Tage internationaler Literatur: Vom Verschwinden

Eröffnungsrede Tanja Maljartschuk

Worte der ukrainischen Autorin – 2018 mit dem Ingeborg-Bachmann-Preis ausgezeichnet – anlässlich der «Tage internationaler Literatur: Vom Verschwinden»
Verehrtes Publikum, 
einen wunderschönen guten Abend. Ich möchte mich herzlich dafür bedanken, Ihnen heute ein paar Worte zur Eröffnung dieses großartigen Festivals sagen zu dürfen. Ich bin mir jedoch nicht ganz sicher, ob es besonders richtig war, mich dazu einzuladen — die Ukrainer*innen haben im Moment wenige Themen, die einen erfreuen können. Aber gerade auf dem Gebiet des Verschwindens sind wir wahrhaftige Experten, ja wir sind Weltmeister darin. Seit Jahrhunderten verschwinden wir, zur Freude unserer Nachbarn, wir verschwinden und verschwinden, und am Ende sind wir doch noch ein bisschen da, heute vielleicht sogar mehr als je zuvor. 
 
Warum?
Weil das Verschwinden unangenehm ist. 
Man könnte denken, dass alles in unserer Welt dem Wandel unterworfen ist, alles bewegt sich, formt sich um, alles verändert sich und verschwindet somit. Das eine stirbt, um dem nächsten in der Reihe Platz zu machen. Das ist das Gesetz der Natur, dem wir Menschen absolut machtlos ausgeliefert sind. Doch gleicht meiner Meinung nach Verwandlung dem Verschwinden nicht. Denn das Letztere, das Verschwinden, lässt nur Stille und Leere zurück, keine Kontinuität, keine Tradition, es ist völlig unfruchtbar. Nach dem Verschwinden geht das Leben nicht weiter, sondern muss ganz von vorne beginnen, immer und immer wieder. Das Leben verschwindet selten freiwillig, so meine Erkenntnis, ich würde sagen: fast nie — es ist das zweite Gesetz der Natur: sich mit aller Kraft ans Leben zu klammern. Man muss sich richtig bemühen, um etwas oder jemanden verschwinden zu lassen. 
 
Als Kind war ich sehr beeindruckt von der Geschichte der Auerochsen, auch Ure genannt. Diese einst sehr verbreiteten, stolzen, riesigen Tiere sind vor relativ kurzer Zeit ausgestorben. Wir wissen sogar, wo und wann die letzte Auerochsen-Kuh verendete: 1627 im polnischen Wald nahe Warschau. Angeblich war sie krank und starb leise, sie wurde nicht gejagt oder erschossen. Als Kind habe ich mir vorgestellt, wie es sich anfühlt, die Letzte ihrer Art zu sein, vollkommen alleine in der ganzen Welt, wie stark die Einsamkeit dieser Kuh gewesen sein muss (und ich kenne Rinder gut, sie sind sehr intelligent, ich habe sie gehütet). 
In einer archäologischen Ausstellung in Tübingen habe ich vor ein paar Monaten eine wunderschöne Mammutfigur gesehen, die aus einem Mammutstoßzahn geschnitzt worden war. Etwas länger her, vor 40.000 Jahren. Der Mensch hatte also ein Mammut getötet und schnitzte daraus ein ebensolches Mammut, aber in einer verkleinerten, ungefährlichen, verständlichen, greifbaren Form, die wir später Kunst nennen.
 
Ist das nicht absurd?
Tragisch?
Symbolisch? 
Verschwinden lassen, um zu verstehen.
Verschwinden lassen, um zu überleben. Um sich zu wärmen, sich zu ernähren. 
Im 20. Jahrhundert ist eine neue Art des Verschwindens entstanden, die sich nicht so einfach erklären lässt. Nachdem der Mensch so große Fortschritte erzielt hat, sollte er nicht mehr aus Überlebensnotwendigkeit, aus Hunger, aus unerklärlicher Angst zerstören und eliminieren müssen. Und doch töteten Menschen in dieser Zeit mehr ihresgleichen als je zuvor. In den Gaskammern, in den Öfen der Konzentrationslager, in den sowjetischen Lagern des Sonderregimes Gulag. Getrieben vom rein irrationalen Wunsch, ganze Menschengruppen für immer zu beseitigen, um jeden Preis an der Macht zu bleiben, zu herrschen, Gott zu sein. Rund 4 Millionen Menschen starben 1933 an einer künstlich erzeugten Hungersnot in der Ukraine – das wäre fast die Hälfte der Bevölkerung der heutigen Schweiz oder Österreichs. Über den Holodomor durfte man in der Ukraine erst nach der Unabhängigkeit frei sprechen.
  
Überhaupt könnte man in meinem Land, hätte man das Ziel, in jeder noch so kleinen Ecke ein Museum des Verschwindens einrichten. Ich weiß, wovon ich spreche, denn ich komme aus der Leere, die darauf folgt. Und meine zweite Erkenntnis lautet so: Hinter dem Verschwinden verbirgt sich meist ein Verbrechen. Die Täter täuschen, und sie tarnen sich. Das Verschwindenlassen gehört zu ihren gut erprobten Methoden, mit der Absicht, ungestraft davon zu kommen. Um weiter verschwinden zu lassen. 
 
Noch eine Geschichte: Kürzlich empörte sich eine Freundin von mir, eine Journalistin und bekannte Kulturvermittlerin aus Kyjiw, über den nachlässigen Umgang der Ukrainer*innen mit den Gräbern ihrer Prominenz. Stell dir nur vor, sagte sie, ich konnte das Grab des Dichters Yewhen Pluzhnyk auf dem Zentralfriedhof kaum finden, es war in einem erbärmlichen Zustand, niemand kümmert sich darum. Dabei ist Yewhen Pluzhnyk, betonte meine Freundin, zweifellos der bedeutendste ukrainische Dichter aller Zeiten.
 
Ich muss zugeben, dass ich mich ein wenig schämte, denn ich hatte keine Ahnung, dass Pluzhnyk überhaupt ein Grab hatte. In der brutalen Tradition des 20. Jahrhunderts starben ukrainische Schriftsteller selten eines natürlichen Todes, und nur wenige von ihnen hatten den Luxus, in Familiengrüften oder gar auf dem Territorium der Ukraine zu ruhen. Ihr Leben wurde oft durch einen Schuss in den Hinterkopf beendet, ihre Leichen verschwanden in Massengräbern, sie blieben in Sibirien verschollen, ihre Namen wurden aus allen möglichen Listen und Enzyklopädien ausradiert, als hätte es sie nie gegeben. Sie verschwanden spurlos aus dem öffentlichen Leben, aus der Literatur- und Kulturgeschichte, sowie aus dem immer schon feigen kollektiven Gedächtnis. 
Der Dichter Yewhen Pluzhnyk, wegen Terrorismus verurteilt und auf die subarktische Insel Solowki im Weißen Meer geschickt (unterdessen erkrankt an Tuberkulose), schrieb 1936 an seine Frau: «Meine Liebe, mit etwas Mühe lässt sich das Sterben hier vermeiden.» 
 
Es war sein letzter Brief. Zum Zeitpunkt seines, sagen wir mal, Verschwindens war der allerbeste ukrainische Dichter (wie meine Kyjiwer Freundin fest überzeugt ist) drei Jahre jünger als ich jetzt. Seine Frau ging während des Zweiten Weltkriegs ins Ausland, ließ sich in New York nieder und lebte mit den Gedichten ihres Mannes unter dem Kopfkissen lange genug, um den Ukrainer*innen kurz vor dem Zusammenbruch der Sowjetunion noch von ihm zu erzählen. Ich gehöre zu der ersten Generation ukrainischer Kinder, die Pluzhnyks Gedichte in der Schule gelernt haben, wie zum Beispiel, sein Poem Galileo, das mit den stürmischen Zeilen endet, die ich bis heute auswendig kann und gelegentlich rezitiere:
 
Гей! Герої! Каліки! Службовці! Торговці! Поетики! А живіть собі, як вам бажається! Через те, що — ви чуєте? — все таки обертається!
 
Und auf Deutsch, in meiner Übersetzung:
Hey! Helden! Krüppel! Beamte! Händler! Poetchen! Lebt euer Leben doch, wie ihr es wollt! Darum – hört ihr nicht? Die Erde dreht sich noch! 
 
Die Russische Gesellschaft für Menschenrechte und historische Aufklärung Memorial, vom Historiker Jurij Dmitrijew geleitet, hat Ende der 90er Jahre eine Hinrichtungsstätte in Karelien entdeckt, später Sandarmoch genannt, mit den sterblichen Überresten von ungefähr 10.000 Opfern. Darunter wurde fast die ganze ukrainische Kulturavantgarde identifiziert: Schriftsteller, Dramaturgen, Regisseure, Übersetzer, Literaturwissenschaftler, Lehrer und Professoren. Es brauchte 60 Jahre, bis die Verschwundenen zumindest einen vollständigen Artikel auf Wikipedia erhielten, in dem der Ort, die Umstände und das Datum ihres Todes angegeben waren. Heute ist Memorial in Russland aufgelöst und verboten. Der Historiker Jurij Dmitrijew wurde angeklagt wegen angeblicher Herstellung von Kinderpornografie und gewaltsamen sexuellen Handlungen. Er sitzt seit Jahren im Gefängnis. Wer kann einem solchen Perversen glauben? In der Ukraine entstehen währenddessen neue Massengräber und der Prozess des Verschwindens setzt sich fort. 
 
Um heute hierher zu kommen bin ich durch die österreichischen Alpen gefahren, und irgendwo mitten auf der Strecke, in Landeck-Zams, begann es zu schneien. Es war windstill, und der Schnee fiel ganz flach und ruhig auf die schwarze Erde, auf die schwarzen Straßen, auf die schwarzen Bäume, dann verschwand er in einem Augenblick spurlos. Und ich dachte: warum ist es für mich immer so wichtig gewesen, dass alles besteht und andauert? Warum fürchte ich mich so sehr vor Lücken, Klüften, Leere und Stille? Warum habe ich mein ganzes Leben wie besessen damit verbracht, nach Spuren des längst Vergangenen zu suchen? Damit es eine Erinnerung gibt, eine Geschichte, ein Deshalb und ein Daher? 
 
Heute und all diese schrecklichen zwei Jahre des russischen Angriffskriegs auf die Ukraine frage ich mich auch: 
Оb jemand da draußen, der eine andere Erfahrung gemacht hat, wirklich in der Lage ist, unsere tierische Angst vor dem erneuten Verschwinden zu verstehen? 
Die letzte Auerochsen-Kuh: Was hat ihr großes Auge gesehen, bevor es sich für immer schloss? 
Suchen. Widerstehen. Schaffen. Und wenn schon verschwinden, dann freiwillig. Wie ich jetzt von dieser Bühne. 
 
Danke für Ihre Aufmerksamkeit.

Videos des Eröffnungsabends mit Maljartschuks Rede sowie des Gesprächs mit Jurko Prochasko sind in der Mediathek zu finden.

 

Bücher von Tanja Maljartschuck

Roman «Blauwal der Erinnerung» (Kiepenheuer & Witsch 2019)

Essayband «Gleich geht die Geschichte weiter, wir atmen nur aus» (Kiepenheuer & Witsch 2022)

letzteres stellte sie im Mai 2o23 im Literaturhaus Zürich vor, die Veranstaltung kann über die Mediathek nachgeschaut werden