scharfsinnig, lebensklug, fantasievoll und dabei existentiell und politisch. Ein Buch für alle, die geistreich und intelligent unterhalten werden wollen.
Luchterhand, München 2024 / Signatur MUG: N 8373 oder W 1566
Isabelle Vonlanthen, Literaturhaus
Camille Laurens «Es ist ein Mädchen»
«Ein Mädchen, das ist wundervoll», steht am Ende des autofiktionalen Romans von Camille Laurens, einer der spannendsten aktuellen Autorinnen Frankreichs. Doch bis zu diesem freudigen, kraftvollen Ende ist es ein weiter Weg: Laurens beschreibt ein Frauenschicksal in den 1960er und 1970er Jahren – beginnend mit der Geburt und dem resignierten Kommentar des Vaters: Es ist (nur) ein Mädchen. Wie sie sich aus dieser Geringschätzung des Vaters befreit, der nicht den ersehnten Thronfolger erhalten hat, wie sie ihm, sich und allen anderen beweist, dass auch Mädchen wild, selbstbestimmt und frei leben können – das liest sich intensiv und bewegend, mal traurig, mal lustig und befreiend. Und es ist ein Roman, der wunderbar kreativ mit der Sprache spielt, sowohl im französischen Original wie auch in der deutschen Übersetzung. (Die Übersetzerin Lis Künzli hat gerade erst für ihre herausragende Übersetzungstätigkeit den Prix lémanique de la traduction erhalten.)
DTV, München 2022 / deutsch aus dem Französischen von Lis Künzli / Signatur MUG: N 7322
Andrea Wilhelm, Lesesaal
Adam Kay «This is Going to Hurt. Secret Diaries of a Junior Doctor»
Es geht um: Das marode britische Gesundheitssystem NHS. Konstant überlastete Ärzt*innen und Pflegekräfte. Ihr quasi nicht existentes Privatleben. Was nach Lektüre so trübe wie der bisherige Sommer klingt, ist von der ersten Seite an: umwerfend komisch. In tagebuchartiger Form berichtet der frühere Gynäkologe und heutige Comedian Adam Kay aus sechs Jahren Klinikalltag in London. Der Humor ist dunkelschwarz, die Sprache knochentrocken, die Regelmässigkeit absurder Vorfälle atemberaubend. Für den Lesesaal eignet sich das Buch nur beschränkt, zu oft muss beim Lesen laut aufgelacht werden. Dabei berühren die Erfahrungen und Beobachtungen des Autors nicht nur, sie erschüttern zunehmend und machen immer wieder fassungslos. Und veranlassen Adam Kay schliesslich zu einem radikalen Berufswechsel. – Der 2017 erschienene Bestseller hat nichts an Aktualität eingebüsst und ist unbedingt auch allen empfohlen, die die auf ihm basierende (ebenfalls grossartige!) Fernsehserie schon kennen.
Picador, London 2017 / Signatur MUG: Q 700
Patrizia Z’graggen, Lesesaal
Johannes Urzidil «Da geht Kafka»
Im Kafka-Jahr überträgt sich das Interesse auf mich und u.a. stosse ich auf das Bändchen «Da geht Kafka» von Johannes Urzidil. Urzidil gehörte wie Kafka dem Prager Dichterkreis an, war aber 13 Jahre jünger. Trotzdem kam er ihm sehr nah, was insbesondere mit der Familie seiner Frau zu tun hatte. Die ursprünglich verstreut erschienenen Essays versammeln sich zu einer Kafka-Hommage – gleichzeitig weitet sich der Personenkreis aus und auch Bilder von Prag leuchten auf. Gewiss, um alles über Kafka zu erfahren hätte sich Reiner Stachs monumentale und hochgelobte Kafka-Biographie angeboten. Die Besonderheit an Urzidils Werk liegt aber in Gemeinsamkeiten: sie teilten die Sprache, das Zeitgeschehen, kannten die gleichen Personen und beide hatten einen Bezug zum Judentum (Urzidil hatte eine christlich-jüdische Herkunft). Der Autor macht sich aber auch verdient, weil er immer wieder auf das Werk anderer verweist. Bis ins hohe Alter schrieb und erzählte er von der gemeinsamen deutsch Prager Geschichte oder verhalf zu Neuauflagen jung verstorbener Autoren. Dass dies in meisterhafter Sprache geschieht, macht seine Hinterlassenschaft noch wertvoller.
Verlag Langen Müller, München 2004 / Signatur MUG: J 7158